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Andrea Strunk
"Man soll die Schuldigen finden, damit die Toten
endlich zur Ruhe kommen"
Die Eltern von Beslan fragen noch immer nach dem
Warum des Terrors
Auch nach dem Ende der 40-tägigen
Trauerzeit steht die nordossetische Stadt Beslan weiter unter
Schock. Die Schule Nummer 1, Ort des Terroranschlags, ist zu einer
Pilgerstätte für die Bewohner aus dem ganzen Land
geworden. Täglich kommen Schulklassen und Busladungen voller
Menschen, um mit den Eltern zu trauern, die dort beten und weinen,
wo man die Leichen ihrer Kinder gefunden hat. Mit bleichen
Gesichtern wandern die Menschen durch die zerstörten
Räume und brechen beim Anblick der halbverbrannten Schuhe,
Turnbeutel und brennenden Kerzen wieder und wieder in Tränen
aus.
Jenseits des Weinens aber wird der Ruf nach
Rache laut. Je weniger Antworten es auf die Frage nach
Hintergründen und Urheberschaft des Terrors gibt, desto mehr
Hasardeure finden sich unter den jungen Männern, die das Recht
in die eigene Hand nehmen und es den Inguschen, die man in Ossetien
als wahre Schuldige ausgemacht hat, heimzahlen wollen. Gleich nach
der Geiselnahme hatten Osseten in der Landeshauptstadt Wladikawkas
für eine Ausweisung aller in Ossetien lebenden Inguschen
demonstriert. Seitdem hat die russische Menschenrechtsorganisation
Memorial Fälle von brutalen Übergriffen auf Inguschen
dokumentiert, "als Rache für Beslan".
Die örtlichen Medien tragen zur
Völkerhetze bei. Kein Tag, an dem es in russischen und
kaukasischen Zeitungen nicht neue Meldungen über die "geplante
Blutrache" erscheinen. Da sich unter den 33 Terroristen neun
Inguschen befanden, steht für die Osseten fest, dass der
Terrorangriff nur Rache war: für den Bürgerkrieg, den es
1992 mit Inguschetien gab, und für die inguschische Region
Progorodnij, die Stalin den Osseten gab, als er die Inguschen in
die Verbannung schickte. Auch nach der Auflösung der UdSSR
erhielten die Inguschen ihr Land nicht zurück.
An die russische Version eines von Al Qaida
unterstützten Terrorangriffs auf Russland jedenfalls scheint
in Beslan niemand zu glauben, und keine von den Geiseln hat unter
den Angreifern Araber gesehen, schon gar nicht den "Neger", den die
Spezialeinheiten erschossen haben wollen. Zwar bezweifeln Experten,
dass Ossetien die militärische Schlagkraft für einen
neuen Krieg gegen das Nachbarland Inguschetien hätte, doch
ethnische Animositäten sind seit dem Terrorakt wieder Teil der
politischen Linie.
Verzweiflung und Ratlosigkeit bestimmen
weiterhin das Leben in Beslan. Die Hinterbliebenen und
überlebenden Opfer fühlen sich von der russischen
Regierung allein gelassen. Spendengelder sind nicht angekommen,
psychologische Hilfe erhalten die wenigsten. Mit Lügen und
Halbwahrheiten spielt die russische Regierung das Ausmaß der
Katastrophe herunter. Wo Licht im Dunkeln das Leid der Eltern
mindern könnte, gibt es nur Gerüchte. Die offizielle
Todeszahl liegt seit der vergangenen Woche bei 344. Die Einwohner
von Beslan dagegen berufen sich auf die Zählung einer aus
Lehrern bestehenden Kommission, der zufolge 400 Kinder und fast 200
Erwachsene getötet wurden.
Für so viele Tote gibt es keinen Platz
auf dem Friedhof von Beslan. Die Opfer des Terrorakts hat man auf
einem steinigen Acker daneben begraben müssen, wo Bauarbeiter
erst in der letzten Trauerwoche Marmorsteinen als Begrenzung
setzten und Wege zwischen den Gräberreihen
anlegten.
