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Das Parlament
Nr. 47 / 15.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Jeannette Goddar

Nach dem Mord an Theo van Gogh brennen Moscheen und Kirchen

Die Niederlande überdenken ihr Toleranzprinzip

Der Künstler Chris Ripken traute seinen Augen nicht, als einen Tag nach dem Tod Theo van Goghs die Polizei bei ihm vor der Tür stand. Nach dem Mord an dem Regisseur hatte Ripken das fünfte Gebot auf eines seiner Bilder im Fenster seiner Rotterdamer Galerie geschrieben. Weil diese Galerie in unmittelbarer Nähe einer Moschee liegt, sollte er es wieder entfernen. Die Besucher der Moschee, hieß es, könnten die Aufschrift "Du sollst nicht töten" als diskriminierende Anklage auffassen. Nicht nur Ripken, sondern auch die Rotterdamer Öffentlichkeit war fassungslos. Zwei Tage später entschuldigte sich der Bürgermeister Ivo Opstelden persönlich bei dem Galeristen und räumte ein unglückliches Versehen ein. Das Bild wurde wieder aufgehängt.

Man mag diese Anekdote in Zeiten, in denen die Niederländer begreifen, dass organisierte Islamisten im Polderland Morde an Missliebigen planen, durchführen und im Anschluss zu weiteren Morden aufrufen, für einen Nebenschauplatz halten. Binnen einer Woche hat der Anschlag auf den Regisseur Theo van Gogh zu einer Welle von Ausschreitungen und Gewalt geführt, wie es sie bisher nie gegeben hat. Fast jede Nacht werden in den großen Städten wie in der Provinz Moscheen und Kirchen angezündet. Bei der Durchsuchung einer Wohnung geriet die Polizei unter Granatenbeschuss. Mehrere Beamte wurden verletzt. Das Militär wurde eingesetzt. Über dem Regierungssitz Den Haag wurde der Luftraum gesperrt. Zwar sind Anschläge auf Moscheen in den Niederlanden nichts Ungewöhnliches - auch nach dem 11. September 2001 brannten nirgends in Europa so viele muslimische Einrichtungen wie dort. Dennoch erinnert manches dieser Tage an bürgerkriegsähnliche Zustände.

Der Faux-Pas des Rotterdamer Bürgermeisters ist deswegen nicht nur ein Nebenschauplatz, weil er im Kern beschreibt, wie man jahrzehntelang mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen umgegangen ist. Eine typisch holländische Gemengelage aus Duldung, Toleranz und politischer Korrektheit hat wie nirgendwo anders zu einem permanenten "Bloß-niemandem-zu-nahe-treten" geführt, das für Außenstehende groteske Ausmaße hatte. Schon wer Menschen, die vergangene Woche aus Marokko oder der Türkei zugereist waren, Ausländer nannte, machte sich der Xenophobie verdächtig. Laut stillschweigender Übereinkunft haben in den Niederlanden lebende Menschen jedweder Herkunft als "allochthon" und nicht als "ausländisch" bezeichnet zu werden. Und wer nicht nur Nutzen, sondern auch Kosten von Zuwanderung aufs Tapet brachte, wurde nicht selten stracks in einen Topf mit Rechtsextremen geworfen. Bis der sozialdemokratische Publizist Paul Scheffer das Land vor fünf Jahren mit seinem Aufsatz "Das multikulturelle Drama" aufrüttelte, hatte man sich seinen Platz als Einwanderungsgesellschaft jahrzehntelang zwischen lauter Tabuthemen geschaffen.

Nun wird zur Gewissheit, was schon nach dem Mord an dem rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn wahrscheinlich geworden war: Die Zeiten der friedlichen Konsensdemokratie sind endgültig vorbei. Radikale Islamisten haben den Niederländern den Krieg erklärt - und die Niederlande nehmen die Herausforderung mit markigen Worten an. Der "Dschihad in den Niederlanden" habe begonnen, erklärte Vizepremier Gerrit Zalm seinen Landsleuten. Und: "Wir sind im Krieg."

