Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, anläßlich der Eröffnung der internationalen Parlamentarierkonferenz am 15.11.1999 in Tel Aviv
Es gilt das gesprochene Wort
Anrede,
die Eröffnung internationaler Parlamentarierkonferenzen ist mir in den letzten Wochen und Monaten fast schon zur Gewohnheit geworden. Das hat auch mit der 102. Konferenz der "Interparlamentarischen Union" (IPU) zu tun. Sie führte Anfang Oktober weit über 1000 Parlamentarier aus 138 Ländern der Welt - auch aus Israel - in Berlin zusammen. Der dortige Erfahrungsaustausch mit den einzelnen IPU-Delegationen hat mir deutlich gemacht, dass viele Probleme unserer Parlamente identisch oder doch wenigstens vergleichbar sind. Umso wichtiger ist der internationale Dialog der Parlamente, die Vernetzung unseres Nachdenkens über politische Lösungsmöglichkeiten, aber auch über unsere parlamentarische Arbeit selbst.
Darum geht es auch dieser internationalen Konferenz. Und es ist wohl kein Zufall, daß eine Reihe der hier behandelten Themen zugleich wichtige Gegenstände der Parlamentarismusdebatte in Israel betreffen. Sie stehen aber auch in der Bundesrepublik Deutschland seit langem in der öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskussion. Und viele diese Fragen werden auch in anderen Ländern und Parlamenten - von der Assemble National über das britische Unterhaus bis zum amerikanischen Kongreß - intensiv erörtert.
In Ihrem Land, sehr geehrter Herr Kollege Burgh, werden zu Beginn dieser 15. Legislaturperiode der Knesset verschiedene Reformvorhaben erwogen. Diskutiert werden dabei Korrekturen einer 1992 vorgenommenen Wahlrechtsänderung, durch die damals die Direktwahl des Premierministers eingeführt wurde. Ein zweiter Schwerpunkt der innenpolitischen Diskussion in Israel gilt der Einführung des sogenannten "Norwegischen Gesetzes". Danach sollen Minister und stellvertretende Minister für die Zeit ihrer Amtsführung auf ihr Parlamentsmandat verzichten.
Schließlich denkt man in Israel auch über eine weitere Reform des Wahlrechts nach. Wird bisher nach einheitlichen, landesweiten Wahllisten gewählt, so wird nun die Aufteilung des Landes in Wahlbezirke gefordert. Nach einem Reformvorschlag würde die Hälfte der Knesset-Mitglieder dann aus Direktwahlen in den Wahlbezirken ermittelt. Die andere Hälfte würde nach dem Verhältniswahlrecht aus nationalen Wahllisten gewählt.
Schließlich geht es in Israel auch um eine Anhebung der derzeit gültigen, 1,5 %igen Sperrklausel. Übrigens kennt auch das deutsches Wahlrecht - aufgrund bitterer historischer Erfahrungen - eine Sperrklausel. Sie ist eine Konsequenz aus dem Scheitern der ersten deutschen, der "Weimarer Republik". Durch eine extreme Parteienzersplitterung mit vielen im Reichstag vertretenen Kleinstparteien, unsicheren Koalitionen und häufigen Neuwahlen wurde die parlamentarische Demokratie nahezu handlungsunfähig. Dies war nicht der einzige, aber ein wichtiger Umstand, der den Nationalsozialisten die Verhöhnung des Parlamentarismus und die Machtergreifung erleichtert hat. Damit sich die parlamentarische Demokratie ihrer Feinde besser erwehren kann, haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes 1949 eine relativ hohe Sperrklausel von 5% beschlossen.
Nun werden Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, vom deutschen Parlamentspräsidenten nicht erwarten, dass er zur israelischen Parlamentarismusdebatte Empfehlungen abgibt. Aber natürlich will ich mich der Erwartung stellen und hier über die einschlägigen Argumente und Debatten des Deutschen Bundestages berichten.
Der erste Themenschwerpunkt dieser Konferenz wirft - sicherlich in provokativer Absicht - die Frage auf, ob die Parlamente eigentlich noch relevant seien für die Demokratie. Diese Frage wird auch in Deutschland gestellt. Das geschieht sicher auch, weil die Menschen aufgrund der jahrzehntelangen Teilung unseres Landes sehr unterschiedliche Erfahrungen mit dem Parlamentarismus gemacht haben.
Im Westen der Bundesrepublik Deutschland ist die parlamentarische Demokratie fest verankert. Hier hat der Deutsche Bundestag wesentlich dazu beigetragen, 50 Jahre in Frieden und Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und weithin funktionierender sozialer Absicherung zu ermöglichen. Die Menschen im Osten Deutschlands mußten dagegen jahrzehntelang unter der SED-Diktatur leben. Diese wagte sich freien Wahlen nicht zu stellen und leistete sich mit der 'Volkskammer' lediglich ein Scheinparlament.
