Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zum Volkstrauertag am 14.11.1999 im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort
Anrede,
wiederum gedenken wir an diesem vorletzten Sonntag vor dem ersten
Advent der Opfer zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft. Auch in diesem Jahr vereint die Trauer über
das Geschehene Millionen von Menschen in unserem Land. Und dennoch
ist der Volkstrauertag 1999 ein besonderer Tag. Schließlich
gilt das Jahr 2000 - ob es stimmt oder nicht - als das Ende des 20.
Jahrhunderts, das uns als Jahrhundert der bislang schrecklichsten
Kriege mit Millionen von Opfern in Erinnerung bleibt. In ihrem
Gedicht "Das Ende dieses Jahrhunderts" hat die polnische
Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska dies eindringlich
beschrieben. (Ich zitiere):
"Es hatte besser werden sollen als die vergangenen, unser 20.
Jahrhundert (...) Zu viel ist geschehen, was nicht mehr hat
geschehen sollen (...) und was kommen sollte, kam leider nicht
(...) Einige Unglücksfälle sollten nicht mehr geschehen,
zum Beispiel Krieg (...)"
Aber der Blick zurück ist nicht nur düster. Neben der
Trauer mit ihren vielfältigen und schmerzvollen Erinnerungen
stehen auch Hoffnung und Zuversicht. 1999 konnten wir
zurückblicken auf 50 Jahre parlamentarische Demokratie in der
alten Bundesrepublik Deutschland. Mit Stolz und Dankbarkeit haben
wir uns erinnert an die friedliche Revolution der ostdeutschen
Bürgerinnen und Bürger vor 10 Jahren. Sie haben die
deutsche Einheit - und übrigens auch gemeinsame
Volkstrauertage - erst möglich gemacht. Wir haben erlebt, wie
das Ende des Ost-West-Gegensatzes im von zwei Weltkriegen
zerrissenen Europa aus Gegnern Verbündete und Freunde werden
ließ. Wir arbeiten am weiteren Zusammenwachsen Euro-pas. Die
Friedenserhaltung auf unserem Globus, den wir immer mehr als die
'eine Welt' verstehen lernen, wird zunehmend zu einer gemeinsamen
Aufgabe der Staatengemeinschaft und ihrer Institutionen.
Ist bei solch hoffnungsvollen Perspektiven noch Platz für die
Trauer? Die Forderung nach sogenannten Schlußstrichen ist
laut. Schlußstriche unter die Schrecken zweier Weltkriege;
Schluß mit dem Blick zurück; Schluß mit der Trauer
und der Besinnung? Brauchen wir künftig noch ein
gesellschaftliches Gedenken an Ereignisse, die zunehmend weniger
Menschen aus dem persönlichen Erleben kennen?
Ich sage nein zu solchen Schlußstrichen. Ein Ausstieg aus der
Geschichte, das Verdrängen des Grauens, das dieses Jahrhundert
deutscher und europäischer Geschichte geprägt hat, ist
unmöglich, vielleicht sogar der erste Schritt zu neuem
Haß. Wir brauchen den Blick zurück, um unsere
Verantwortung für das Geschehene zu erkennen und Konsequenzen
daraus für unser Handeln abzuleiten. Wenn persönliche
Erfahrung und Betroffenheit mit den Generationen entschwinden,
brauchen wir Gedenkorte - wie das vom Bundestag beschlossene
Mahnmal für die ermordeten Juden Europas - und Gedenktage wie
der Volkstrauertag.
Dieser Gedenktag weist eine lange und durchaus wechselvolle
Tradition auf. Nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges mit mehr
als 10 Millionen Toten in Europa und anderen Teilen der Welt wurde
der Volkstrauertag von dem 1919 gegründeten "Volksbund
deutscher Kriegsgräberfürsorge" im Jahr 1920
eingeführt. 1922 fand die Gedenkfeier erstmals im staatlichen
Rahmen statt. Hier im Berliner Reichstag erinnerte
Reichstagspräsident Paul Löbe eindring-lich an das ganze
Ausmaß des Leides, das der Krieg über weite Teile der
Welt gebracht hatte. Zugleich rief er zu Umdenken und Umkehr auf.