Wer nun aber voller Schock und Unverständnis in das Land blickt, das auch in Deutschland vielen als Muster der Integration galt, sollte wissen, dass der Küstenstaat schon immer ein zutiefst von Religionen geprägt war. Bis in das 19. Jahrhundert schien auch ein friedliches Zusammenleben zwischen Calvinisten und Katholiken völlig undenkbar. Erreicht wurde der Frieden nur durch das einzigartige Prinzip einer "versäulten" Gesellschaft. Protestanten und Katholiken, später auch Sozialdemokraten, errichteten eigene und weitgehend autonome Säulen. Vor allem in der Nachkriegszeit unterhielt jede Gruppe eigene Kindergärten, Schulen und Universitäten, Radio- und Fernsehprogramme, Schwimmbäder und Schachvereine. Mit ein bisschen Glück konnte man in den Niederlanden groß werden, ohne je auch nur einen Andersgläubigen zu Gesicht zu bekommen. Am oberen Ende der Säulen standen die Eliten, die als Einzige regelmäßig zusammenkamen und trotz aller bestehenden Unterschiede einen Konsens suchten.

Ab den 50er-Jahren stießen die Muslime hinzu; zunächst aus Indonesien und Surinam, später aus der Türkei und aus Marokko. Und auch ihnen machten die Niederlande es leicht, sich zu organisieren. Muslimische Gemeinden gründeten islamische Altersheime, Krankenhäuser, Schulen, Rundfunkprogramme und Schlachtereien, Vereine und Nachbarschaftshäuser. Weil der Gleichheitsgrundsatz ein hohes Gut ist, ließ man sie nicht nur gewähren, sondern unterstützte sie nach Kräften - nach dem Motto: Wenn Andere unser Kirchengeläute ertragen, dann müssen wir uns auch den Ruf des Muezzin gefallen lassen. Allein 400 Moscheen und 30 islamische Grundschulen gibt es heute.

Nur vor dem Hintergrund dieser religiösen Toleranz ist zu verstehen, dass die Öffentlichkeit und wohl auch die Sicherheitsbehörden jahrzehntelang kaum etwas über fast eine Million Mitbürger wussten. In der Tradition der Säulen lebte man auch in der multikulturellen Gesellschaft weiter nebeneinander als miteinander. Und wegen der notorischen niederländischen Toleranz wurde auch in die islamischen Strukturen nicht hineingeguckt. Im Ausland viel diskutierte Fragen wie die nach Kopftüchern oder Zwangsheirat wurden einfach nicht gestellt. Und auch nicht die, was Vereine wie die türkische Milli Görus, offizieller Gesprächspartner der Regierung, in ihren Koranschulen eigentlich predigen.

Jetzt hat der Geheimdienst ein paar Fakten veröffentlicht, die verdeutlichen, dass das jahrelange Wegschauen nicht nur herrlich integrierte Mitbürger produzierte: Von den offiziell 900.000 Muslimen im Land gelten fünf Prozent als radikale Islamisten. Das ist natürlich eine Minderheit - aber keine verschwindende, sondern 45.000 Menschen. Ein harter Kern von 150 gilt als unmittelbar gewaltbereit.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen bleiben nicht ohne Wirkung: 80 Prozent der Niederländer meinen inzwischen, ihr Land sei zu tolerant. Zeitgleich klagen immer mehr Muslime über offene Diskriminierung im Alltag. Und die Verfechter des friedlichen Zusammenlebens der Kulturen fragen sich, wie wohl eine Toleranz aussieht, die nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist.

Wohin das 15-Millionen-Einwohnerland steuert, ist in diesen Tagen völlig offen. Fest steht aber: Die Debatte darüber, wie eigentlich eine multikulturelle Gesellschaft aussehen sollte, wird in dem traditionellen Einwanderungsland noch einmal ganz von vorn geführt.

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