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Jeannette Goddar
Nach dem Mord an Theo van Gogh brennen Moscheen
und Kirchen
Die Niederlande überdenken ihr
Toleranzprinzip
Der Künstler Chris Ripken traute seinen Augen nicht, als
einen Tag nach dem Tod Theo van Goghs die Polizei bei ihm vor der
Tür stand. Nach dem Mord an dem Regisseur hatte Ripken das
fünfte Gebot auf eines seiner Bilder im Fenster seiner
Rotterdamer Galerie geschrieben. Weil diese Galerie in
unmittelbarer Nähe einer Moschee liegt, sollte er es wieder
entfernen. Die Besucher der Moschee, hieß es, könnten die
Aufschrift "Du sollst nicht töten" als diskriminierende
Anklage auffassen. Nicht nur Ripken, sondern auch die Rotterdamer
Öffentlichkeit war fassungslos. Zwei Tage später
entschuldigte sich der Bürgermeister Ivo Opstelden
persönlich bei dem Galeristen und räumte ein
unglückliches Versehen ein. Das Bild wurde wieder
aufgehängt.
Man mag diese Anekdote in Zeiten, in denen die Niederländer
begreifen, dass organisierte Islamisten im Polderland Morde an
Missliebigen planen, durchführen und im Anschluss zu weiteren
Morden aufrufen, für einen Nebenschauplatz halten. Binnen
einer Woche hat der Anschlag auf den Regisseur Theo van Gogh zu
einer Welle von Ausschreitungen und Gewalt geführt, wie es sie
bisher nie gegeben hat. Fast jede Nacht werden in den großen
Städten wie in der Provinz Moscheen und Kirchen
angezündet. Bei der Durchsuchung einer Wohnung geriet die
Polizei unter Granatenbeschuss. Mehrere Beamte wurden verletzt. Das
Militär wurde eingesetzt. Über dem Regierungssitz Den
Haag wurde der Luftraum gesperrt. Zwar sind Anschläge auf
Moscheen in den Niederlanden nichts Ungewöhnliches - auch nach
dem 11. September 2001 brannten nirgends in Europa so viele
muslimische Einrichtungen wie dort. Dennoch erinnert manches dieser
Tage an bürgerkriegsähnliche Zustände.
Der Faux-Pas des Rotterdamer Bürgermeisters ist deswegen
nicht nur ein Nebenschauplatz, weil er im Kern beschreibt, wie man
jahrzehntelang mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen
umgegangen ist. Eine typisch holländische Gemengelage aus
Duldung, Toleranz und politischer Korrektheit hat wie nirgendwo
anders zu einem permanenten "Bloß-niemandem-zu-nahe-treten"
geführt, das für Außenstehende groteske Ausmaße
hatte. Schon wer Menschen, die vergangene Woche aus Marokko oder
der Türkei zugereist waren, Ausländer nannte, machte sich
der Xenophobie verdächtig. Laut stillschweigender
Übereinkunft haben in den Niederlanden lebende Menschen
jedweder Herkunft als "allochthon" und nicht als "ausländisch"
bezeichnet zu werden. Und wer nicht nur Nutzen, sondern auch Kosten
von Zuwanderung aufs Tapet brachte, wurde nicht selten stracks in
einen Topf mit Rechtsextremen geworfen. Bis der sozialdemokratische
Publizist Paul Scheffer das Land vor fünf Jahren mit seinem
Aufsatz "Das multikulturelle Drama" aufrüttelte, hatte man
sich seinen Platz als Einwanderungsgesellschaft jahrzehntelang
zwischen lauter Tabuthemen geschaffen.
Nun wird zur Gewissheit, was schon nach dem Mord an dem
rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn wahrscheinlich geworden
war: Die Zeiten der friedlichen Konsensdemokratie sind
endgültig vorbei. Radikale Islamisten haben den
Niederländern den Krieg erklärt - und die Niederlande
nehmen die Herausforderung mit markigen Worten an. Der "Dschihad in
den Niederlanden" habe begonnen, erklärte Vizepremier Gerrit
Zalm seinen Landsleuten. Und: "Wir sind im Krieg."
