Eckart Dietzfelbinger
Präzise Demontage mythischer Figuren
NS-Verbrechen in Film und Theater
Ein Großkrieg und ein Großverbrechen
sind bis heute die zentralen Bezugspunkte und zugleich die
Bruchstellen im historisch-politischen Bewusstsein der Deutschen.
Diese Aussage kann als der gemeinsame Nenner für das
vorliegende Werk des Politikwissenschaftlers Peter Reichel gelten.
Sein Thema ist der Streit um den öffentlichen Umgang mit der
NS-Vergangenheit und ihrer permanenten Vergegenwärtigung. Mit
diesem Buch schließt der Autor seine Trilogie ("Politik mit
der Erinnerung" 1995; "Vergangenheitsbewältigung" 2001) aus
der Perspektive des Rückblicks auf den Nationalsozialismus
ab.
Thema des Buches ist die ästhetische
Kultur, die sich mit den NS-Gewaltverbrechen in Film und Theater
auseinander setzt. Reichels These lautet: Weil Hitlers Krieg bis
heute als der Krieg schlechthin gilt, als Krieg aller Kriege, mit
dem das 20. Jahrhundert seine eigentliche Signatur erhalten hat,
mussten die mythischen Figuren in den Ansichten darüber nach
1945 anders dimensioniert werden: eben als "erfundene Erinnerung".
Denn es ging um den Makel der Beteiligung an NS-Gewaltverbrechen,
an Auschwitz, an "Verbrechen gegen die Menschheit".
Von Borchert bis Fassbinder
Reichel leuchtet dazu Film und Theater zu
dieser Thematik umfassend aus. Fast alle bedeutenden Werke wie "Die
Mörder sind unter uns", "Canaris", "Die Brücke", "Nackt
unter Wölfen", die Hollywood-Produktion "Holocaust" oder
"Shoah" bis zu "Das Leben ist schön", und ebenso
Inszenierungen wie "Draußen vor der Tür", "Des Teufels
General", "Der Stellvertreter", "Die Ermittlung" oder "Der
Müll, die Stadt und der Tod" sind berücksichtigt. Viele
dieser Werke schlugen hohe Wellen bis hin zu diplomatischen
Verstimmungen im Zeitgeist des Kalten Krieges. Ihre Entstehung,
Wirkung und die Rezeption in den Zeitungen und in der
Öffentlichkeit wie in den Familien sind selbst längst
eine "zweite Geschichte" des Nationalsozialismus
geworden.
Seinem politologischen Blick bleibt Reichel
treu. Souverän gelingt es ihm, die Auseinandersetzung mit der
NS-Vergangenheit auf der politischen und juristischen Ebene und den
gesellschaftspolitischen Kontext, ob Adenauer-Ära, die Zeit
der sozialliberalen Koalition oder die Kanzlerschaft Helmut Kohls
mit der Aufführung und Rezeptionsgeschichte des jeweiligen
Werkes zu verbinden und dabei seine spezifische Dialektik der
erfundenen Erinnerung zu vermitteln.
Mit klugen, gut verständlichen und auf
den Punkt gebrachten Sätzen beschreibt er die verschiedenen
Entlastungsmuster der deutschen Nachkriegsgesellschaft in der
geteilten Täternation ebenso wie die Funktionalisierung der
NS-Vergangenheit im Systemantagonismus der beiden deutschen Staaten
und nach der Wiedervereinigung. Mit einem vorzüglichen
Anmerkungsteil samt dazugehörigen Quellenangaben bietet er die
Möglichkeit für eigenes Nachfragen und weitere
Recherchen.
An Kritik spart er dabei nicht, ohne aber zu
belehren. So vereinnahmt seiner Meinung nach das künftige
Holocaust-Mahnmal in Berlin die Opfer und abstrahiert von den
Tätern; außerdem ist es nach einem sehr viel
überzeugenderen Vorbild gestaltet: der Gedenkstätte im
Vernichtungslager Treblinka in Polen.
Peter Reichel hat mit diesem Buch ein bisher
einmaliges Standardwerk über die ästhetische Kultur in
Deutschland geschaffen, das in jede Fachbibliothek gehört.
Für das Erinnern an die NS-Verbrechen und deren Opfer im 21.
Jahrhundert im Bereich Film und Theater wie auch für
Aufklärungs- und politische Bildungsarbeit stellt es ein
hervorragendes Angebot dar. Zwar wird das Nachdenken über
Auschwitz mit wachsendem zeitlichen Abstand schwieriger und
schwächer werden. Aber aufhören wird es niemals.
Mögliche Zweifel daran räumt die "Erfundene Erinnerung"
überzeugend aus.
Peter Reichel
Erfundene Erinnerung.
Weltkrieg und Judenmord in Film und
Theater.
Carl Hanser Verlag, München 2004; 374
S., 24,90 Euro.
Zurück zur Übersicht
|