Noch am letzten Wochenende der Trauerzeit gab
es 23 Beerdigungen, eine davon die der 14-jährigen Dsara
Totiewa. Sie war das sechste Kind, das die Familie Totiew begrub.
Eine DNA-Analyse hatte ihre und die Identität anderer Toter
klären können, deren Körper von Bomben zerfetzt oder
von Flammen verstümmelt worden waren. Von anderen Kindern -
angeblich 76, aber niemand scheint in der Lage zu sein, eine genaue
Zahl zu nennen - fehlt jede Spur. Täglich beendet das
ossetische Fernsehen seine Nachrichtensendungen mit Fotos dieser
Kinder und bittet um Hinweise über ihren Verbleib. Die
verzweifelten Familien klammern sich an Gerüchte, nach denen
entflohene Terroristen auf dem Rückzug die Kinder als Geiseln
mitgenommen haben. Das ossetische Innenministerium verneint dies
auf Anfrage, doch auch diese Auskunft muss nicht wahr sein. Alle
vermissten Kinder seien tot, heißt es. Eine Erklärung,
warum es keine Überreste dieser Kinder gibt, bleibt aus. Ein
Mitglied der Totiew-Familie glaubt die Antwort zu kennen: Beim
Sturm auf die Schule hätten die Spezialeinheiten Flammenwerfer
eingesetzt. "Von unseren Kindern ist nicht einmal Asche
geblieben."
Seine Anschuldigung ist Teil einer anderen
Frage, die sich die Einwohner von Beslan stellen. War der Sturm auf
die Schule doch eine rücksichtslose und geplante Aktion, haben
die Verantwortlichen das Leben der Geiseln fahrlässig aufs
Spiel gesetzt? Vieles spricht dafür. Pawel Felgenhauer,
unabhängiger Militärexperte in Moskau, kam nach einem
Besuch in Beslan zu dem Schluss, die Spezialeinheiten hätten
sich auf eine Befreiung vorbereitet, wenn auch schlecht. Ein
Militärhubschrauber sei bereits nach 17 Minuten über der
Schule gewesen, obwohl er eigentlich 30 Minuten benötigen
würde, um überhaupt warmzulaufen.
Schwere Waffen eingesetzt
Auch die von der Duma eingesetzte
Untersuchungskommission hat Hinweise auf Vorbereitungen gefunden
und den Einsatz schwerer Waffen festgestellt. Schon am 2. September
seien Panzer und Panzerfahrzeuge in die Umgebung der Schule
gebracht worden. Außerdem seien Strahlrohr-Behälter von
Flammenwerfern (russische Shmel, auch bumblebee genannt und nach
der Genfer Konvention in bewohnten Gebieten mit
Zivilbevölkerung verboten) auf dem Dach des der Schule
gegenüberliegenden Gebäudes gefunden worden. Wladimir
Chabalow, Chirurg am Kinderkrankenhaus im ossetischen Wladikawkas,
berichtet von schweren Brandverletzungen bei einigen der Opfer. Man
muss kein Experte sein, um sich an der Schule von Beslan den
stundenlangen Kampf vorstellen zu können, den das russische
Militär, zu allem bereite Eltern und Terroristen sich dort
lieferten. Intakt ist kein Fenster, keine Wand mehr. Mauern sind
zur Hälfte weggeschossen, in den Klassenzimmern liegen Hefte,
Bücher, und Blumenkästen; im Raum neben der Turnhalle,
den die Terroristen als Gebetsraum nutzten, verkohlte Turnbeutel,
verwaiste Schuhe, Kleidungsfetzen, draußen auf dem Schulhof
Patronenhülsen.
