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Bartholomäus Grill
Weiße Masken auf schwarzer Haut
Fluch der Geographie, Tyrannei der Natur und
weiße Elefanten
Warum schreibt ihr so pessimistisch über
Afrika? Wieso stimmt ihr andauernd Totenklagen an? Wir
Afrika-Korrespondenten bekommen diese vorwurfsvollen Fragen oft zu
hören, und wir antworten immer gleich: Weil die
Verhältnisse so sind. Weil die Zahlen und Fakten niemanden
zuversichtlich stimmen können. Afrika ist das Schlusslicht der
Weltwirtschaft, sein Anteil am globalen Handel ist auf knapp ein
Prozent gesunken. 48 Staaten bringen es auf ein
Bruttosozialprodukt, das ungefähr dem des Schwellenlandes
Argentinien entspricht, wobei allein 40 Prozent davon auf
Südafrika entfallen. Drei Viertel der 650 Millionen Afrikaner
leben in Armut, jedes dritte Kind ist unterernährt. 30
Millionen Menschen sind HIV-infiziert oder an AIDS erkrankt. Die
durchschnittliche Lebenserwartung ist auf 48 Jahre gesunken. Die
Mehrzahl der subsaharischen Länder steht heute schlechter da
als zum Ende der Kolonialära.
Aber warum ist das so? Wieso Afrika? Auch
diese Fragen werden uns Chronisten häufig gestellt, und die
Antworten zumeist gleich mitgeliefert. Die einen glauben, die
korrupten, unfähigen Afrikaner seien ganz allein Schuld an
ihrem Elend, die anderen machen böse Außenmächte
dafür verantwortlich, die Weltbank, den Neokolonialismus, die
unfaire globale Handelsordnung. Beide Erklärungsversuche
enthalten einen Wahrheitskern - und führen zugleich in die
Irre. Denn die afrikanischen Realitäten sind komplizierter,
vielschichtiger: Nicht überall herrschen Krieg, Hunger und
Massenelend, und dort, wo von einer chronischen Krise gesprochen
werden kann, hat sie überwiegend endogene, aber immer auch
exogene Ursachen, die sich wechselseitig
verstärken.
Wer die Probleme Afrikas verstehen will, muss
sich zunächst seine Ausgangslage vor Augen halten. Der
Kontinent zählt nicht zu den Weltregionen, die von der Natur
beschenkt wurden. Seine Bewohner sind extremen
Klimaverhältnissen ausgesetzt, fruchtbares Land ist rar,
Wasser knapp. Kein anderer Erdteil wird so oft von
Naturkatastrophen heimgesucht, von Buschfeuern, Insektenplagen und
biblischen Fluten. Im Tropengürtel erschweren
Infektionskrankheiten das Leben, Malaria, Bilharziose, Gelbfieber,
Flussblindheit; entsprechend ist der Gesundheitszustand.
Zur Tyrannei der Natur kommt der Fluch der
Geographie. Die meisten Staaten Afrikas liegen im Binnenland, sie
sind abgeschnitten von den Küsten und trei-ben wie große
unzugängliche Inseln durch das Innere des Kontinents. Der
Ökonom Ricardo Hausmann spricht von der "Falle des Raumes".
Der miserable Zu-stand der Infrastruktur steigert die ohnehin
exorbitanten Transportkosten. Personen und Güter müssen
zahlreiche Grenzen überwinden, künstliche, oft
widersinnige Demarkationslinien, die europäische
Kolonialmächte einst in den Kontinent geschnitten haben.
Afrika wurde regelrecht "balkanisiert", seine Völker
Jahrhunderte lang ausgeplündert, ja ausgeblutet. Europäer
(und Araber!) lieferten sich einen Wettlauf um Gold und Diamanten,
Kautschuk und Sisal, Elfenbein, Tropenhölzer und Gewürze.
Und um Menschen.
Die Globalisierung Afrikas, seine gewaltsame
Integration in das moderne Weltsystem, begann mit dem
Sklavenhandel. 50 Millionen Afrikaner wurden verschleppt oder bei
der gnadenlosen Menschenjagd umgebracht, ein historisches Trauma,
das im kollektiven Gedächtnis der Afrikaner als Bedrohungs-
und Minderwertigkeitsgefühl fortwirkt. Der Kolonialismus hat
ihre traditionellen Produktionsweisen, Sozialstrukturen und
Werteordnungen zerstört und sie durch ein Zwangssystem
ersetzt, das ausschließlich europäische
Wirtschaftsbegierden stillte.
