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September 03/1998
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"Es gibt keine für Menschen unwürdige Armut in Deutschland"

(fa) 12 Prozent der Kinder und Jugendlichen in den alten Bundesländern und 22 Prozent im Osten sind nach dem zehnten Kinder- und Jugendbericht (13/11368) in sozialer Bedrückung. Wer sich dann, so Rolf Schwanitz (SPD) in der Debatte am 2. September, "hinstellt und herumfilibustert, ob es sich um arm oder um einkommensschwach oder irgend etwas anderes handelt, ist schlichtweg unakzeptabel". Zuvor hatte Parteikollege Rudolf Dreßler erklärt, die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte, habe in der Diskussion um den Bericht in "einem ihrer bekannten intellektuellen Höhenflüge" das neue Armutsverständnis der Bundesregierung bekannt gemacht. Sinngemäß habe sie gesagt, Armut sei nie allein eine Frage des zu geringen Einkommens. Es stelle sich vielmehr auch die Frage, ob Betroffene in der Lage sind, mit geringen Einkommen umzugehen. Laut Dreßler neigen nun "intellektuell weniger Begabte" dazu, solche Gedankengänge in eine etwas volkstümlichere Sprache zu bringen. In der volkstümlichen Fassung besage der Satz der Ministerin nichts anderes, als daß arm nicht der sei, der zuwenig habe, sondern der, der zu dumm sei, damit umzugehen.

Armut relativer Begriff

In ihrer Reaktion auf die Aussagen der Opposition betonte Ministerin Claudia Nolte (CDU), Armut sei ein relativer Begriff. Nach Berechnungen von Wirtschaftsstatistikern übertreffe der Lebensstandard eines deutsche Sozialhilfebeziehers den jedes zweiten Europäers. Auch seien die verfügbaren Haushaltseinkommen von Sozialhilfebeziehern in den letzten Jahren stärker gestiegen als die des Durchschnitts aller Haushalte. Natürlich müsse ein Sozialhilfeempfänger mit jedem Pfennig rechnen. Doch menschenunwürdige Armut gibt es der Ministerin zufolge in Deutschland nicht mehr.
In ihrem Bericht hatte die zuständige Kommission eine Definition für Armut zugrunde gelegt, die eine Armutsschwelle bei der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens der Bevölkerung annimmt. Diese Definition gebe, so Nolte in ihren Ausführungen, Einkommensrelationen wieder. Aber gerade dieser Begriff tauge eben nicht für eine Armutsdefinition; und dies müsse auch gesagt werden dürfen, wenn eine Definition von einer Expertenkommission vorgelegt werde, die von einem selbst berufen worden sei.
Der Unionspolitiker Heiner Geißler betonte in seiner Rede, Sozialhilfe sei kein Beweis für Armut. Sie verhindere sie. Aber Sozialhilfe sei sehr wohl ein Indiz dafür, daß sich etwas in der Gesellschaft verändert habe, was korrigiert werden müsse. Das Problem der Kinderarmut müsse nun von allen miteinander beraten und gelöst werden, der Bund dort, wo er die Verantwortung trage und die Länder dort, wo sie verantwortlich seien.
Unterstützung bekam die Ministerin aus den Reihen der F.D.P.. Nach Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist im Vergleich der letzten zehn Jahre, nimmt man den Bezug von Sozialhilfe oder die umstrittene Definition der Expertenkommission als Kriterium, der Anteil an armen Menschen in den alten Bundesländern gesunken. 1988 sei die Situation in den alten Ländern schlechter gewesen als heute. Aber natürlich müsse auch die Entwicklung in den neuen Ländern beachtet werden. Dort habe tatsächlich eine entgegengesetzte Entwicklung stattgefunden. Eine seriöse Betrachtung müsse jedoch beides berücksichtigen.

Etikettenschwindel

Für Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen hat die Bundesregierung in den letzten Jahren einen Etikettenschwindel betrieben. Statt den Familienlastenausgleich noch so zu nennen, sei er in Familienleistungsausgleich umbenannt worden. Zudem habe die Kommission ganz klar festgestellt, daß in den 80er und 90er Jahren der Spielraum der Familien durch sämtliche Reformen des Einkommens- und Steuersystems eingeengt statt erweitert worden seien. Natürlich sei das Kindergeld erhöht worden, allerdings nur, "weil die Regierung den Familien wenigstens einen Teil dessen zurückgeben mußte, was sie ihnen vorher aus der Tasche gezogen hat". Die Bündnisgrünen sähen, so Grießhaber, in diesem Bericht sehr viele ihrer Forderungen durch die Ergebnisse der Sachverständigen bestätigt, so zum Beispiel ihre Forderung, das Kindergeld auf 300 DM zu erhöhen. Zudem soll nach dem Willen der Bündnisgrünen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker gefördert werden. Um ihren Forderungen mehr Gewicht zu verleihen, brachte die Fraktion einen Entschließungsantrag (13/11398) in die Debatte ein, der wie auch der Bericht selbst an den zuständigen Ausschuß überwiesen wurde.

PDS: 660 DM Kindergeld

Ein bedarfsdeckendes Kindergeld von sogar 660 DM monatlich forderte die PDS. Petra Bläss erklärte dazu, diese im Rahmen eines Konzeptes für bedarfsorientierte soziale Grundsicherung entwickelte Forderung sei durch den Kinder- und Jugendbericht bestätigt worden, da dieser die Erhöhung des Existenzminimums für Kinder auf 7500 DM jährlich fordert.
In der vorangegangenen Sitzung des Fachausschusses hatte die Opposition ihr Unverständnis darüber geäußert, daß der Bericht erst in der Woche zuvor dem Parlament vorgelegt worden war. Dies könne, so die Sozialdemokraten, auch nicht damit entschuldigt werden, daß die Untersuchungen zum Bericht länger gedauert hätten als vorgesehen und dieser deshalb verspätet der Regierung zugestellt worden sei, zumal das Familienministerium ihn bereits seit Februar habe. Damit hätte die Regierung die Möglichkeit gehabt, einer Diskussion über den Bericht mehr Zeit und Raum zu geben, wenn dieses gewünscht worden wäre. Außerdem ist es laut Bündnis 90/Die Grünen völlig unverständlich, warum es erst einer "Aufschreiwelle in der Öffentlichkeit" bedurfte, um eine parlamentarische Diskussion in dieser Legislaturperiode überhaupt noch zu ermöglichen. Erst zu Beginn der Ausschußsitzung hatte sich auch die Koalition dazu bereit erklärt, diese öffentlich abzuhalten.
Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9803/9803051
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