Der Kommunikative
„Politik ist nicht unterhaltend und nicht schnell. Aber sie muss kommunikativ sein“, sagt der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse.
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Wolfgang Thierse in der Gethsemanekirche. |
Zu Beginn einer jeden Legislaturperiode wählen die
Abgeordneten das Bundestagspräsidium. Es besteht aus dem
Präsidenten und in der Regel so vielen Stellvertreterinnen und
Stellvertretern, wie es Fraktionen gibt. Sie alle entscheiden
über Angelegenheiten, die die Leitung des Hauses betreffen,
und sitzen abwechselnd den Plenarsitzungen vor. Eine Ehre ist es,
diesem Gremium anzugehören, und eine Herausforderung
dazu.
Wer aber sind die Menschen, die diese Herausforderung annehmen?
Das Büro des Bundestagspräsidenten erinnert an ein Gelehrtenzimmer, zumindest bedient es alle damit verbundenen Erwartungen. Es gibt ganz sicher ein System, das sich der Betrachterin allerdings nicht offenbart. Vermeintlich willkürlich wachsen die Stapel aus Akten, Büchern, Zeitschriften, Prospekten, Papieren, Mappen, Notizzetteln in Höhen und Tiefen. Wolfgang Thierse sagt, er wisse genau, was sich wo verberge. Stünde etwas mehr Zeit zur Verfügung, machte man gern die Probe aufs Exempel. Allerdings schaut der Bundestagspräsident so unbeeindruckt drein, dass man sich von vornherein auf der Verliererinnenseite wähnt.
Die Biografie des zweiten Mannes im Staate ist öffentlich und vielfach interpretiert, seit Wolfgang Thierse Politiker ist. Politisch war er schon immer, aber das interessiert die Biografen erst, wenn einer ins Licht der Öffentlichkeit tritt.
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Neugierig ist man darauf, welche Lebensstationen und Lebensereignisse Wolfgang Thierse in den Mittelpunkt einer Erzählung rückt. Und wird enttäuscht. „Ich habe keine Lust, mich selbst und mein Leben zu erklären. Ich hatte Glück, konnte in der DDR als fast Privatgelehrter in einer geräumigen Nische arbeiten. Das alles mag ich weder dramatisieren noch idealisieren. Ich muss mich meiner Biografie nicht schämen und ich will sie nicht ausstellen.“ Ein solcher Mangel an Eitelkeit macht den Schreibenden das Leben nicht leichter.
Im September 1990, als sich die sozialdemokratischen Parteien der noch existierenden DDR und der bald größer werdenden Bundesrepublik vereinigten, hielt Wolfgang Thierse, der stellvertretender Vorsitzender der SPD wurde, eine Rede. Und mit Trotz und Stolz, wie er heute sagt, formulierte er damals den Satz: „Es gab ein richtiges Leben im falschen System.“ Egal, ob man den Adorno gelesen hatte oder nicht, verstanden wurde er schon, dieser Satz, wenn auch nicht von jedem mit Zustimmung bedacht.
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„In gewisser Weise war 1989 eine Explosion in meinem Leben, eine Vervielfältigung der eigenen Möglichkeiten. Seitdem habe ich mich von einem problematisierenden, nachdenklichen Menschen zu einem problematischen Akteur entwickelt.“ Dafür hat Wolfgang Thierse immer wieder Beweise geliefert, vor allem dann, wenn er sich eingemischt hat in gesellschaftliche Diskussionen und das Recht auf freie Rede als das nahm, was es ebenso sein soll: das Recht auf freies Denken. Die Freiheit des Denkens intelligent zu nutzen und die Freiheit der Rede zum Kommunizieren zu gebrauchen, empfindet Wolfgang Thierse noch heute als den besten Zugewinn der 1989 angebrochenen Zeiten. Und er nutzt ihn weidlich aus.