Nach 100 Jahren Plünderei zogen die
Kolonialherren ab. Sie hinterließen zentralistische, kaum
funktionsfähige Staatshülsen und zerrissene Völker,
die für den globalen Wettbewerb nicht gerüstet waren. Die
Grundzüge ihrer Raubwirtschaft aber blieben erhalten; sie war
"monokulturell" auf den Export von Bodenschätzen und
Agrarerzeugnissen ausgerichtet. Die gerade selbständig
gewordenen Staaten blieben auf Gedeih und Verderb von ein oder zwei
Primärgütern abhängig. Die Elfenbeinküste
exportiert zum Beispiel überwiegend Kakao, Niger
hauptsächlich Uran, Botsuana fast nur Diamanten. Eine
verhängnisvolle Einseitigkeit. Denn im Laufe der Jahre sollten
sich die "terms of trade" verschlechtern, also das
Austauschverhältnis von Importen und Exporten: Die Afrikaner
verdienen aufgrund tendenziell fallender Weltmarktpreise für
Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte immer weniger und
müssen für ihre Einfuhren - Industriegüter,
Fertigwaren, Energie - immer mehr hinblättern.
Nun lässt sich zurecht einwenden, dass
die Afrikaner in bald 50 Jahren Unabhängigkeit genug Zeit
gehabt hätten, ihre Volkswirtschaften zu diversifizieren, um
die ungleichen Tauschverhältnisse abzumildern. Genau an diesem
Punkt, jenseits der naturbedingten und geographischen Nachteile,
der historischen
Erblasten und strukturellen Defizite, beginnt
die Diskussion über die hausgemachten Ursachen der
Misere.
Die jungen Staaten Afrikas setzten auf
bedingungslose Modernisierung nach kapitalistischem oder
realsozialistischem Modell, auf schwere Industrie und schnelle
Urbanisierung, und die Entwicklungsberater aus dem Norden
flüsterten ihnen die aberwitzigsten Prestigeprojekte ein, die
bald als "weiße Elefanten", als Investitionsruinen, im Busch
herumstanden. Die Landwirtschaft hingegen wurde in fast allen
Staaten des postkolonialen Afrika sträflich
vernachlässigt - und damit die Ernährungssicherung.
Allmählich beginnt man zu begreifen, dass die aufgepfropfte
Modernisierung auch deshalb gescheitert ist, weil es am
gesellschaftlichen Unterbau und an den mentalen Voraussetzungen
fehlte.
Die afrikanischen Eliten machten genau dort
weiter, wo die Kolonialherren aufgehört hatten: Sie
übernahmen ihre Positionen und Privilegien, die Schreibtische
und Swimmingpools, die Seidenbetten und die Dienerschaft. Frantz
Fanon, der Vordenker der antikolonialen Revolution, hat diesen
Rollentausch mit der Wendung "masques blancs, peau noire"
beschrieben: Weiße Masken auf schwarzer Haut. Er warnte vor
der fatalen Umwandlung der Fremdausbeutung in Selbstbedienung - und
sollte Recht behalten.
An der Spitze der Machtcliquen thronen die
"big men", die großen, starken Männer. Ihr oberstes Ziel,
der Machterhalt, wird durch ein ausgeklügeltes Patronagewesen
gesichert, durch ein System zur Verteilung der ökonomischen
Besitzstände, das die Loyalität der parasitären
Partei- und Staatsklassen erkauft und in der Regel tribalistischen
Prioritäten folgt: der erweiterte Familienclan des "big man",
die Heimatregion, die Notabeln der eigenen Ethnie werden zuerst mit
Posten und Pfründen beschenkt. Das führt zu einer absurd
aufgeblähten Exekutive, zu vielköpfigen Parlamenten und
zu einem Verwaltungsapparat, für den die Bezeichnung
Wasserkopf ein Euphemismus ist. Es gibt Kabinette, denen 70 und
noch mehr Minister und Vize angehören, Ämter und
Behörden, die nur auf dem Papier existieren, Gehälter,
die jahrelang an Phantombeamte gezahlt werden.
