> Dossier > Der Ältestenrat
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Vom Clubgespräch zur Verfassungsfrage
Ohne Ordnung und Lenkung funktioniert kein Parlament. Diese Erfahrung haben nicht erst die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gemacht. Schon ihre Ahnen im ersten gesamtdeutschen Parlament, der Frankfurter Nationalversammlung von 1848, merkten rasch, dass erfolgreiche parlamentarische Arbeit ohne ein Minimum an Organisation unmöglich ist.
Bei der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche waren viele Strukturen und Gremien, die heute den Bundestag auszeichnen, noch nicht oder nur ansatzweise ausgeprägt. Die Abgeordneten hatten sich noch nicht zu festen und geschlossenen Fraktionen zusammengefunden. Sie bildeten eher lockere Clubs, die ihre Namen nach den Gaststätten erhielten, in denen sie tagten, etwa „Cafe Milani“, „Donnersberger Hof“ oder „Casino“. Die 585 Abgeordneten der Paulskirche galten als Honoratiorenparlament, das weniger parteipolitische als individuelle Interessen verfolgte.
Doch schon nach wenigen Sitzungen kam der Ruf nach vorausschauender Steuerung auf. Zunächst versuchte man, das Durcheinander durch Absprachen zwischen den Clubs zu ordnen; doch diese erwiesen sich als zu allgemein und unzuverlässig. Deshalb entstand die so genannte Neunerkommission, die aus je drei Vertretern der wichtigsten Clubs bestand und Tagesordnung, Ablauf und Form der Paulskirchen-Versammlung regelte. Der erste interfraktionelle Ausschuss zur Regelung des parlamentarischen Geschäftsverfahrens in der deutschen Parlamentsgeschichte war geboren.
Weiterentwickelt wurde das Zentraldirektorium, wie man die Neunerkommission der Nationalversammlung auch nannte, nach dem Scheitern der Paulskirche im Seniorenkonvent des Preußischen Abgeordnetenhauses. Zwar ist in dessen Geschäftsordnung formal vom Seniorenkonvent nirgends die Rede – sein „Gründungsjahr“ wird allerdings im Allgemeinen auf das Jahr 1867 festgelegt. Unter einem eigenen Vorsitzenden trafen sich im Seniorenkonvent regelmäßig die Parteiführer, die damals zugleich Fraktionsführer waren, um Tages- und Redeordnungen festzulegen oder über Größe und Besetzung von Kommissionen – wie die Ausschüsse damals genannt wurden – zu befinden. So wirkte der Seniorenkonvent zwar außerhalb der verfassten Organisation des Parlaments, bestimmte aber gleichwohl dessen Arbeit wesentlich mit. Seine Entstehung zeigt, wie sich durch die parlamentarische Praxis das Parlamentsrecht entwickelte.
Im kaiserlichen Reichstag des 1871 ausgerufenen Deutschen Reiches blieben die Aufgaben des Seniorenkonvents die gleichen wie zuvor: In ihm wurden die Größe der Kommissionen und die Stellenanteile der Fraktionen festgelegt, Minderheitenrechte verabredet, der parlamentarische Arbeitsplan des Reichstages und die Rednerlisten vereinbart. Wie sein Vorgänger trat der Seniorenkonvent nicht offiziell als Parlamentsorgan in Erscheinung und fand in der Parlamentsordnung keine Verankerung. Eine rechtliche Bindung hatten seine Vereinbarungen also nicht, dennoch wurden sie im Parlamentsalltag eingehalten.
Ursprünglich bestand der Seniorenkonvent aus je einem Vertreter jeder zugelassenen, das heißt geschäftsordnungsmäßig konstituierten Reichstagsfraktion. Seine Gesamtstärke betrug fünf bis zehn Mitglieder. Später, am Ende des kaiserlichen Reichstages, wuchs er auf bis zu 30 Mitglieder an. Zu den Sitzungen, denen ab 1899 der Reichstagspräsident (zuvor war es einer der Vizepräsidenten) vorstand, entsandten die Fraktionen meist ihren Vorsitzenden. Mehrheitsbeschlüsse wurden hier nicht gefasst. Vielmehr wurde gerade bei Fragen des parlamentarischen Prozederes nach dem Konsensprinzip verfahren.
Macht und Einfluss des immer noch informellen Seniorenkonvents wurden allerdings zu Beginn des 20. Jahrhunderts so groß, dass der Ruf lauter wurde, ihn aus seiner inoffiziellen Stellung herauszuholen und zu einem Rechtsinstitut zu machen, das dem Parlament verantwortlich ist und durch klare Regelungen der Geschäftsordnung in seinen Machtbefugnissen begrenzt wird.
Im Reichstag der Weimarer Republik war es so weit. In der neu geschaffenen Geschäftsordnung vom 12. Dezember 1922 wurde der Seniorenkonvent nun unter dem Namen Ältestenrat zu einem ordentlichen Gremium, seine Rechte und Aufgaben genau umrissen. Im Ältestenrat kamen führende Vertreter der Fraktionen – unter ihnen zumeist die Fraktionsvorsitzenden – zusammen, um über wichtige verfahrens- und organisationstechnische Fragen einen Konsens zu erzielen.
