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Das Parlament
Nr. 01-02 / 12.01.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Sabine Kebir

Die Politik steht im Zugzwang, die Perspektiven der Einwanderer möglichst bald deutlicher zu machen

Entscheidungshilfen in Konflikten der Kulturdifferenz müssen auf verschiedenen wissenschaftlichen Ebenen gesucht werden
Kampf der Kulturen oder multikulturelle Gesellschaft? Diese Alternative scheint sich nicht nur für die Weltgemeinschaft der Völker und Staaten zu stellen, sondern auch für die innere Dynamik jener Länder, die Ziel von Flüchtlingen und Einwanderern sind - wie etwa Deutschland. Ist es unausweichbar, dass die Konflikte zunehmen, oder ist Gleichheit in der Differenz doch zu verwirklichen? Die meisten Politiker würden diese Frage bejahen ohne zu bestreiten, dass es sich um ein Projekt, um einen Zukunftstraum handelt. Angesichts der Gefahr, dass sich Weltkonflikte auch hierzulande auswirken, steht die Politik im Zugzwang, die Perspektiven der Einwanderer möglichst bald deutlicher zu machen.

Die dabei auftauchenden Probleme bedürfen nicht nur wegen ihrer Vielschichtigkeit, sondern allein schon wegen der keineswegs eindeutigen Begrifflichkeiten wissenschaftlichen Beistands. Denn unter "Gleichheit in der Differenz" wird in verschiedenen Ländern des Westens Verschiedenes verstanden. Darauf hin befragt, würden wahrscheinlich die meisten Amerikaner darauf verweisen, dass sich ihr Land schon lange auf dieses Ideal zu bewegt. In der Tat muss man den Stolz auch vieler weißer US-Bürger über die einschneidenden Erfolge der Bürgerrechtsbewegung in den 60er-Jahren persönlich erlebt haben, um zu begreifen, dass sie auf ihre Weise Recht haben.

Jedoch bedeutet "Gleichheit in der Differenz" in den USA etwas anderes als in Europa: Die Formel steht für die öffentliche und gegenseitige Anerkennung der formalen politischen Bürgerrechte. Die verschiedenen ethnischen und religiösen Communities üben sich trotz ihrer kulturellen Differenzen im Alltagskontakt in gegenseitiger political correctness, prinzipiell auch dann, wenn sie wie viele Einwanderer noch keine vollen Bürgerrechte genießen. Erst seit dem 11. September leiden viele Muslime unter einer Art Kollektiverdächtigung, mit den Anschlägen etwas zu tun gehabt zu haben oder gar neue zu planen.

In den USA gilt als selbstverständlich, dass die soziale Verantwortung für das Wohl und Wehe der Einzelnen in erster Linie in der Verantwortung der Gemeinden, oft aber auch - ganz privat aufgefasst - bei ethnischen oder religiösen Communities liegt, während es eine übergeordnete, etwa bundesstaatliche Verantwortung nur in wenigen Bereichen gibt. In Europa mit seiner langen Geschichte sich kontrovers gegenüberstehender Kleinstaaten, die nicht nur einen bunten Flickenteppich von sprachlich, ethnisch und religiös sehr alten Differenzen hervorgebracht hat, sondern auch verschiedene Formen von Sozialstaaten, schwingt stets die Auffassung mit, dass Bürgerrechte nur wahrgenommen werden können, sobald die Individuen über minimale ökonomische Autonomie und Mobilität verfügen.

Diese Grundrechte hat notfalls der Staat zu garantieren. Viel empfindlicher reagiert man hier deshalb auf das Problem der sozialen Ungleichheit, das als politisches erscheint, während es die meisten Amerikaner eher als privat oder sogar naturgegeben ansehen.