Der Zaire, heute wieder Kongo genannt,
liefert ein Paradebeispiel: Vater Staat sorgt nicht mehr für
seine Kinder, er ist zu schwach, und die herrschende Klasse
stützt ihre Macht in erster Linie auf Repression, auf Armee,
Polizei und Paramilitärs. Sobald sie den Sicherheitsapparat
nicht mehr finanzieren kann, weil die Staatskassen leer sind, kommt
es zur Revolte, zum Staatsstreich oder zu einem Bürgerkrieg.
Kaum ruhen die Waffen, geht das Monopoly um politische Macht und
ökonomische Ressourcen wieder von vorne los - ein
Präsidentenwechsel ist in der Regel also nichts anderes als
ein Parasitenwechsel.
Die Kleptokraten Afrikas konnten
weiterregieren, solange sie einem der Lager im Kalten Krieg den
ideologischen Fahneneid schworen; dafür erhielten sie
fürstliche Entwicklungsgeschenke, vor allem in Form von
Waffen. So besehen haben Moskau und Washington, Paris und Peking
die Selbstzerstörung Afrikas kräftig alimentiert. Als
nach 1989 das "Treuegeld" allmählich ausblieb, krachten die
postkolonialen Staatsattrappen wie Kartenhäuser in sich
zusammen. Und aus den Ruinen von Somalia, Kongo oder Liberia
stiegen alte Chaosmächte und neue Gewaltakteure auf, Warlords,
Kindersoldaten und Stammesmilizen.
Im Oktober 2000 taxierte Stefan Mair von der
Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik zusammen mit fünf
namhaften deutschen Afrika-Experten die Zu-kunftsaussichten des
Kontinents. In die Kategorie der "emerging economies" fielen nur
zwei Zwergstaaten, die Seychellen und Mauritius; acht Staaten -
Ghana, Kap Verde, Gabun, Äquatorial-Guinea, Botsuana, Namibia,
Lesotho und Südafrika - wurden zu den potentiellen
Reformländern gezählt. Der Rest habe geringe oder keine
Entwicklungschancen; 13 Staaten seien beim Stand der Dinge ohne
jede Perspektive, darunter Somalia, Sierra Leone, Niger, Tschad,
Burundi, Kongo, Malawi, Madagaskar. Das niederschmetternde Fazit:
"Entwicklung im Sinne nachhaltiger Armutsreduzierung wird für
die meisten Länder Afrikas auch in den nächsten 30 bis 50
Jahren nicht möglich sein."
Die Afrikaner halten sich, wie Milliarden von
Menschen in der so genannten Dritten Welt, in der informellen
Ökonomie über Wasser, in der Schatten- oder
Parallelwirtschaft, die keine Statistik erfasst. Die
Großmutter verkauft Feldfrüchte, der Sohn flickt Schuhe,
Mutter geht zu den Reichen bügeln, der Vater ist
Wanderarbeiter, der Onkel bewacht ein Hotel in der Stadt; die
erweiterte Familie wirft alle Einkünfte zusammen, teilt,
bringt ihre Mitglieder irgendwie durch und entwickelt dabei einen
unglaublichen Erfindungsreichtum. Aber es reicht meistens nicht, um
der nächsten Generation ein besseres Leben zu
sichern.
Es gibt einen Hoffnungsschimmer namens Nepad.
Hinter diesem Kürzel verbirgt sich ein kontinentales
Wiederaufbauprogramm nach dem Modell des Marshall-Plans, das
Südafrikas Präsident Thabo Mbeki angeregt hat: Die
Afrikaner mobilisieren ihre Selbsthilfekräfte und bringen die
politischen und wirtschaftlichen Kurskorrekturen auf den Weg; der
Norden verstärkt die finanzielle Zusammenarbeit, erlässt
die erdrückenden Schulden und schafft schrittweise jene
Handelsstrukturen ab, die den Süden
marginalisieren.
Manche Präsidenten Afrikas scheinen
allerdings den einen oder anderen ihrer hehren Vorsätze schon
wieder vergessen zu haben. Demokratie wahren? Men-schenrechte
schützen? Zum Staatsterroristen Robert Mugabe, der Simbabwe
allmählich kaputt regiert, hat man von den meisten kein
kritisches Wort gehört.
Bartholomäus Grill ist
Afrika-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung "Die
Zeit".
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