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Debatte
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Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Stefan Schwarz, CDU/CSU Marita Sehn, FDP >>

Wir führen eine gute Debatte, bei kontroversen Positionen. Wir haben die Chance zu mehr Verständnis und zu mehr Einheit uns heute erarbeitet. Lassen wir uns nicht durch Worte über »Spaltung« verunsichern, reden wir von Teilen und Zusammenwachsen.

Es geht hier vor allem um das Zusammenwachsen der Deutschen und um die Glaubwürdigkeit unserer Positionen.

Ich stamme aus dem Rheinland, bin der jüngste Abgeordnete aus Rheinland-Pfalz. Ich habe hier kein Haus, dafür aber viele Freunde und Menschen, die mir wichtig sind. Ebenso eine Menge Freunde, darunter ganz persönliche, in Berlin -- wie auch in Thüringen, in Sachsen und anderen Regionen Ostdeutschlands. Auch vor denen verantworte ich meine Entscheidung.

Jahrelang bin ich mit meinen politischen Freunden nach Berlin -- übrigens früher nach Leipzig, wo im Jahr 1989 mehr Geschichte von Menschen geschrieben wurde -- gefahren, um für Freiheit und Menschenrecht zu demonstrieren.

Ich war in der DDR, bevor die Mauer fiel. Es gab Einreiseverbot der SED-Machthaber. Nach dem Fall der Mauer ging es wieder zu Freunden nach Berlin, um beim demokratischen Aufbruch der Menschen in der DDR zu helfen, dann auf Bitten eines Freundes, einem Berliner, noch einmal nach Berlin und Strausberg, um mitzuhelfen, daß die Deutsche Einheit gelingt.

Es ist eine Frage von persönlicher Glaubwürdigkeit, den Beitrag zu leisten, um die Einheit aller Deutschen zu vollenden.

Die jungen Deutschen haben -- Gott sei Dank -- ein so tief verankertes, natürliches Verhältnis zu einer gelassenen Demokratie, daß es beruhigen sollte für die Zukunft Deutschlands und für die Zukunft Europas.

Dieses Verständnis der jungen Deutschen ist auch deshalb so wertvoll, weil es ohne aufgeblasenen Pomp auskommt, weil es ein sehr natürliches Verhältnis zur Demokratie dokumentiert.

Ich möchte hier -- gerade nach der Kritik von Herrn Kollegen Schäfer -- noch einmal unterstreichen: Die ganz überwiegende Mehrheit meiner Alterskollegen in Deutschland will Bonn als Sitz des Parlaments und damit auch der Regierung. Das sind normale, junge Deutsche -- und keine halbseidenen Typen. Ich weiß nicht, woher Sie das haben, Herr Kollege Schäfer, hier alle jungen Deutschen zu seidenen oder halbseidenen Typen zu erklären und sie nur mit den Seychellen in Verbindung zu bringen. Das hat mehr mit der Cocktail-Wirklichkeit der hohen Schule der Diplomatie zu tun als mit den jungen Deutschen von Schwerin bis Garmisch.

Wir identifizieren uns tief mit der Bonner Demokratie: mit Demokratie, mit Europa, mit sozialer Gerechtigkeit und mit Deutschland als Ganzem in seiner undramatischen, föderalen Struktur. Wer an die Zukunft denkt und hier gar von einer Zukunftsentscheidung für Deutschland spricht, der sollte dies bitte sehr ernst nehmen. Ein wichtiger Teil von Deutschlands Zukunft, nämlich Deutschlands Jugend, ist klar und eindeutig für Bonn. Und das mit Idealen, die wertvoll sind für ganz Deutschland.

Und es ist meine konkrete Erfahrung: Diese Einstellung gilt nicht nur für meine Freunde im Westen Deutschlands; ich höre dasselbe erfreulicherweise auch aus Erfurt, aus Thüringen, aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt und anderen Regionen Deutschlands, die ehemals zur DDR gehörten.

Und heute entscheiden wir nicht nur nach unseren eigenen Erfahrungen, sondern auch für diejenigen, die heute nicht in diesem Parlament sitzen und die Zukunft Deutschlands und Europas bauen werden.

Wir haben übrigens auch hier bemerkenswert undramatische und dadurch um so eindringlichere Beiträge aus den neuen Ländern gehört, die aus ihrer Sicht gute Gründe für Bonn ins Feld geführt haben. Für diese Beiträge bin ich in dieser zeithistorischen Debatte besonders froh.