Die immer wichtiger gewordene Parlamentsarbeit sollte nicht durch Auseinandersetzungen um Verfahrens- und Tagesordnungspunkte blockiert werden.
Der Ältestenrat des Reichstages der Weimarer Republik setzte sich aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und weiteren 21 von den Fraktionen benannten Abgeordneten zusammen. Zu seinen Aufgaben gehörte die Unterstützung des Präsidenten bei der Führung der Geschäfte, die Verständigung über den Arbeitsplan des Reichstages sowie über die Verteilung der Stellen der Ausschussvorsitzenden und ihrer Stellvertreter – allesamt Aufgaben, die auch heute dem Ältestenrat des Bundestages obliegen. Neben dem Ältestenrat gab es den Vorstand des Reichstages, bestehend aus dem Reichstagspräsidenten, seinen Stellvertretern und den Schriftführern. Der Vorstand war für den Entwurf des Haushaltsplanes des Reichstages, für die Verwendung der Räume sowie für andere interne Angelegenheiten des Reichstages zuständig. Im heutigen Bundestag sind diese Aufgaben dem Ältestenrat zugeordnet.
Ältestenrat und Geschäftsordnung des Reichstages sahen sich wie andere Institutionen der Weimarer Republik angesichts der nationalsozialistischen Machtübernahme in Frage gestellt. Doch trotz aller Anfechtungen erwiesen sich diese beiden Einrichtungen als so überzeugend, dass sie nach dem Ende der NS-Herrschaft 1949 vom Ersten Deutschen Bundestag fast unverändert übernommen wurden. Damit war der Ältestenrat im ersten frei gewählten Parlament nach dem Krieg installiert.
Natürlich hat das Parlament den Arbeitsrahmen des Ältestenrates seitdem mehrfach angepasst. Aber seine zentralen Aufgaben sind geblieben – wie auch sein Anspruch, möglichst still, unaufgeregt und unspektakulär zu arbeiten. So tagt man nach wie vor hinter verschlossenen Türen. Beobachter von außen oder gar Fernsehkameras sind nicht zugelassen. Die Protokolle der Beschlüsse und Vereinbarungen des Ältestenrates werden erst mit einer Sperrfrist von drei Legislaturperioden freigegeben – und auch dann nur zur wissenschaftlichen Verwertung.
Dennoch dringen hin und wieder Informationen über besonders spektakuläre Sitzungen nach außen. Hoch her etwa ging es im Ältestenrat am 18. Oktober 1984, als er nachträglich über die Ordnungsmaßnahmen des amtierenden Sitzungspräsidenten Richard Stücklen (CSU) gegenüber den grünen Abgeordneten Jürgen Reents und Joschka Fischer debattierte. Stücklen hatte beide an jenem Tag von der weiteren Teilnahme an der Plenarsitzung ausgeschlossen. Reents, weil er im Plenum behauptet hatte, der Weg von Bundeskanzler Kohl an die Spitze seiner Fraktion und Partei sei von Flick „freigekauft“ worden; Fischer wegen „permanenten Störens“. Für den eigentlichen Eklat hatte Fischer allerdings gesorgt, als er nach Schluss der Sitzung Stücklen zurief: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Solche „Anrede“ hatte es bis dato noch nie im Bundestag gegeben. Kein Wunder, dass auch im Ältestenrat die Wogen hoch gingen.
Zu einer heftigen Auseinandersetzung kam es auch Anfang der 90er Jahre im Bonner Bundestag: Die damalige Oppositionsfraktion der SPD und das Regierungslager aus CDU/CSU und FDP gerieten in einen heftigen Schlagabtausch, der bis nach Mitternacht dauerte. Der Anlass: Die amtierende Sitzungspräsidentin Renate Schmidt (SPD) hatte in einer leidenschaftlichen Bundestagsdebatte versucht, zu verhindern, dass nacheinander mehrere Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates das Rederecht verlangen und wahrnehmen konnten. Sie beriefen sich dabei auf das Grundgesetz: Nach Artikel 43 der Verfassung, so ihre Begründung, müssten sie „jederzeit“ gehört werden.
Viele Stunden stritt der Ältestenrat hitzig über das Redeprivileg von Regierungs- und Bundesratsmitgliedern. Am Ende gab er Renate Schmidt Recht: „Jederzeitiges“ Gehör könne und dürfe nicht bedeuten, dass es zu einer Aneinanderreihung von Wortmeldungen „Redeprivilegierter“ komme. Nach der parlamentarischen Redeordnung, in die diese bei der Rednerfolge eingebunden seien, solle jedenfalls nach zwei Redeprivilegierten auch der Abgeordnete wieder das Wort haben. Damit hatte der Ältestenrat eine wichtige Verfassungsinterpretation vorgenommen.
Text: Sönke Petersen
Fotos: Picture-Alliance
Erschienen am 29. Juni 2005