In den Mietsblocks, die in direkter
Nachbarschaft der Schule liegen, wird renoviert. Auch dort hat der
Schusswechsel Schäden an den Innen- und Außenwänden
hinterlassen. Jede Familie, die in diesen Gebäuden wohnt, hat
mindesten ein Mitglied verloren. Mit versteinerten Gesichtern
sitzen die Mütter in den Zimmern. Sie legen
Beileidsgästen Foto um Foto ihrer Kinder vor und stoßen
in Abständen lange Seufzer aus, als könnten sie damit die
Felsen von ihrem Herzen wälzen. Die Männer stehen mit
düsterem Blick im Hof, wo bis vor ein paar Wochen noch die
Kinder spielten. Jetzt herrscht gespenstische Stille. "Hier gibt es
keine Kinder mehr. 34 aus unserem Haus sind tot", erzählt ein
Vater, dessen Zehnjährige Tochter Alena ebenfalls unter den
Opfern ist. Als Alena noch lebte, sagt er, habe auch er an Frieden
mit den Nachbarn und an Menschlichkeit geglaubt. Nun aber sei alles
in ihm zerstört. "Schreiben Sie, die Inguschen sind gekommen
und haben unsere Kinder getötet", sagt er.
So verständlich es ist, dass die
Bewohner von Bes-lan in ihrem Leid nach einfachen Antworten suchen,
so falsch könnten sie mit den Schuldzuweisungen liegen. Vor
einer Woche tauchte im Internet der Brief einer Frau auf, die
behauptet, sie sei unter den Geiseln gewesen und habe mit einer der
weiblichen Attentäterinnen gesprochen, bevor diese von ihren
Mitangreifern fern gezündet in die Luft gesprengt wurde. Die
Attentäterin, so berichtet die Geisel, habe erzählt, sie
sei Tschetschenin und habe im Gefängnis gesessen, weil ihr
Bruder ein Widerstandskämpfer sei. Eines Tages sei sie von
einer Russin angeworben worden, eine Schule zu überfallen.
Präsident Putin, so lockte sie die Russin, wolle den
Tschetschenienkrieg beenden, ohne sein Gesicht zu verlieren. Wenn
Kinder als Geiseln genommen würden, könne er
humanitäre Gründe für einen Rückzug der
russischen Truppen vortäuschen.
Über die Authentizität dieses
Briefes ist nichts bekannt. Andere Geiseln wie Semfira S. die ihren
Nachnamen nicht nennen will, berichten, die Terroristen hätten
viel telefoniert und nach den Telefonaten immer wieder gesagt, man
habe ihnen eine Falle gestellt. Offenbar waren sie auch nicht
darüber informiert, in welcher Stadt sie sich befanden, sie
hätten geglaubt, in Waldikawkas, der ossetischen Hauptstadt,
zu sein. Nach einem Treffen mit dem inguschischen
Ex-Präsidenten Auschew, so die Geiseln, seien die Terroristen
in Panik geraten. "Sie haben herum geschrien, jetzt müssten
wir alle zusammen sterben", sagt Semfira S.
Trotz aller Vermutungen formt sich aus den
Aussagen der Geiseln und den ersten Untersuchungsergebnissen ein
Bild der Täter. Postume Blutuntersuchungen ergaben, dass die
Männer erhebliche Mengen an Drogen konsumierten, offenbar
nicht nur während des Angriffs, sondern über Jahre.
Außerdem haben fast alle Attentäter eine kriminelle
Vergangenheit. Aber war es so: Drogenabhängige Verbrecher
werden für Geld angeheuert, eine Schule zu überfallen?
Man schiebt ihnen ein paar Forderungen unter, die so utopisch sind,
dass sie nicht erfüllt werden können? Außerdem
lügt man ihnen einen freien Abzug vor?
Die hohe Zahl inguschischer Angreifer zeigt,
dass ethnische Vorurteile instrumentalisiert wurden, um die
moralische Hemmschwelle zu senken und einen perfiden Angriff auf
Kinder zu rechtfertigen. Am Ende brennt der Kaukasus, und jene, die
vom Krieg leben, reiben sich die Hände? Vor der Schule Nummer
1 wachen seit dem Attentat russische Soldaten, die selber noch wie
Kinder aussehen. Er fürchte sich entsetzlich, sagt ein junger
Gefreiter. Jede Nacht sähe er eine Frau mit einem Kind auf dem
Arm über den Schulhof gehen. "Und dann höre ich viele
Kinder weinen. Ich hoffe, man findet die Schuldigen bald, damit die
Toten hier zur Ruhe kommen."
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