Ich bin Deutscher, aber ein europäischer, ein gesamteuropäischer. Wir wollen die demokratischen Vereinigten Staaten von Europa, vom Süden bis zum Norden, vom Westen bis zum Osten, d. h. von Irland bis zum Baltikum, von Portugal bis nach Finnland. Aber ich will keine falsche Verschiebung des Koordinatensystems. Wir jungen Deutschen wollen die Zukunft Gesamteuropas bauen, wir wollen unsere Zeit nicht mit allzuviel Nostalgie oder gar Glanz und Gloria vertun. Wir haben oft in Berlin demonstriert für das »Symbol Berlin«, für das Symbol »Freiheit«, für das Symbol »Selbstbestimmung«, für das Symbol »Menschenrechte«, nicht für die Symbole des alten Berlin.

Ich habe mich durch die Einheit geändert, habe geteilt und will weiter teilen. Ich will, daß wir Deutschen uns wandeln; wir sind ja auch dabei.

Aber ich will eine gewandelte, keine andere Republik als die, die mir und vielen meiner Freunde in Ost und West als Ideal gilt.

Ich will noch etwas über die Glaubwürdigkeit sagen. Vorweg gilt: Glaubwürdigkeit fängt bei jedem einzeln an. Dazu gestatten Sie mir eine kritische Anmerkung: Einige, die hier reden, auch solche, die von Glaubwürdigkeit reden, müssen sich fragen lassen, was sie denn vor der Maueröffnung -- oder sogar danach alles gesagt haben.

Die unglaubwürdigsten Plädoyers halten für mich diejenigen, die bis vor wenigen Monaten im November 1989 von der besonderen politischen Einheit Westberlin gesprochen und alles getan haben, um die freiheitliche Entwicklung dieser Stadt zu torpedieren.

Ich komme zur historischen Glaubwürdigkeit, zum Argument der Geschichte. Hier wird viel von Geschichte geredet. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat doch von 1989 bis 1991 mindestens soviel Geschichte gegeben wie in den letzten 25 Jahren zuvor. Diese Geschichte hat doch nicht weniger Wert, weil sie atemberaubend schnell geschah -- sie hat doch dadurch eher wesentlich mehr Gewicht!

Wer hat denn 1949, 1969 oder in den 80er Jahren die geschichtlichen Prozesse prophezeit, die in den darauffolgenden Jahren eingetreten sind, z. B. das Jahr 1980:

Geburt der Solidarnosc, mit historischen Ergebnissen in den 80er Jahren bis hin zum Grenzvertrag und, fast noch wichtiger, dem Freundschaftsvertrag, den doch wieder alle, zu Recht, als »historisch« bezeichnet haben, Sacharow, der große Mann der Demokratisierung der Sowjetunion, Gorbatschow, der sowjetische Präsident, der die Demokratisierung der Sowjetunion eingeleitet hat, Boris Jelzin, das erste freigewählte Oberhaupt der Russen in über 1 000jähriger Geschichte, Vaclav Havel -- vom Häftling zum Präsidenten --, Ungarn, die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die Demokratisierungswelle in ganz Ost-, Mittel- und Südosteuropa: Das alles ist dichteste Geschichte!

Und 1990? Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der Einigungsvertrag, der Abzugsvertrag mit den Sowjets, die KSZE-Konferenz in Paris, mit der aktuellen Folgekonferenz in Berlin: Dies alles ist auch dichteste Geschichte.

Wir sollen hier nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Dazu gehört ganz entscheidend das Wissen.

Wer die Geschichte beansprucht, der hat nicht das Recht, sich auf 1949 allein zu beziehen, sich allein auf die Teile bis 1989 zu beziehen, und dabei nur das wahrzunehmen, was in die eigene Argumentation paßt.

Dies wäre ein falsches Geschichtsverständnis.

Die Frage hier lautet: Warum muß es »Alles oder nichts« heißen?

Bonn will wirklich teilen -- um des Landes willen, von dem wir hier reden.

Es sind oberste Verfassungsorgane, die nach Berlin sollen. Diese Verfassungsorgane als Etikettenschwindel zu bezeichnen ist unglaublich und unwürdig:

Das oberste Verfassungsorgan, der Bundespräsident, die dazugehörige Bundesversammlung, den Bundesrat als die wirksame, mächtige Vertretung der Länder sollen nach Berlin. Der weitere Ausbau der echten Funktion als echte Hauptstadt und dann noch die selbstverständlichen regelmäßigen Tagungen des Bundestages in der Hauptstadt sind keine Dreingaben, sondern der ehrliche Versuch, der Hauptstadt aller Deutschen neben dem kulturellen und ökonomischen Rang auch die politische Glaubwürdigkeit einer Hauptstadt zu geben. Dies ist schon ein Kompromiß, weil es ein Teilungsmodell zwischen Bonn, Berlin und den neuen Ländern ist.

