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Franz Ansprenger
Afrikas Erblasten - welche wiegt am
schwersten?
Aus den Trümmern von Rassismus und
Kolonialismus konstitutiert sich ein neues System
Weltweit ist es üblich, politische
Fehlentwicklungen den Amtsvorgängern anzulasten, statt an die
eigene Brust zu klopfen. Fragt sich nur, wie weit zurück die
Last zurückgeschoben werden darf. In Deutschland gehört
es zum guten Ton, nicht länger als eine Legislaturperiode auf
die Vorgänger zu verweisen. Adolf Hitler allerdings bleibt
unserem nationalen Gewissen auch im 21. Jahrhundert erhalten.
Afrika trägt schwer an seiner Gegenwart.
1995 schrieb ich in einem Beitrag zur Festgabe für Volkmar
Köhler, der seinerzeit nach Kräften für eine solide
Entwicklungspolitik der CDU sorgte, über Schwarzafrika als
einen "blinden Fleck in der Weltpolitik" und ein "Schwarzes Loch in
der Weltwirtschaft". Die "schwarzen Löcher" tauchen am 16.
Januar 2004 im taz-Artikel zur Afrikareise Bundeskanzler
Schröders wieder auf. Korruption, Zusammenbruch der
Wirtschaft, Staatszerfall, Staatsterror, Militärputsch,
Bürgerkrieg, Krieg, Kindersoldaten, Stammesbesessenheit
(Tribalismus) und Stammeskämpfe, Völkermord, schwarzer
Rassismus als Echo des weißen, AIDS (und Ignorieren der
AIDS-Ursache) - müssen wir noch mehr Schlagworte
herunterbeten?
Wer hat Afrika diese Erblasten
aufgebürdet? Alte Traditionen? Die Periode europäischer
Herrschaft, die nur etwa von 1890 bis 1960 dauerte? Oder ist
Afrikas Zustand vornehmlich das Werk der populistischen Diktatoren,
die um 1960 in die Schuhe der abziehenden Europäer
schlüpften, der viel gescholtenen "Staatsklasse"? Und steht
den Lasten nicht wenigstens ein Quäntchen sinnvollen Erbes
gegenüber? Verantwortlich für alles Übel sei
jedenfalls die Fremd-, die Kolonialherrschaft, lautete viele Jahre
das Standard-Argument afrikanischer Politiker. Nicht immer oder
überall klangen die Reden einfacher Leute genau so.
"Colonialism was better", schrieben schon 1966 tansanische
Studenten auf ein Plakat, als sie gegen die Einführung eines
Arbeitsdienstes durch Präsident Nyerere protestierten, und
2000 jubelte das Volk in Sierra Leone, als 800 Soldaten aus
Großbritannien - das von 1787 bis 1961 Kolonialmacht gewesen
war - in den Bürgerkrieg eingriffen, den weder die UNO noch
die westafrikanische Staatengemeinschaft ECOWAS befrieden
konnten.
2004 ist Deutschland an der Reihe, den
Spiegel seiner Kolonialgeschichte vorgehalten zu bekommen. Vor 100
Jahren erhoben sich in Namibia die Herero gegen die Macht Kaiser
Wilhelms II. - und jetzt würden sie ganz gern von Berlin
Entschädigung kassieren. Starker amtlicher Druck steckt nicht
dahinter, denn als das weiße Südafrika seine Apartheid
auf Namibia ausdehnte, nahmen die meisten Herero Schulter an
Schulter mit den Namibia-Deutschen in der Demokratischen
Turnhallen-Allianz eine "gemäßigte" Position ein, die der
kämpfenden Befreiungsbewegung SWAPO nicht gefiel - und SWAPO
regiert das Land seit der Unabhängigkeit 1990.
Nun ist es keineswegs so, dass wir
Europäer, speziell wir Deutsche erst jetzt aufwachen und
angesichts der zwei Milliarden Dollar, die Herero-Fürst
Riruako einklagen will, merken, dass wir unserer "…kolonialen
Vergangenheit nicht länger ausweichen können", wie Jochen
Bölsche im "Spiegel" (12. Januar 2004) schrieb. Hätte er
das berühmte Spiegel-Archiv gründlich konsultiert,
wäre er darauf gestoßen, dass ich am 27. Juli 1970 in
eben dieser Zeitschrift das Buch Gert von Paczenskys "Die
Weißen kommen - Die wahre Geschichte des Kolonialismus"
(Hamburg 1970, 560 S.) rezensiert habe. Inzwischen wissen wir ganz
gut, wovon wir reden, und können die beiden Seiten der
Medaille beschreiben. Wenn ich "wir" sage, meine ich afrikanische
und europäische Historiker gemeinsam, die ja auch zwischen
1981 und 1993 zusammen für die UNESCO die acht Bände der
General History of Africa vorgelegt haben. Es sind natürlich
viele Medaillen zu betrachten. Im Folgenden beschränke ich
mich - durchaus im Bewusstsein, kräftig zu verallgemeinern und
nur einige meines Erachtens wichtige Aspekte anzusprechen - auf die
Bilanzierung der Kolonial- und Nachkolonialzeit unter den Rubriken
Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
Kultur heißt in allererster Linie
Sprache. Die Kolonialmächte haben unterschiedlich intensiv
ihre eigene Sprache in Verwaltung und Schule Afrikas durchgesetzt.