Experimente der Toleranz

Auch in Europa wurde schon damit experimentiert, die sozialstaatliche Verantwortung zum Teil auf die privaten Strukturen ethnischer beziehungsweise religiöser Gruppierungen zu verlagern. Die jahrelange Toleranz gegenüber islamistischen Vereinen hatte auch den Grund, dass die globale informelle Ökonomie des Islam sowie seine traditionellen Familienverhältnisse den Staatshaushalt entlasteten. Aber diese Politik hat in Europa wenig Chancen zur Verallgemeinerung, weil der quantitative Anteil der Einwanderergruppen anders ist als in den USA. Noch ist kaum vorstellbar, dass der Kopftuchstreit in Europa nicht im Rahmen der öffentlichen Schulen gelöst wird. Auch brächte es politische Unberechenbarkeiten mit sich, wenn Muslime mit radikalen Tendenzen ausschließlich auf private Schulen verwiesen würden.

Weil sich das Problem der autonomen Verantwortung der Communities - auch aus Sicherheitsgründen - in Europa anders stellt als in den von Ozeanen umgebenen USA, entstehen in der Einwanderungspolitik Konfliktfelder zwischen privaten und öffentlichen Zuständigkeiten, deren Lösungsansätze nicht eindimensional zu finden sind. Politik ginge fehl, wenn sie sich nur auf die Anhörung so genannter authentischer Stimmen aus den Einwanderungsgruppen verließe. Authentizität ist nicht automatisch Repräsentativität.

Weil dieses Denken in den 90er-Jahren aber sehr verbreitet war, durften bekennende oder verkappte Islamisten in Deutschland auch im öffentlichen Raum immer wieder behaupten, den "wahren Islam" kompetent zu vertreten. Erst in den vergangenen Monaten ist durch Umfragen belegt worden, dass die meisten Muslime sowohl in Deutschland als auch in Frankreich das Tragen des Kopftuchs für Frauen keineswegs als religiöse Pflicht ansehen. Eine Kopftuch tragende Pädagogin empfänden viele Muslime nicht nur als Zumutung für ihre Kinder, sondern sogar als eine Art Bedrohung, die - wie in vielen islamischen Ländern - von den Islamisten gegenüber den eher säkular eingestellten Muslimen ausginge.

Allein aus diesem Beispiel ist zu erkennen, dass Politik ohne Unterstützung von Spezialisten nicht auskommt. Natürlich liegt es nahe, sich in Fragen von Islam und Islamismus bei Religionswissenschaftlern Rat zu holen, etwa auf der kulturellen Ebene einen "Dialog der Religionen" zu initiieren. Aber wie man die Eigenarten von "Europäern" keineswegs durch das Studium einschlägiger Bibelstellen erklären kann, wird man einen aus dem islamischen Kulturkreis stammenden Menschen, geschweige denn eine ganze Gruppe, nicht allein durch wissenschaftliche Analyse des Koran und seiner religiösen, politischen oder wissenschaftlichen Ausdeutungen besser verstehen.

Auch blieben bei dieser Art "Dialog" die schweigenden Mehrheiten der Muslime unberücksichtigt, deren Verhältnis zur Religion sich in eine ähnliche laizistische Richtung bewegt, wie das der meisten Europäer. Es bedarf auch historischer und soziologischer Fachkompetenz, um zu klären, wieso sich so viele Menschen aus dem islamischen Kulturkreis seit den 50er-Jahren durchaus als gläubig definieren, ohne aber den Schleier für obligatorisch zu halten. Wann und warum das Kopftuch und das lange Frauengewand in muslimischen und schließlich auch in Einwanderungsländern auftauchte und immer häufiger wurde, werden nur Historiker, Soziologen und Politologen klären können, die neben einem Gesamtüberblick auch eine Spezialisierung auf bestimmte Sprachen, Regionen und Länder haben.

Ein Teil des Problems erschließt sich, wenn man die Spuren der saudischen Entwicklungshilfe in den islamischen Ländern seit 1967 zurückverfolgt. Sie bestand vor allem im Bau von Moscheen, die nicht nur als mächtige Zentren kultureller Ausstrahlung wirkten, sondern oft zugleich als Sozialstationen tätig waren und sind. Wo staatliche Solidarsysteme versagen oder nicht existieren, müssen sich diejenigen, die auf die Hilfe der Moscheen angewiesen sind, zunächst verpflichten, den weiblichen Teil der Familie zu verschleiern. Dieser Mechanismus steckt hinter den massenhaften Wiederverschleierungen in den ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken, aber auch in Bosnien und teilweise sogar in den westlichen Ländern. Trotzdem muss auch die Möglichkeit freiwilliger Verschleierungen anerkannt werden. Sie sind es, die die politische Wertung für uns kompliziert machen.