Ich zitiere: "Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote
zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Haß,
bedeutet Einkehr zu Liebe, und unsere Welt hat die Liebe not
..."
Dieser Appell des langjährigen Reichstagspräsiden-ten
stand in radikalem Kontrast zu dem, wozu der Volkstrauertag nach
1933 von den neuen Machthabern pervertiert wurde. Zum
Staatsfeiertag erklärt und zum "Heldengedenktag" umbenannt,
dienten die nun von Wehrmacht, NSDAP und
Reichspropa-gandaministerium organisierten Massenveranstal-tungen
der Glorifizierung des 'Heldentodes' für Volk, Vaterland und
vor allem den sog. 'Führer'. Aus Trauer- und Friedensgedanke
wurden Kriegs-verherrlichung und Förderung von
Völkerhaß. Die grausamen Folgen - der von Hitler
entfesselte Zweiten Weltkrieg, die unvorstellbaren
Zerstörungen in weiten Teilen der Welt, die über 55
Millionen Toten - werden gerade den älteren unter uns am
Volkstrauertag immer wieder schmerzlich bewußt. Aber Fakten
und Zahlen bleiben auch in diesen Schreckensdimensionen abstrakt -
es sind die Erin-nerungen an die einzelnen Opfer des
nationalsozialistischen Kriegs- und Rassenwahns, die uns an die-sem
Tag besonders weh tun - der Verlust von Vater, Mutter, Bruder,
Schwester, Sohn, Tochter, von Freunden und Nachbarn, von Familie,
zu Hause, von Heimat.
Nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde die 1933 unterbrochene
Tradition des Volkstrauertages vom "Volksbund" 1949 wieder
aufgegriffen. 1952 wurde der Volkstrauertag zum nationalen
Trauertag erklärt. In seiner Ansprache im Plenarsaal des
Deutschen Bundestages in Bonn betonte Theodor Heuss den umfassenden
Charakter dieses Tages. Unser erster Bundespräsident rief dazu
auf, das Gedenken nicht nur auf die gefallenen Soldaten zu
beschränken. Vielmehr erinnerte er ausdrücklich an alle
"Opfer einer bösen Politik". Ich zitiere:
"(...) der Opfer sind tausendfach mehr, bei uns, bei den anderen. -
Die (...) Mahnsteine wachsen - dies gilt den Opfern der
Bombenangriffe, dies wächst am Rande eines
Konzentrationslagers, dies steht auf dem (...) jüdischen
Friedhof. (...) da ist es vorbei mit dem Heroisieren, da ist
einfach grenzenloses Leid. Hier die Folgen der wüsten
technischen Gewalt, dort die Folgen der wüsten sittlichen
Zerrüttung."
Dieses Gedenken an alle Opfer von Krieg, Gewalt, Rassenwahn und
Vertreibung stand durchaus im Gegensatz zur selektiven
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der früheren DDR.
Der ehemalige DDR-Bürger, der hier zu Ihnen spricht, erinnert
sich noch gut daran, dass es im SED-Staat keinen Volkstrauertag gab
und geben durfte. Um so erwähnenswerter ist, dass sich auch
hier mutige Männer und Frauen privat für die
Gräberpflege und die Erinnerungsarbeit einsetzten. Der
"Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge" hat - in
Zusammen-arbeit mit dem "Bund der evangelischen Kirchen" - dieses
persönliche Engagement diskret unterstützt und so auch in
den Jahrzehnten der Teilung dazu beigetragen, das gemeinsame
Gedenken wachgehalten.
