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Ernst-Otto Czempiel
Ein Protestantismus ohne Gott
Samuel Huntington über Amerikas Stellung in
der Welt
Nein, Samuel Huntington hat kein rassistisches
Buch geschrieben, wie es die inneramerikanische Kritik behauptet.
Er hat Denkanstöße gegeben, dabei auch
anstößige, und auf einem politischen, aber oberhalb der
Tagespolitik liegenden Niveau. Das ist das publizistische
Markenzeichen der zweiten Schaffensperiode Huntingtons. In seiner
ersten arbeitete er für die Wissenschaft, hat zahlreiche
gelehrte und gewissenhafte Bücher geschrieben, über das
militärische Denken beispielsweise. In seiner zweiten Phase,
deren intellektuellen Anfang man in seiner konkreten Zuarbeit zur
Außenpolitik Ronald Reagans vermuten darf, hat der Gelehrte
viele Bücher geschrieben, die nicht immer den
wissenschaftlichen Diskurs, sondern mitunter mehr die politische
Diskussion bedienten.
Dem berühmtesten Titel über den
"Kampf der Kulturen" hat Huntington jetzt sozusagen den zweiten
Teil nachgeschickt, der vom Wesen Amerikas und seiner Stellung in
dieser Welt handelt. Verkürzt und zugespitzt lautet das
Ergebnis: Schien die Religiosität im letzten Drittel des 20.
Jahrhunderts an Bedeutung zu verlieren, so ist das 21. wieder ein
"Zeitalter der Religion", in dem der Glaube die Politik
mitbestimmt.
Und weiter: Amerika mit seiner tiefen
christlichen Religiosität findet seine Identität in der
aktiven Wahrung des Erbes des christlichen Abendlandes, das die
Europäer vergeudet haben. Amerika ist "zutiefst christlich",
sein "Credo ist Protestantismus ohne Gott, die amerikanische
Zivilreligion ist Christentum ohne Christus". Huntingtons Amerika
kämpft mit dem christlichen Gott in der Welt und gegen
sie.
Diese Thesen sollten gerade in Europa
aufmerksam gelesen werden, wo das Missionarische im amerikanischen
Politikverständnis gern übersehen wird. Huntington stimmt
der Weltsicht der Bush-Regierung zu (hat er vielleicht daran
mitgewirkt?), dass der Islam, der radikale jedenfalls, die
christliche Welt herausfordert und der Kampf gegen ihn den Platz
ausfüllt, den zuvor die Abwehr der bolschewistischen
Sowjetunion innehatte.
Mexikanische Masseneinwanderung
Amerikaner sind also vor allem Christen, und
zwar Protestanten. Deswegen sorgt sich Huntington auch um die
Masseneinwanderung von Hispanics, vor allem von Mexikanern. Sie
machen der englischen Sprache und dem Protestantismus den Rang
streitig. Immer wieder kommt er auf diese inneramerikanische
Bedrohung für die sprachliche und religiöse Leitkultur
der USA zu sprechen. Huntington warnt nicht nur davor, er bietet
auch eindrucksvolle Fakten. Waren noch vor vier Jahren zwölf
Prozent der amerikanischen Bevölkerung Hispanics, so werden
sie eine Generation später schon 40 Prozent ausmachen. Vor
dieser Aussicht verblasst die deutsche Diskussion um das
"Ausländerproblem".
Diese doppelte Bedrohung der amerikanischen
Identität hat der Autor mit knapp 500 Seiten voller
Informationen über die Geschichte, Kultur und Politik der USA
umgeben. Sie sind lesenswert und leserfreundlich, liegt ihnen doch
ein Kolleg zugrunde, mit dem der Harvard-Professor über viele
Semester seine Studenten informieren und für das Fach
interessieren wollte. Das Kennzeichen solcher Kollegs sind die
Breite, nicht der Tiefgang, die Information, nicht deren Analyse.