Wenn der Einfluss von Geldquellen auf bestimmte Gruppen von Muslimen ermittelt ist, bleiben immer noch zahlreiche Gruppen unverstanden, so jene, die aus den schiitischen Regionen, besonders aus dem Iran, zu uns stießen. Begnügte man sich hier mit Informationen aus dem religionswissenschaftlichen Bereich über den Unterschied von Schia und Sunna, bliebe die weit wichtigere Tatsache unterbelichtet, dass die iranischen Emigranten meistens den gebildeten Schichten entstammen, die vor dem Islamismus des Ayatollah-Regimes geflüchtet sind.

Sowohl von ihrem Bildungstsstand als auch von ihren Überzeugungen her sind sie wesentlich leichter in das hiesige Leben integrierbar als die meist recht ungebildeten Algerier, die als Islamisten in ihrem eigenen Land verfolgt waren. In beiden Fällen handelt es sich um Muslime im Exil, die sich aber politisch kontrovers gegenüber stehen. Auf pauschalisierte Vorurteile gegenüber Muslimen werden jedoch beide empfindlich reagieren. Entscheidungshilfen in Konflikten der Kulturdifferenz müssen also auf verschiedenen wissenschaftlichen Ebenen gesucht werden.

Man muss sich nicht auf Extrembeispiele berufen wie Samuel Huntington, den Autor des "Clash of civilisations", um zu verdeutlichen, dass die Sozialwissenschaften zwar viele Einzelfakten zur Verfügung stellen, deshalb aber noch lange keine objektiven Wissenschaften sind, sondern ihre Ergebnisse immer von einem politischen Standpunkt aus, manchmal auch auf ein politisches Ziel hin organisieren. Hinsichtlich der Analyse der Einwandererkulturen sind uns die amerikanischen Universitäten voraus. Schaut man sich die einschlägigen Publikationen an, zeigt sich, dass es keineswegs nur Arbeiten gibt mit imperialen Zielsetzungen wie die von Huntington oder Bernard Lewis.

Weil die amerikanischen Universitäten auch vielen Gelehrten aus den Entwicklungsländern Arbeitsmöglichkeiten bieten, sind wissenschaftliche Positionen, die fremde Kulturen in ihrer Eigendynamik erfassen, ebenso vertreten. Verwiesen sei hier auf den bekannten Kritiker des westlichen Orientalismus, den kürzlich verstorbenenen Palestinenser Edward Said, der an der Columbia University lehrte.

Es versteht sich also, dass die politische Klasse einer demokratischen Gesellschaft auf eine möglichst vielgliedrige Wissenschaftslandschaft angewiesen ist, innerhalb derer kontroverse Ausgangs- und Standpunkte offen zur Sprache kommen. Doch selbst wenn die Politik sich auf so eine vielfältige Wissenschaftslandschaft stützt, werden Entscheidungen immer auch in Bezug zu den eigenen geschichtlichen Traditionen und künftigen Zielen getroffen.

Trennung von Staat und Kirche

Dass der eigene Standpunkt nicht der "natürliche", der "demokratische" oder der "europäische" an sich ist, zeigen nicht zuletzt die Unterschiede im Kopftuchstreit in Frankreich und Deutschland, die auch auf der unterschiedliche Geschichte und Auffassung der Trennung von Kirche und Staat beruhen. Frankreich, das bereits ein Jahrhundert lang den Ausschluss des Religiösen aus der öffentlichen Schule mit äußerster Strenge praktiziert, will das Tragen des Kopftuchs unter Minderjährigen verbieten. Man geht davon aus, dass sie es nicht aus freier Entscheidung tragen. Volljährige Studentinnen an den Universitäten dürfen das Kopftuch dagegen anlegen.

