Thomas Bierschenk
Der Rückzug des Staates aus Politik und
Ökonomie
Entwicklungshilfe als Rente schafft neue Formen
des Klientelismus in Afrika
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist Entwicklungshilfe zu einer
massiven gesellschaftlichen Realität in Afrika geworden. Die
Volkswirtschaften und die Staatstätigkeit der afrikanischen
Least Developed Countries (LLDCs) hängen in starkem Maße
von Transferzahlungen aus Entwicklungshilfe ab. Alllein die
offizielle Hilfe (ODA) der Geberländer macht im Durchschnitt
etwa die Hälfte der Bruttoinvestitionen dieser
Empfängerländer aus. In vielen afrikanischen Ländern
bilden diese Transferzahlungen einen "grauen" Teil der
Staatseinnahmen, der an Bedeutung die Einnahmen aus Steuern
teilweise übertrifft.
In der Tendenz führt das zu einem Muster, bei dem die
internen Staatseinnahmen im besten Fall ausreichen, laufende Kosten
besonders für die Gehälter der Staatsangestellten zu
bestreiten, während alle investiven Ausgaben von außen
finanziert werden. Im politökonomischen Sinne sind die
Auswirkungen der Entwicklungshilfe in den
Empfängerländern denen von "Renten" vergleichbar. Wir
können die ärmsten Länder Afrikas somit auch als
"Rentierstaaten" bezeichnen.
Anders als in den klassischen Rentierstaaten des Nahen Ostens,
wo die "Rente" an landeseigene Ressourcen (Erdöl) gebunden
ist, gibt es für die Entwicklungshilferente eine Vielzahl von
möglichen Quellen, die von den Staaten nur schwach
kontrolliert werden. Die Entwicklungshilferente muss immer neu
mobilisiert werden. Die Mobilisierung ist eine wichtige Funktion
afrikanischer Politiker, die in dieser Hinsicht die Rolle von
"Entwicklungsmaklern" spielen.
In den vergangenen 25 Jahren ist es in vielen Ländern
Afrikas zu Prozessen der Liberalisierung und Demokratisierung
gekommen. Ursache war der ökonomische Bankrott vieler Regime.
Die internen Faktoren wurden durch äußere entscheidend
verstärkt: Vor allem verloren durch das Ende des Kalten
Krieges die Staaten ihre geopolitische Positionsrente. Dies
beseitigte eine letzte Barriere gegenüber dem Druck der
internationalen Gebergemeinschaft nach internen
Strukturanpassungen, die sich auch durch die Reduzierung der Zahl
der Staatsangestellten und die weitgehende Privatisierung des
staatlich kontrollierten Wirtschaftssektors vollziehen sollten.
Parallel wurden in vielen Ländern die diktatorischen
Einparteinregimes abgeschafft und demokratische Spielregeln
eingeführt.
Dieser ökonomische und politische Rückzug des Staates
aus der Gesellschaft hat Handlungsspielräume für eine
Vielzahl von Organisationen, Vereinigungen und Aktivitäten der
"Zivilgesellschaft" wiedereröffnet: Für
Produktionsgenossenschaften, Bauernorganisationen,
Emigrantenvereinigungen, religiöse Vereinigungen, ethnische
und kulturelle Organisationen, Frauen- und Jugendclubs oder
Sparringe. Viele dieser Vereinigungen haben auf lokaler Ebene eine
entwicklungspolitische Zielsetzung. Sie versuchen, Projekte zur
Verbesserung der Infrastruktur zu initiieren, streben eine
Verbesserung sozialer Dienstleistungen an, vor allem bei der
Erziehung und Gesundheit, oder sie organisieren produktive
Tätigkeiten für marginale Gruppen.
Diese lokale Dynamik trifft auf jüngere Veränderungen
im Bereich der Entwicklungshilfe, die durch Bemühungen zur
Entstaatlichung und Dezentralisierung der Hilfe gekennzeichnet
sind. Die Tendenz geht zur "partizipativen Entwicklung", zur Arbeit
"an der Basis", zu "Mikroprojekten": Entwicklungshilfe wird
"entstaatlicht". Neben den großen multilateralen und
nationalen Trägern spielen NGOs - wozu nicht nur private
Vereine zählen, sondern auch Kirchen - eine zunehmende Rolle;
hinzu kommen im Rahmen der dezentralen Entwicklungshilfe neue
Träger wie Kommunen oder Bundesländer, die im Rahmen von
Städtepartnerschaften eigene Entwicklungshilfe betreiben.