Der Geißler-Vorschlag gefährdet die Arbeitsfähigkeit des Herzstücks der Demokratie. Wer sich die Masse der Unterzeichner anschaut, der erkennt: Dies ist eine Auffanglinie und eine Rutschbahn für Berlin. Danke, Wolfgang Schäuble, danke, Wolfgang Thierse, danke, Norbert Blüm, danke, Rita Süssmuth: Dies war offen und ehrlich Position bezogen. Bleiben wir offen und transparent.

Die Bundesrepublik bleibt ein starker Bundesstaat; sie lebt aus den Bundesländern, nicht aus der Hauptstadt.

Das entspricht vor allem dem wirklichen Leben und dem Lebensgefühl der Menschen in Deutschland, die in übergroßer Mehrheit eben nicht in den großen Städten, sondern vielmehr in menschlich überschaubaren, kleineren Städten und Dörfern leben.

Es gibt mehr als ein gesamtdeutsches Argument für Bonn.

Aber die sich langsam schließende Wunde der Teilung kann doch nicht heilen, wenn eine in dieser wichtigen Zeit der deutschen Geschichte so unendlich wichtige Region jetzt durch Mißachtung abgestraft wird. Auch das wäre ein Symbol, und ein Fanal dazu.

Der wichtige, in den letzten Wochen arg strapazierte und leider auch inflationierte Begriff »Glaubwürdigkeit« besteht aus den Worten »Glaube« und »Würde«.

Ich will fragen: Erweisen wir uns dem würdig, woran die Menschen in der ehemaligen DDR geglaubt haben, als sie zu den Demonstrationen gingen -- zuerst in Leipzig übrigens, erst am Ende in Berlin? Erweisen wir uns derer würdig, die bei der Volkskammerwahl und bei der ersten freien gesamtdeutschen Wahl klar an den demokratischen Weg der Bundesrepublik geglaubt haben? Ging es denn dort um Berlin, oder ging es nicht vielmehr um die Grundrechte, die sozialen Chancen und das persönliche Glück der Deutschen in der ehemaligen DDR? Ist es nicht so, daß diejenigen, die an »die aus Bonn« geglaubt haben, viel drängendere, in der Abwägung klar vorrangigere Anfragen an uns haben als die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung?

Haben diese Menschen nicht zuallererst den Anspruch darauf, ihr persönliches Glück zu machen, und dabei auf unsere konkrete Hilfe?

Ich halte das für die Vollendung der Einheit für ganz wesentlich. Ich habe die Befürchtung, daß wir uns allzusehr in das Symbol Berlin flüchten würden und dabei das Wesentliche glauben getan zu haben.

Deshalb kann es doch nicht um Bonn und Berlin gehen, wir müssen uns doch dem Glauben und der Hoffnung, die in unsere Politik hineingegeben wurden, als würdig erweisen.

Wir brauchen doch jede Faser unserer Kraft, um die Hoffnungen der Menschen zu erfüllen: Arbeit, Wohnung, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Engagement gegen die alten Seilschaften, Wiedergutmachung begangenen Unrechts, Integration im Menschlichen wie im Allgemeinen. Das bedeutet für mich Einigkeit und Recht und Freiheit für alle Deutschen.

Eine tschechische Zeitung merkt heute -- kurzgefaßt -- zu unserer Debatte an: »Bonn hat angeboten, Institutionen abzugeben, was die Berlin-Befürworter nicht akzeptieren. Der Umzug kostet Milliarden, Berlin hat nicht die notwendige Kapazität, es wird schwerer, Ostdeutschland zu entwickeln«. Die Zeitung kommt zu dem Schluß: »Rein rationell« -- das heißt hier nicht: rational -- »bliebe es am besten so, wie es ist«.

Ich will teilen. Denn ich glaube an die Vollendung der Deutschen Einheit durch aktive Hilfe, durch zwischenmenschliches Zusammenwachsen. Das bedeutet harte Arbeit, ist der unbequemere Weg, wie so oft aber sicher der richtige.

Viel wichtiger als die Frage, von wo wir etwas tun, ist die Frage, was wir tun.

Mein Herz für die Deutschen insgesamt, mein Verstand für die vor uns stehenden Probleme und mein Verständnis von Demokratie haben mich zu der Überzeugung geführt: Befürworten wir das Teilungsmodell, die bundesstaatliche Lösung. Stimmen wir für Bonn!

Marita Sehn, FDP >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_190
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