Im Gegensatz zu Frankreich konzentriert sich der Kopftuchstreit in Deutschland nur auf das Problem, ob es verschleierte Pädagoginnen geben dürfe. Da in den meisten deutschen Ländern der Religionsunterricht Teil der Schulpflicht ist, erscheint hier nicht nur das Kopftuch als selbstverständliches Minderheitenrecht, das bislang überhaupt nur in Ansätzen verwirklicht ist. Viele halten es auch für notwendig, dass der islamische Religionsunterricht in den Schulen zur Normalität wird. Dies hätte den Vorteil, dass muslimische Schüler vor radikalisierten Formen des Islam geschützt wären, würde aber diejenigen stören, die sich nach dem Vorbild Frankreichs eine konsequent laizistische Schule wünschen. Eine Berliner Initiative, die freiwilligen Arabisch-Unterricht in öffentlichen Schulen anbot, wurde sofort von vielen Eltern genutzt, die ihre Kinder sonst in private Koranschulen geschickt hätten. Leider wurde das Projekt aus Geldmangel eingestellt.

Wie solche Probleme letztlich gelöst werden, steht im Zusammenhang mit den Fragen, welche allgemeinen Leitbilder der Staat mittels seiner Beamten und Angestellten vorzugeben wünscht, welche Rolle die Kirchen in Zukunft spielen sollen, aber auch in Bezug zu unserer eigenen Geschichte im Umgang mit Minderheiten. Denn natürlich definieren die Muslime ihre Unterprivilegierung in Deutschland in Bezug zur Gleichberechtigung, die jüdische Einwanderer in Anbetracht der untilgbaren deutschen Schuld an der Shoa selbstverständlich genießen. Will es die Reste des rassistischen Paradigmas grundsätzlich überwinden, hat Deutschland nicht nur eine Bringeschuld gegenüber den Juden, sondern gegenüber jeder hier lebenden Minderheit.

Das Problem muss auch deshalb bald gelöst werden, weil in wenigen Jahren den in der EU heute noch unterprivilegierten muslimischen Einwanderen bald viele nicht mehr unterprivilegierte Osteuropäer als Konkurrenten gegenüberstehen werden. Erst wenn allen in der EU Geborenen die gleichen kulturellen, religiösen und ökonomischen Rechte zustehen, wird die demokratische Perspektive für alle vertrauenswürdig. Das bedeutet aber auch Förderung für die, die durch ihre Herkunft benachteiligt sind. Wenn sich die Politik entschlösse, die schulischen Schwächen der Kinder der ungebildeten Einwanderer gezielt auszugleichen, würde der deutschen Wirtschaft auch jener große Pool an kreativen Talenten zur Verfügung stehen, den sie so dringend benötigt. Wer das moderne dynamische Leben der Städte in der Westtürkei kennt, kann sich vorstellen, dass die Gleichberechtigung der türkischen Einwanderer zu einer ähnlichen kulturellen Bereicherung Deutschlands beitragen könnte wie einst die Emanzipation der Juden.

Wünschenswert wäre, dass sich die europäischen Länder hinsichtlich der Einwanderer nicht zu kontrovers verhalten, dass vielmehr eine aufgeschlossene Perspektive der EU insgesamt gegenüber den bereits hier Lebenden sichtbar wird. Aus meiner Sicht wäre ihre bessere Integration gegenüber weiterer Zuwanderung prioritär. Eine weniger quantitativ, sondern qualitativ argumentierende demographische Wissenschaft böte entsprechende Entscheidungshilfen.

Bislang sind nicht nur die Einwandererkulturen, sondern auch der Europäische Zusammenschluss kaum in den Schulprogrammen berücksichtigt. Während man sich noch streitet, ob die Lehrer ihr Programm aus einem enger als bislang gefassten Kanon deutschen Literaturerbes zusammenstellen sollen, müssten den Literaturwissenschaften längst Vorschläge abgefordert werden, damit jeder Schüler ein Minimum von Spitzenwerken der europäischen Literatur kennenlernt und - wegen der vielen muslimische Einwanderer - mindestens auch ein Buch eines repräsentativen Autors oder einer Autorin aus dem islamischen Kulturkreis. Es gibt keinen besseren Weg, den Muslimen zu bürgerlicher Repräsentativität zu verhelfen, als etwa die literarischen Traditionen der laizistischen türkischen Kultur auch hierzulande zur Geltung zu bringen.

Sabine Kebir arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

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