Huntington bietet denn auch keine Geschichte der politischen Kultur
Amerikas, sondern ein Gegenwartsporträt mit kleinen
historischen Exkursen und zahlreichen, ihm von seinen Mitarbeitern
angelieferten statistischen und Umfrage-Daten. Das bereichert die
Lektüre, erschwert sie aber auch gelegentlich.
Eigentlich hätte man lieber den
Analytiker Huntington gelesen, seine Deutung dessen, worüber
er berichtet. Aber er versteckt sie. Er beschreibt viel, aber nicht
alles, und hält seinen Bericht in jenem gleichmäßig
beschreibenden Tonfall, der eine Neutralität vorgibt, aber
eine Parteinahme verdeckt.
Dafür zwei Beispiele: Huntington
erwähnt korrekt, dass ein starker Außendruck den inneren
Zusammenhalt einer Gesellschaft fördert und ihre
Identifikation vorantreibt. Auf die Angriffe von Multikulturalisten
und Zweisprachlern führt er denn auch zurück, dass die
schon weit vorangekommene "Dekonstruktion" (wie er es nennt) der
amerikanischen Identität abgefangen und wieder vertieft werden
konnte. Daraus und aus der soziologischen Theorie leitet er die
Einsicht ab, dass "das Fehlen eines äußeren Feindes oder
eines äußeren Gegenübers innere Zwiste schürt".
Und auch umgekehrt: Der 11. September 2001 hat allen Amerikanern
klar gemacht, dass die "Sicherung ihres Heimatlandes die erste
Aufgabe der Regierung sein muss".
Beides ist richtig, verdeckt aber die in der
Geschichts- und Politikwissenschaft immer wieder diskutierte Gefahr
der politischen Instrumentalisierung auswärtiger Bedrohungen.
Von solchem Primat der Außenpolitik wissen alle Europäer,
vor allem die Deutschen, manche Lieder zu singen. Ein
amerikanischer Politologe von Rang, der diese Zusammenhänge
verschweigt, setzt sich dem Verdacht aus, für die von
Präsident Bush propagierte Hinordnung der amerikanischen
Innenpolitik auf den "Krieg gegen den Terror" zu werben.
Oder: Huntington erwähnt, dass die im
Schmelztiegel Amerika noch erkennbaren ethnischen Minderheiten von
den Regierungen ihrer früheren Heimatländer zur
politischen Einflussnahme benutzt werden. Die Kuomintang steuerte
auf diese Weise jahrelang die China-Politik Washingtons, der
Likudblock in Israel stützt sich erfolgreich auf das
American-Israeli Political Affairs Committee. Diese "foreign
lobbies", wie sie richtig heißen, als "Diasporas", also als
religiöse Minderheiten, vorzuführen, setzt dem Leser eine
Scheuklappe auf. Er muss sich geradewegs düpiert fühlen,
wenn er zwar erfährt, dass Politiker die religiösen
Leidenschaften für ihre Zwecke ausnutzen und schüren,
dann aber auf der nächsten Seite aufgefordert wird, die
muslimische Bedrohung genauso zu bewerten wie seinerzeit die
kommunistische.
Führung und Verführung
Der Wissenschaftler Huntington hat eben kein
wissenschaftliches, sondern ein politisches Buch vorgelegt, das
nicht nur aufklären, sondern auch einnehmen will, das den
Leser führt, aber eben auch verführt. Es liest sich wie
ein Studientext zur Weltpolitik der Bush-Koalition im Kampf der
Kulturen. Es verteidigt die Identität, den Protestantismus und
den Nationalismus Amerikas gegen die fremde Kultur des Islams. Der
Wissenschaftler Huntington weiß sehr wohl, dass die Regierung
George W. Bush nicht die ganze amerikanische Gesellschaft
repräsentiert, sondern nur jenen Ausschnitt, den die
Bush-Koalition hergestellt hat. Aber darüber schweigt sich der
sonst so beredte Autor Huntington aus.
Samuel P. Huntington
Who are we?
Die Krise der amerikanischen
Identität.
Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm
und Ursel Schäfer.
Europa Verlag, Hamburg/Wien 2004; 507 S.,
29,90 Euro
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