Das offizielle Gedenken in der DDR beschränkte sich auf den
"Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen
Terrors und Kampftag gegen Faschismus und imperialisti-schen Krieg"
- jährliche Massenveranstaltungen mit for-melhaften Reden und
Militärparaden. Diese Erfah-rungen aus DDR-Zeiten zeigt,
daß Gedenken niemals verordnetes oder gar zwanghaftes
Erinnern sein darf und daß wir uns die Geschichte nicht
aussuchen können. Der staatlich angeordnete Antifaschismus hat
für viele Menschen aus einem ehemals authenti-schen und
glaubwürdigen Antifaschismus ein ideologisches
Herrschaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der SED
gemacht. Das Gedenken an die Opfer des politischen Terrors der
NS-Zeit wurde zunehmend als autoritär und formelhaft empfunden
- und damit sinnentleert. Auf solche Formen des verordneten,
autoritären Gedenkens können wir am Ende des Jahrhunderts
getrost verzichten. Wir ziehen also keine Schlussstriche unter das
Geschehene. Allerdings: Wir müssen uns über die Art des
Erinnerns Gedanken machen, es immer wieder neu bestimmen, um der
Würde der Opfer des Nationalsozialismus willen, und um die
Schlussfolgerungen lebendig zu halten. Wir erinnern an diesem Tag
bewusst an alle Opfer zweier Weltkriege und des politischen
Terrors. Wir gedenken dabei vor allem der sechs Millionen
ermordeten Juden, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der
Geisteskranken und aller anderen vom Nationalsozialismus
systematisch verfolgten und ermordeten Menschen. Ebenso gilt den
Männer und Frauen des Widerstandes unser besonderes Geden-ken.
Wer wie ich selbst als kleiner Junge nur mit knapper Not die Flucht
aus Breslau überlebt hat, wird auch niemals das Leid der
Flüchtlinge und Vertriebenen vergessen. Und dennoch
dürfen wir nicht nur zurückschauen, wenn der
Volkstrauertag in unserer Gesellschaft auch künftig seinen
Sinn behalten soll.
Vielmehr sind wir gefordert, eine Kultur des gesellschaftlichen
Trauerns, des aktiven Erinnerns und Gedenkens zu entwickeln.
Erinnern und Gedenken sind beides komplexe Vorgänge. Sie sind
allerdings keineswegs identisch. Historische Aufklärung kann
politisches Bewusstsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung
rufen. Aber Trauer um die Toten, Empathie mit den Opfern, stellt
sich dadurch noch nicht von selbst ein. Orte und Tage des Gedenkens
wie der Volkstrauertag können diese Empathie entwickeln und
Erkenntnis vermitteln - Erkenntnis, die durch Einfühlung
entsteht, die Kopf und Herz gleichermaßen anspricht.
Nur diese umfassende Form der Auseinandersetzung kann uns zum
verantwortlichen Handeln in Gegen-wart und Zukunft anleiten.
Wirkliche Trauer ist nicht rein passiv, ist nicht resignativ. Wir
müssen sie vielmehr auch begreifen als Anregung zum eigenen
Handeln, als motivierende Kraft. Erst aus tiefem Trauern erwachsen
moralische Gegenwartsverpflichtung und Zukunftsfähigkeit. Die
Trauer erfüllt erst dann ihren umfassenden Sinn, wenn wir sie
als Aufforderung zum Handeln verstehen - Handeln gerade im Sinne
deren, um die wir heute trauern.
Opfer des Krieges wurden Kriegsbegeisterte ebenso wie Kriegsgegner,
Gegner auch und vor allem der Gewalttaten des menschenverachtenden
nationalsozialistischen Rassenwahns. Den Gegnern und den
Ohnmächtigen standen und stehen haßerfüllte
Mör-der und Schreibtischtäter, Verblendete und
Verführte aber auch jene gegenüber, die aus
Gleichgültigkeit oder Angst die Augen verschlossen vor dem,
was auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern in der
Nachbarschaft geschah.