In den Monaten der friedlichen Revolution des Jahres 1989 haben die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger sich die Demokratie ertrotzt und angeeignet, erst Formen direkter Demokratie wie die sogenannten "runden Tische", dann freie Wahlen. Seit 1990 hat ihnen die parlamentarische Demokratie keineswegs nur Freude gemacht. Für die Ostdeutschen hat soziale Gerechtigkeit eine noch größere Bedeutung als für die Westdeutschen. Sie erleben jedoch seit nunmehr zehn Jahren in Ostdeutschland eine besonders hohe Arbeitslosigkeit. Zugleich sind hier viele alte gesellschaftliche und soziale Bindungen zerbrochen, erscheinen die Zukunftsperspektiven für viele düster.
Von den Ostdeutschen unter diesen Umständen die gleiche Begeisterung für die Demokratie zu erwarten wie von den Westdeutschen, wäre wohl etwas viel verlangt. Deshalb muß das Parlament um Vertrauen in die Demokratie werben und dieses Vertrauen rechtfertigen, Demokratie erfahrbar machen. Dies kann nur durch gute und erfolgreiche Politik gelingen.
Die Bürger der DDR, die zunächst auf Formen direkter Demokratie zurückgriffen, haben die Frage der Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung des vereinten Deutschlands auf die Tagesordnung gesetzt. Eine verfassungsändernde 2/3 Mehrheit kam am Ende jedoch nicht zustande. Viele Ostdeutsche waren deshalb enttäuscht, dass beim Beitritt der neuen Bundesländer zum Grundgesetz solche Beteiligungsmöglichkeiten nicht in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland übernommen wurden.
Ich habe mich als Mitglied der Verfassungskommission des 12. Deutschen Bundestages für eine solche Änderung eingesetzt. Ich bin seit langem der Auffassung, dass eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Entscheidungsfindung für die parlamentarische Demokratie wünschenswert ist - sei es über Volksentscheide, Volksabstimmungen oder Volksinitiativen. Diese können eine wertvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie darstellen. Sie vermögen vor allem zu mehr Bürgernähe der Politik und zu politischem Engagement in der Bürgergesellschaft beizutragen. Allerdings sollten dabei alle haushaltsrelevanten Fragen ausgeschlossen bleiben - ihre Regelung per Bürgerentscheid würde dem Populismus und der Polemik Tür und Tor öffnen.
Der zweite Themenbereich dieser Konferenz, das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung, ist ein Klassiker jeder Parlamentarismusdebatte. In deutschen Debatten geht man oft von der Frage aus, welche Macht eigentlich der Legislative noch zukomme, wenn die Exekutive über interne Gremien, wie z. B. "Koalitionsausschüsse", Entscheidungen des Parlamentes vorwegnehme. Diese Fragestellung ist jedoch überspitzt. Zum einen ist selbstverständlich, dass politische Entscheidungen des Parlamentes vorbereitet werden müssen - vernünftigerweise nicht inmitten der 660 Mitgliedern des Deutschen Bundestages, sondern in kleineren Kreisen. Darin kann ich keine Einschränkung der Rechte des Parlaments erkennen. Zum anderen bleibt der Deutsche Bundestag Ort der letztendlichen gesetzgeberischen Entscheidung über solche Beschlüsse. Hier, im vielzitierten "Herz unserer Demokratie", müssen die Auseinandersetzungen über die politischen Grundfragen und auch aktuelle Fragen ausgetragen und die Gesetze beschlossen werden. Ich sehe deshalb nicht, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Legislative von der Exekutive dominiert würde. Ein Problem ist eher darin zu erkennen, dass unser Parlament als zentraler Ort der politischen Entscheidungen in der Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen wird.
Dieser Aspekt berührt das dritte Kernthema dieser Konferenz, die Frage, in welcher Weise die Medien die Wahrnehmung des Parlamentes beeinflussen. Hier ist in der Bundesrepublik Deutschland vor allem eine Tendenz zur Parlamentskritik zu beobachten. Diese Kritikperspektive hat in unserem Land eine lange und keineswegs unbedenkliche Tradition. Aus der Zeit der "Weimarer Republik", stammt das böse Wort von der "Quasselbude". Mit solchen Behauptungen haben die Gegner der Demokratie den Parlamentarismus in Deutschland verhöhnt. Und noch heute hören wir Abgeordneten den Vorwurf, der Deutsche Bundestag sei doch hauptsächlich ein (negativ verstandenes) Redeparlament.