Im Rahmen der dezentralen Entwicklungshilfe ent-stehen neue
Formen internationaler Beziehungen zwischen Organisationen und
Institutionen der Zivilgesellschaft. Dies hat dazu geführt,
dass auch auf lokaler Ebene "Entwicklungsmakeln" zum Phänomen
wird.
Lokale Entwicklungsmakler sind Mittelsmänner, die dazu
beitragen, externe Ressourcen der Entwicklungshilfe in eine
Lokalität zu leiten, in der sie selber eine politische Rolle
spielen. Versteht man ein Entwick-lungshilfeprojekt als
idealtypische Form der Hilfe, dann stellen die Entwicklungsmakler
die lokalen Träger eines solchen Projektes dar, die an der
Schnittstelle von Entwicklungsagenturen und Zielgruppen agieren.
Gegenüber den externen Geldgebern sind sie es, die als
legitime Vertreter der Zielgruppen gelten. Wie auf der nationalen
Ebene hängt die Position dieser Makler wesentlich vom Zugang
zu den Gebern und ihrer Verhandlungskompetenz ab.
Die lokalen Entwicklungsmakler, die wir unter-sucht haben, sind
in der Regel relativ jung, waren in ihrem bisherigen Leben recht
mobil, mit Aufenthalten in verschiedenen Teilen ihres Landes, in
Afrika, zum Teil auch in Europa. Sie haben eine moderne Schul- oder
Hochschulausbildung genossen. Von großer Bedeutung scheinen
vorhergehende Vereinserfahrungen zu sein bis zu politischen
Parteien oder Gruppen. Hier erwerben die künftigen Makler
Kompetenzen: Die Kenntnis unterschiedlicher gesellschaftlicher
Spielregeln, die Erfahrung, dass man mit der Manipulation von
Regeln Politik machen kann, die Fähigkeit, Gruppen zu
mobilisieren.
In den lokalen politischen Arenen stellt heute die
Fähigkeit zur Mobilisierung externer Ressourcen eine
bedeutende Machtquelle dar und verändert bestehende
Formationen von Patronage und Klientelismus. Die historische und
ethnologische Forschung hat gezeigt, in welchem Maße Inhaber
lokaler Machtpositionen schon vor und während der Kolonialzeit
Mittelsmannfunktionen spielten. Diese Intermediäre sind die
Nutznießer verschiedener Positionsrenten, aber in der Regel
vom Zugang zur Entwicklungsrente ausgeschlossen. Dies ist nicht
zuletzt eine Folge ihrer mangelhaften Kompetenz bei der
Beherrschung des jeweilig aktuellen Entwicklungsjargons. Dies
schließt nicht aus, dass traditionelle lokale
Führungspersönlichkeiten und Entwicklungsmakler in
vielfältigen Allianzen verbunden sind. Es ließe sich ein
"historischer Kompromiss" zwischen beiden Typen von
Mittelsmännern formulieren, in dem erstere die Beziehungen
zwischen Staat und Lokalität, letztere die zwischen
Lokalität und Entwicklungshilfegebern zu kontrollieren
versuchen.
Grundsätzlich lassen sich drei Positionen der
Ent-wicklungsmakler in der lokalen politischen Arena unterscheiden.
Erstens: Der Makler steht außerhalb der Arena. Beispiele sind
Emigranten und regionale beziehungsweise nationale politische
Führer, aber auch Missionare und Forscher. Oder der Makler
gehört zur Arena, ist aber marginal. Beispiele hierfür
sind die jungen Schul- und Hochschulabbrecher (jeunes
déscolarisés), die derzeit in Afrika in ihre
Heimatdörfer zurückkehren und zu kleinen Unternehmern in
Sachen "Entwicklung" werden. Schließlich kann die Maklerrolle
von lokalen "big men" als Bestandteil einer Strategie der
Machtabsicherung ausgeübt werden.
