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Das Parlament
Nr. 47 / 15.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Ernst-Otto Czempiel

Ein Protestantismus ohne Gott

Samuel Huntington über Amerikas Stellung in der Welt
Nein, Samuel Huntington hat kein rassistisches Buch geschrieben, wie es die inneramerikanische Kritik behauptet. Er hat Denkanstöße gegeben, dabei auch anstößige, und auf einem politischen, aber oberhalb der Tagespolitik liegenden Niveau. Das ist das publizistische Markenzeichen der zweiten Schaffensperiode Huntingtons. In seiner ersten arbeitete er für die Wissenschaft, hat zahlreiche gelehrte und gewissenhafte Bücher geschrieben, über das militärische Denken beispielsweise. In seiner zweiten Phase, deren intellektuellen Anfang man in seiner konkreten Zuarbeit zur Außenpolitik Ronald Reagans vermuten darf, hat der Gelehrte viele Bücher geschrieben, die nicht immer den wissenschaftlichen Diskurs, sondern mitunter mehr die politische Diskussion bedienten.

Dem berühmtesten Titel über den "Kampf der Kulturen" hat Huntington jetzt sozusagen den zweiten Teil nachgeschickt, der vom Wesen Amerikas und seiner Stellung in dieser Welt handelt. Verkürzt und zugespitzt lautet das Ergebnis: Schien die Religiosität im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an Bedeutung zu verlieren, so ist das 21. wieder ein "Zeitalter der Religion", in dem der Glaube die Politik mitbestimmt.

Und weiter: Amerika mit seiner tiefen christlichen Religiosität findet seine Identität in der aktiven Wahrung des Erbes des christlichen Abendlandes, das die Europäer vergeudet haben. Amerika ist "zutiefst christlich", sein "Credo ist Protestantismus ohne Gott, die amerikanische Zivilreligion ist Christentum ohne Christus". Huntingtons Amerika kämpft mit dem christlichen Gott in der Welt und gegen sie.

Diese Thesen sollten gerade in Europa aufmerksam gelesen werden, wo das Missionarische im amerikanischen Politikverständnis gern übersehen wird. Huntington stimmt der Weltsicht der Bush-Regierung zu (hat er vielleicht daran mitgewirkt?), dass der Islam, der radikale jedenfalls, die christliche Welt herausfordert und der Kampf gegen ihn den Platz ausfüllt, den zuvor die Abwehr der bolschewistischen Sowjetunion innehatte.

Mexikanische Masseneinwanderung

Amerikaner sind also vor allem Christen, und zwar Protestanten. Deswegen sorgt sich Huntington auch um die Masseneinwanderung von Hispanics, vor allem von Mexikanern. Sie machen der englischen Sprache und dem Protestantismus den Rang streitig. Immer wieder kommt er auf diese inneramerikanische Bedrohung für die sprachliche und religiöse Leitkultur der USA zu sprechen. Huntington warnt nicht nur davor, er bietet auch eindrucksvolle Fakten. Waren noch vor vier Jahren zwölf Prozent der amerikanischen Bevölkerung Hispanics, so werden sie eine Generation später schon 40 Prozent ausmachen. Vor dieser Aussicht verblasst die deutsche Diskussion um das "Ausländerproblem".

Diese doppelte Bedrohung der amerikanischen Identität hat der Autor mit knapp 500 Seiten voller Informationen über die Geschichte, Kultur und Politik der USA umgeben. Sie sind lesenswert und leserfreundlich, liegt ihnen doch ein Kolleg zugrunde, mit dem der Harvard-Professor über viele Semester seine Studenten informieren und für das Fach interessieren wollte. Das Kennzeichen solcher Kollegs sind die Breite, nicht der Tiefgang, die Information, nicht deren Analyse. Huntington bietet denn auch keine Geschichte der politischen Kultur Amerikas, sondern ein Gegenwartsporträt mit kleinen historischen Exkursen und zahlreichen, ihm von seinen Mitarbeitern angelieferten statistischen und Umfrage-Daten. Das bereichert die Lektüre, erschwert sie aber auch gelegentlich.

Eigentlich hätte man lieber den Analytiker Huntington gelesen, seine Deutung dessen, worüber er berichtet. Aber er versteckt sie. Er beschreibt viel, aber nicht alles, und hält seinen Bericht in jenem gleichmäßig beschreibenden Tonfall, der eine Neutralität vorgibt, aber eine Parteinahme verdeckt.

Dafür zwei Beispiele: Huntington erwähnt korrekt, dass ein starker Außendruck den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft fördert und ihre Identifikation vorantreibt. Auf die Angriffe von Multikulturalisten und Zweisprachlern führt er denn auch zurück, dass die schon weit vorangekommene "Dekonstruktion" (wie er es nennt) der amerikanischen Identität abgefangen und wieder vertieft werden konnte. Daraus und aus der soziologischen Theorie leitet er die Einsicht ab, dass "das Fehlen eines äußeren Feindes oder eines äußeren Gegenübers innere Zwiste schürt". Und auch umgekehrt: Der 11. September 2001 hat allen Amerikanern klar gemacht, dass die "Sicherung ihres Heimatlandes die erste Aufgabe der Regierung sein muss".

Beides ist richtig, verdeckt aber die in der Geschichts- und Politikwissenschaft immer wieder diskutierte Gefahr der politischen Instrumentalisierung auswärtiger Bedrohungen. Von solchem Primat der Außenpolitik wissen alle Europäer, vor allem die Deutschen, manche Lieder zu singen. Ein amerikanischer Politologe von Rang, der diese Zusammenhänge verschweigt, setzt sich dem Verdacht aus, für die von Präsident Bush propagierte Hinordnung der amerikanischen Innenpolitik auf den "Krieg gegen den Terror" zu werben.

Oder: Huntington erwähnt, dass die im Schmelztiegel Amerika noch erkennbaren ethnischen Minderheiten von den Regierungen ihrer früheren Heimatländer zur politischen Einflussnahme benutzt werden. Die Kuomintang steuerte auf diese Weise jahrelang die China-Politik Washingtons, der Likudblock in Israel stützt sich erfolgreich auf das American-Israeli Political Affairs Committee. Diese "foreign lobbies", wie sie richtig heißen, als "Diasporas", also als religiöse Minderheiten, vorzuführen, setzt dem Leser eine Scheuklappe auf. Er muss sich geradewegs düpiert fühlen, wenn er zwar erfährt, dass Politiker die religiösen Leidenschaften für ihre Zwecke ausnutzen und schüren, dann aber auf der nächsten Seite aufgefordert wird, die muslimische Bedrohung genauso zu bewerten wie seinerzeit die kommunistische.

Führung und Verführung

Der Wissenschaftler Huntington hat eben kein wissenschaftliches, sondern ein politisches Buch vorgelegt, das nicht nur aufklären, sondern auch einnehmen will, das den Leser führt, aber eben auch verführt. Es liest sich wie ein Studientext zur Weltpolitik der Bush-Koalition im Kampf der Kulturen. Es verteidigt die Identität, den Protestantismus und den Nationalismus Amerikas gegen die fremde Kultur des Islams. Der Wissenschaftler Huntington weiß sehr wohl, dass die Regierung George W. Bush nicht die ganze amerikanische Gesellschaft repräsentiert, sondern nur jenen Ausschnitt, den die Bush-Koalition hergestellt hat. Aber darüber schweigt sich der sonst so beredte Autor Huntington aus.

Samuel P. Huntington

Who are we?

Die Krise der amerikanischen Identität.

Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Ursel Schäfer.

Europa Verlag, Hamburg/Wien 2004; 507 S., 29,90 Euro

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