Dieser Kritik können wir selbstbewußt entgegentreten und mit Hinweisen auf unsere parlamentarische Arbeit begegnen. Schließlich ist der Deutsche Bundestag im besten Sinne des Wortes ein Arbeitsparlament. Wir stellen uns den Problemen der Bürgerinnen und Bürger und arbeiten hart an vernünftigen, tragfähigen Lösungen. Wie in anderen Parlamenten wird jedoch ein Großteil der Arbeit des Deutschen Bundestages - die Sitzungen der Ausschüsse, die Enquete-Kommissionen etc. - für die Öffentlichkeit nicht sichtbar. Um diesem Manko abzuhelfen, hat der Deutsche Bundestag in der 13. Legislaturperiode wichtige Reformen beschlossen. Zu festgelegten Terminen werden nun Fragestunden der Abgeordneten an die Bundesregierung und vor allem Debatten zu Themen von öffentlichem Interesse im Fernsehen übertragen. Ich plädiere in diesem Zusammenhang ebenfalls für mehr öffentliche Ausschusssitzungen. Auch sie können zu einer höheren Transparenz der Arbeit unseres Parlamentes beitragen. Diese öffentliche Wahrnehmung als Arbeitsparlament kann unseren Bürgerinnen und Bürger die Problemnähe der parlamentarischen Demokratie und das Engagement der gewählten Volksvertreter vor Augen führen. Im Zusammenhang der gängigen Parlamentskritik gilt es aber ebenso die Verantwortung der Medien stärker herauszustellen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages stehen naturgemäß häufig in der Kritik und sie stellen sich dieser Kritik. Pauschale Vorwürfe gegen das Redeparlament und billige Polemik gegen die Bezahlung von Abgeordneten schaden dagegen dem Parlamentarismus insgesamt. Diese spezifische Verantwortung der Medien für die Vermittlung der parlamentarischen Demokratie sollte angesichts der Tendenz zur Skandalisierung und reinen Personalisierung von Politik stärker betont werden. Als Mittel steht uns Parlamentariern dazu nur der Dialog mit den Medien zur Verfügung.
Natürlich bleibt die Parlamentsreform eine permanente Aufgabe. Am Ende des 20. Jahrhunderts muss die parlamentarische Demokratie dabei mehr denn je ihre Fähigkeit zur Selbsttransformation (Habermas) beweisen. Dies gilt um so mehr, als die nationalen Parlamente in wachsendem Maße Zuständigkeiten einbüßen. Dies gilt im Fall der Bundesrepublik Deutschland zum einen hinsichtlich der wachsenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Zum anderen ist dies eine natürliche Folge der Globalisierung, aber ebenso der übernationalen Dimension der Probleme z.B. bei Umweltfragen, im wirtschaftlichen oder im sicherheitspolitischen Bereich. Auf diese Notwendigkeit supranationaler Problemlösungen müssen die parlamentarischen Demokratien angemessene Antworten finden.
Schließlich wird diese Konferenz sich auch mit den Beziehungen zwischen Judikative und Legislative beschäftigen. Dieses Verhältnis ist in anderen Ländern nicht immer unproblematisch. Dabei wird z.T. die Frage nach dem eigentlichen Gesetzgeber aufgeworfen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es auf diesem Gebiet eine Besonderheit durch die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Seine Stellung spiegelt sich auch im hohen Ansehen, das dieses Gericht genießt. Es stellt in dieser Hinsicht Parlament und Politiker deutlich in den Schatten. Hintergrund von Diskussionen ist der Umstand, dass die parlamentarischen Minderheiten in der Vergangenheit so oft das Verfassungsgericht angerufen haben, dass der Eindruck entstanden ist, politische Entscheidungen sollten auf die juristische Ebene abgeschoben werden. Andererseits gibt es Kritik, das Verfassungsgericht gehe häufig über den Auftrag hinaus zu prüfen, ob Gesetze verfassungsgemäß sind, indem es dem Gesetzgeber konkrete Auflagen macht.
Sicherlich ist das Verhältnis zwischen verfassungsrechtlicher Kontrolle, die das oberste Gericht ausüben muß, und sachpolitischer Entscheidung immer wieder eine Gradwanderung. Selbstverständlich ist ein Parlament in seinem Selbstverständnis berührt, wenn höchstrichterliche Vorgaben seinen Spielraum als Gesetzgeber unzulässig einschränken. Die Verfassungsrichter betonen dagegen immer wieder, dass ihre Urteile dem Parlament große Gestaltungsmöglichkeiten lassen würden. Diese Diskussion wird in Deutschland sicher fortgesetzt, weil dieser Konflikt im Grundgesetz angelegt ist.
Ich habe hier über einige deutsche Erfahrungen berichtet. Die Tatsache, dass die Probleme der Parlamente in vielen Ländern - gerade im Hinblick auf die genannte Globalisierung - ähnlich sind, macht darauf aufmerksam, dass wir die internationale Zusammenarbeit der Parlamente künftig wesentlich ausbauen und verbessern sollten. Der Deutsche Bundestag hat gerade in den letzten Jahren intensiv von den Erfahrungen anderer Parlamente zu lernen versucht. Den engen und freundschaftlichen Kontakten zur Knesset verdanken wir dabei viel. Diese konstruktive Zusammenarbeit gilt es weiterzuentwicklen - mit dem Ziel gemeinsamer Lösungen und wachsender Verbundenheit. Hierzu wird auch diese internationale Konferenz beitragen. Ich wünsche ihr fruchtbare Diskussionen und konkrete Handlungsanstösse in unsere Parlamente hinein.