So lassen sich vorläufig mindestens vier verschiedene Typen
lokaler Entwicklungsmakler und entsprechender organisatorischer
Formen unterscheiden.
Religiöse Gruppen: Die Zugehörigkeit zu einer Kirche
oder "Sekte" ermöglicht die Mobilisierung von Kontakten
außerhalb. Islamische Bruderschaften, katholische und
protestantische Kirche sowie Sekten, synkretistische Bewegungen und
Freikirchen können in dem Sinn als Netzwerke aufgefasst
werden.
Emigrantenvereinigungen: Hierbei handelt es sich um
Vereinigungen von Staatsangestellten, Akademikern, Kaufleuten und
anderen gehobenen Schichten mit gemeinsamer Abstammung aus einer
Region. Diese home town associations oder associations des
ressortissants finden sich seit der Kolonialzeit in
größeren afrikanischen Städten und im Ausland. Es
erlaubt den Emigranten, Verbindungen zur Heimat aufrechtzuerhalten
und eine politische Rolle zu spielen.
Ethnische und kulturelle Bewegungen: Diese Bewegungen, die oft
von Staatsangestellten oder Intellektuellen animiert werden, haben
in der Regel ein doppeltes Ziel: Eine größere Teilhabe
der von ihnen repräsentierten Bevölkerungsgruppen an den
Leistungen des Zentralstaates und der Entwicklungsrente,
andererseits verbesserter Zugang zu Positionen im Staatsapparat
für ihre Repräsentanten. In beiden Fällen spielt das
Argument einer "ethnisch ungerechten" Verteilung der
Entwicklungsrente in der Regel eine große Rolle. Im
gegenwärtigen Kontext der Demokratisierung spielen diese
Bewegungen eine besondere Rolle.
Bauernführer: Mit diesem in Mode gekommenen Begriff werden
lokale Vertreter ländlicher Zielgruppen bezeichnet, zu denen
die Entwicklungshilfeorganisationen privilegierte Beziehungen
unterhalten. Die Bauernführer haben oft Positionen in lokalen
Organisatio-nen wie Kooperativen inne. Nicht selten handelt es sich
um Emigranten und Schulabbrecher, die zurückgekehrt sind und
sich wieder in das landwirtschaftliche Produktionssystem integriert
haben. Die Dezentralisierung der Entwicklungshilfe verschafft
bäuerlichen Intellektuellen wachsende Bedeutung.
Die Ergebnisse unserer bisherigen Forschungen le-gen folgende
Typologie nahe: Es gibt Länder, in denen die Entwicklungsrente
auf lokaler Ebene von Bedeutung ist, etwa in Mali und Burkina Faso,
besonders aber im Senegal, der viermal mehr Entwicklungshilfe pro
Kopf der Bevölkerung enthält als der Durchschnitt aller
frankophonen Länder, die stärker von Entwicklungshilfe
abhängen als die anglophonen. Eine zweite Gruppe ist durch
eine niedrige Bedeutung der lokalen Entwicklungsrente
gekennzeichnet, weil diese Länder weniger von internationalen
Transferzahlungen abhängen. Unsere Hypothese ist, dass es sich
dabei vor allem um Länder des anglophonen Afrika handelt. In
einer weiteren Gruppe ist die Bedeutung der lokalen wie der
nationalen Entwicklungsrente gering, da diese Länder über
relativ große interne Ressourcen verfügen. Hierzu
zählen die Elfenbeinküste und der Gabon. In einer
weiteren Gruppe ist die Bedeutung der lokalen Entwicklungsrente
deshalb niedrig, weil der Zugang zu den lokalen Arenen versperrt
ist, weil er etwa vom Zentralstaat kontrolliert wird, wie dies bei
Benins bis Mitte der 80er war, oder weil diese Kontrolle durch
"traditionelle Notabeln" ausgeübt wird, wie bis vor kurzem
Zeit im Niger.
Thomas Bierschenk ist Professor für Ethnologie und
Afrikastudien an der Universität Mainz.
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