Wer nun aber voller Schock und Unverständnis in das Land
blickt, das auch in Deutschland vielen als Muster der Integration
galt, sollte wissen, dass der Küstenstaat schon immer ein
zutiefst von Religionen geprägt war. Bis in das 19.
Jahrhundert schien auch ein friedliches Zusammenleben zwischen
Calvinisten und Katholiken völlig undenkbar. Erreicht wurde
der Frieden nur durch das einzigartige Prinzip einer
"versäulten" Gesellschaft. Protestanten und Katholiken,
später auch Sozialdemokraten, errichteten eigene und
weitgehend autonome Säulen. Vor allem in der Nachkriegszeit
unterhielt jede Gruppe eigene Kindergärten, Schulen und
Universitäten, Radio- und Fernsehprogramme, Schwimmbäder
und Schachvereine. Mit ein bisschen Glück konnte man in den
Niederlanden groß werden, ohne je auch nur einen
Andersgläubigen zu Gesicht zu bekommen. Am oberen Ende der
Säulen standen die Eliten, die als Einzige
regelmäßig zusammenkamen und trotz aller bestehenden
Unterschiede einen Konsens suchten.
Ab den 50er-Jahren stießen die Muslime hinzu; zunächst
aus Indonesien und Surinam, später aus der Türkei und aus
Marokko. Und auch ihnen machten die Niederlande es leicht, sich zu
organisieren. Muslimische Gemeinden gründeten islamische
Altersheime, Krankenhäuser, Schulen, Rundfunkprogramme und
Schlachtereien, Vereine und Nachbarschaftshäuser. Weil der
Gleichheitsgrundsatz ein hohes Gut ist, ließ man sie nicht nur
gewähren, sondern unterstützte sie nach Kräften -
nach dem Motto: Wenn Andere unser Kirchengeläute ertragen,
dann müssen wir uns auch den Ruf des Muezzin gefallen lassen.
Allein 400 Moscheen und 30 islamische Grundschulen gibt es
heute.
Nur vor dem Hintergrund dieser religiösen Toleranz ist zu
verstehen, dass die Öffentlichkeit und wohl auch die
Sicherheitsbehörden jahrzehntelang kaum etwas über fast
eine Million Mitbürger wussten. In der Tradition der
Säulen lebte man auch in der multikulturellen Gesellschaft
weiter nebeneinander als miteinander. Und wegen der notorischen
niederländischen Toleranz wurde auch in die islamischen
Strukturen nicht hineingeguckt. Im Ausland viel diskutierte Fragen
wie die nach Kopftüchern oder Zwangsheirat wurden einfach
nicht gestellt. Und auch nicht die, was Vereine wie die
türkische Milli Görus, offizieller Gesprächspartner
der Regierung, in ihren Koranschulen eigentlich predigen.
Jetzt hat der Geheimdienst ein paar Fakten veröffentlicht,
die verdeutlichen, dass das jahrelange Wegschauen nicht nur
herrlich integrierte Mitbürger produzierte: Von den offiziell
900.000 Muslimen im Land gelten fünf Prozent als radikale
Islamisten. Das ist natürlich eine Minderheit - aber keine
verschwindende, sondern 45.000 Menschen. Ein harter Kern von 150
gilt als unmittelbar gewaltbereit.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen bleiben nicht ohne
Wirkung: 80 Prozent der Niederländer meinen inzwischen, ihr
Land sei zu tolerant. Zeitgleich klagen immer mehr Muslime
über offene Diskriminierung im Alltag. Und die Verfechter des
friedlichen Zusammenlebens der Kulturen fragen sich, wie wohl eine
Toleranz aussieht, die nicht mit Gleichgültigkeit zu
verwechseln ist.
Wohin das 15-Millionen-Einwohnerland steuert, ist in diesen
Tagen völlig offen. Fest steht aber: Die Debatte darüber,
wie eigentlich eine multikulturelle Gesellschaft aussehen sollte,
wird in dem traditionellen Einwanderungsland noch einmal ganz von
vorn geführt.
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