Jeder getötete Soldat, jeder verhungerte und erfrorene
Flüchtling, in unvergleichlicher Weise aber jeder Mann, jede
Frau, jedes Kind, die wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres
Geschlechts, ihrer Reli-gion und aus keinem anderen Grund ermordet
wurden, verlangen von uns, Gewaltherrschaft abzuweh-ren,
Zivilcourage und Toleranz zu üben und den Krieg als Mittel der
Politik zu ächten. Umfassende Friedensarbeit - das ist der
ethische Auftrag der Ermordeten und Getöteten. Diesen Auftrag
zu erneuern ist Sinn des Volkstrauertages. Der Krieg im Kosovo, die
Anlässe für Scham und für Stolz, die sich an jedem
deutschen November jähren, beweisen, wie klein die Schritte
sind von Frieden zu Krieg, von ziviler Gesellschaft zu
Gewaltherrschaft und Barbarei. Ich zitiere Worte des früheren
Bundespräsidenten Gustav Heinemann von 1969: "Der Krieg
ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns. (...)
Auch der Frieden ist kein Naturgesetz - das haben wir erlebt. (...)
Ist er eine Illusion? (...) Eine Antwort (...), die jeder geben
kann, ist die, (jene) Kräfte zu stärken, die eine
über-zeugende Politik des Friedens verfolgen (...) Wir
müssen der Geißel neuer Kriege entschlossen
begegnen."
Nach Millionen von Opfern, nach zwei Weltkriegen hat uns das letzte
Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hoffnungsvolle Perspektiven
eröffnet. Zugleich machen uns jedoch neue Konflikte neue
Gefahren bewusst gemacht - in Europa wie darüber hinaus.
Politische und militärische Allmachtsphantasien,
Gewaltbereitschaft, systematische Menschenrechts-verletzungen,
Rassenwahn und Völkerhaß sind keineswegs von unserem
Globus verschwunden. In ihrem Gedicht "Haß" warnt Wislawa
Szymborska eindringlich davor, uns in falscher Sicherheit zu
wiegen. Dort heißt es:
"Seht her, (...) wie gut er sich hält in unserem Jahrhundert,
der Haß. (...) Die Ursachen, die ihn am Leben halten, gebiert
er selbst. Schläft er ein, dann nie für ewig (...) Zu
neuer Mission ist er allzeit bereit. Wenn er warten muss, wartet
er. Blind sei er, sagt man. Blind? Er hat ein
Scharfschützenauge und zielt verwegen in die Zukunft - er
allein." Das schreckliche Morden und die grausamen ethnischen
Vertreibungen im ehemaligen Jugoslawien, zuletzt im Kosovo, haben
gezeigt, dass der Haß lebendig ist. So lange immer noch
Menschen glauben, politische, wirtschaftliche, ethnische oder
religiöse Konflikte mit Waffengewalt lösen zu
können, so lange muss die Arbeit für den Frieden
weitergehen.
Sie beginnt mit jenem aktiven Gedenken, das der "Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge" seit nunmehr acht Jahrzehnten
praktiziert und fördert. Über Grenzen hinweg leisten sie
in Seminaren, Schulprojekten, Begegnungen, Gesprächen und der
gemeinsamen Gräberpflege europäische und internationale
Jugendarbeit. Über die Vergegenwärtigung des Grauens
zweier Weltkriege wird der Friedensgedanke lebendig
weitervermittelt und zugleich die kulturelle Verständigung
zwischen den Völkern gefördert. Deshalb wünsche ich
dem "Volksbund" in Respekt und Dankbarkeit zum 80jährigen
Bestehen noch viele Geburtstagsfeiern. Solche Friedensarbeit wird
gebraucht. Mit ihr kann aus dem unermeßlichem Leid dieses
Jahrhunderts dauerhafter Frieden zwischen den Völkern unserer
'einen Welt' erwachsen. Das ist die Hoffnung und der Auftrag des
Volkstrauertages!