„Der Teil in meiner Arbeit, der mit Kommunikation zu tun hat, macht mir Vergnügen. Nicht die Wiederholungen und nicht die Rituale. Zuhören, argumentieren, überzeugen, jemandem in die Augen schauen und mit ihm kommunizieren, das ist die angenehmste aller Tätigkeiten und die beste Herausforderung.“
Als Wolfgang Thierse im Dezember 1990 in den Bundestag kommt, hat er zu Beginn häufig das Gefühl, die Politik werde ihm diese angenehmste aller Tätigkeiten zu wenig gönnen. Die ewige Abfolge von Sitzungen und Beratungen, die häufigen Wiederholungen, die oft langsame Gangart und die rhetorischen Girlanden in der Auseinandersetzung: „Ich dachte, mir sterben die Worte im Munde weg.“
„Der Teil in meiner Arbeit, der mit Kommunikation zu tun hat, macht mir Vergnügen. Nicht die Wiederholungen und nicht die Rituale.“
Dabei sei es klar, sagt er heute, dass die Demokratie Langsamkeit brauche, ebenso wie die Wiederholung. Langsamkeit gewährleiste die Einbeziehung möglichst vieler Menschen. Politik könne nicht unterhaltend und nicht schnell sein. Obwohl es, auch das sei ihm klar, Schaukämpfe gäbe und Rituale, die dem sichtbaren und unsichtbaren Publikum gewidmet seien. Da könne ein sportives Moment nicht abgestritten werden.
Wenn der 60-Jährige die Plenarsitzungen leitet, lässt er diese sportiven Momente gern zu. Das tut dem Parlament gut, sagt er, zumal es ja wirklich sehr häufig kritisiert werde, zu langweilig zu sein.
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Den Ältestenrat, dem Wolfgang Thierse seit 1998 vorsteht, könnte solche Kritik nicht anfechten, denn ein großer Teil der Arbeit findet ohne mediale Öffentlichkeit statt. Die Verwaltung einer solch großen Institution, wie es der Bundestag ist, kann sich natürlich der Wiederholung nicht entziehen. Aber doch müssen immer wieder neue und neu Kompromisse gefunden werden. Auch hier bleiben die Dinge nicht, wie sie sind.
Als Präsident ist Wolfgang Thierse, kurz geschrieben, für den inneren Frieden zuständig und für die Moderation von Entscheidungsprozessen. „Ich habe ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit und Fairness und in meinem Kopf hat mehr als eine Meinung Platz. Ich bin zugänglich und zugewandt und lasse mich belehren, wenn es einem guten Fortgang der Dinge dient.“
Der gute Fortgang der Dinge hat für ihn auch damit etwas zu tun, die Möglichkeiten zu nutzen, die man als Politiker bekommt. Zum Beispiel jene, immer dazulernen zu können. Das sei einer der großen Vorzüge in diesem Beruf. „Ich habe in meinem früheren Berufsleben viel einseitiger gelebt. Politik hat ja die Aufgabe, erkannte Probleme des Zusammenlebens zu lösen, und zwar im öffentlichen Austausch der Argumente und in einer verständlichen Sprache. Das zwingt einen, weiterzudenken, immer mehr zu lernen, sich auf Neues einzulassen. Ich verteidige mit Leidenschaft den Ernst und die Würde, die mit der Lösung dieser Aufgabe verbunden sind.“
Wolfgang Thierse leugnet nicht die Gefahr des Abgehobenseins oder auch des Zynismus, die mit der jahrelangen Ausübung des Politikerberufes verbunden ist. In die Politik sollte deshalb nur gehen, „wer schon Persönlichkeit geworden ist“, sagt er.
Mag sein, dass in dieser Forderung die Erkenntnis enthalten ist, nur so bei sich bleiben zu können. Wenn heute jemand zu Wolfgang Thierse sagt, er rede anders und verhalte sich anders als viele andere Politiker, empfindet der studierte Kulturwissenschaftler und Germanist es als Kompliment. Anders ist etwas Eigenes, etwas, wofür man selbst geradestehen und auf das man sich verlassen darf. Wolfgang Thierse beispielsweise verlässt sich darauf, dass ihn die Neugier auf Menschen nicht verlässt, ebenso wenig wie die Fähigkeit, interessiert und zugewandt zu sein.
Seit Jahrzehnten ist Wolfgang Thierse immer um den Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg herumgezogen. Und wenn er dort, in seinem Wahlkreis, Sprechstunden abhält, wird ihm jedes Mal wieder bewusst, welches Privileg es ist, das Wort ergreifen zu können und Zuhörer zu haben. Die ins Wahlkreisbüro kommen, um ihm etwas zu erzählen, können oft davon berichten, wie schwer es ist, jemanden zu finden, der ihnen wirklich zuhört. Aber wenn man jemanden findet, werden Räume größer und Möglichkeiten tun sich auf. Und so wird die Erinnerung von Wolfgang Thierse nicht falsch sein, der in der leeren Gethsemanekirche stehend sagt: „Wenn diese Kirche voller Menschen ist, so wie es 1989 oft war, dann erscheint sie viel größer. Ist das nicht erstaunlich?“
Text: Kathrin Gerlof
Fotos: studio kohlmeier