In Deutsch-Ostafrika wurde Swahili als Amtssprache eingeführt
und dem heutigen Tanzania vererbt. Die Briten verlangten von ihren
Kolonialbeamten in Nord-Nigeria, sich auf Hausa verständigen
zu können. Für Grundschulen bevorzugten sie ebenfalls
regionale Umgangssprachen, erst auf der Sekundarstufe nahm Englisch
deren Platz ein. Frankreich wiederum duldete nirgends, dass in den
Schulen seiner Kolonien jemand etwas anderes sprach als
Französisch. Das Ziel war natürlich überall, die
Mechanismen der Unterwerfung, Kontrolle und "Erschließung"
(sprich: Ausbeutung) zu glätten. Erreicht wurde daneben
zweierlei Positives: die Verständigung innerhalb der neuen, in
aller Regel gegenüber der vorkolonialen Zeit erheblich
erweiterten politischen Grenzen wurde erleichtert, und den
Bildungseliten wurde der Blick auf Europa und Nordamerika
geöffnet. Negativ wirkte, dass eine kulturelle Kluft zwischen
dieser Elite und der Masse, die nicht zur Schule ging,
aufbrach.
Jedenfalls hat keine nachkoloniale Regierung
die Sprache der Kolonialmacht aus dem Lande getrieben (Algerien
versuchte es). Als Namibia 1990 die weiß-südafrikanische
Verwaltung los wurde, die sich primär des Afrikaans bedient
hatte, führte die SWAPO Englisch ein; das bringt den
problematischen Vorteil der Chancengleichheit, denn so gut wie
niemand spricht in Namibia Englisch als Muttersprache. In
Südafrika drückt die Globalisierung Englisch nach und
nach durch, obwohl die Politik (ähnlich wie in der
Europäischen Union) elf Amtssprachen anerkennt. Eine
einheitliche einheimische Nationalsprache ist leider keine Garantie
für politische Harmonie. Alle Menschen in Somalia sprechen
Somali, das seit 1973 in lateinischen Lettern geschrieben wird;
Hutu und Tutsi in Rwanda und Burundi sprechen ein und dieselbe
Sprache.
Afrikas Wirtschaft - wen wundert's? - muss
sich noch stärker nach der Decke der Globalisierung strecken
als seine Kultur, und Regierungen können dagegen ebenso wenig
Dämme bauen wie in Europa. Einen ersten Anschluss an einen von
Europäern beherrschten Weltmarkt erzwang schon seit dem 16.
Jahrhundert der Atlantische Sklavenhandel, als kollektives
Verbrechen der Kolonialeroberung 1900 mindestens ebenbürtig.
Während des 19. Jahrhunderts löste für mehrere
Jahrzehnte "legitimate trade" unter dem Dach eines vornehmlich
britischen "informal empire" den Menschenexport ab. Damals stellten
sich einige afrikanische Völker in erreichbarer Nähe der
Atlantikküste auf den Anbau von "cash crops" um,
beispielsweise die Kakaobauern im heutigen Ghana ganz ohne Zwang.
Sie sind seitdem auf der Achterbahn der Weltrohstoffpreise
durchgerüttelt worden, aber im afrikanischen Vergleich nicht
unbedingt schlecht gefahren.
Die Kehrseite dieser Medaille ist der Raubbau
an Elfenbein, Kautschuk (im Kongostaat des belgischen Königs
Leopold unter mörderischem Zwang) und vor allem an Tropenholz.
Dieses Umweltverbrechen griff nach der Unabhängigkeit weiter
um sich und löste, als der Wald an der Côte d'Ivoire
endgültig zerstört war, in jüngster Vergangenheit
die Gewalttaten aus, die in Europa immer noch als
"Stammeskämpfe" registriert werden.
Gesellschaftliche Ordnungen des alten Afrika
haben bei vielen europäischen Kolonialbeamten eher Bewunderung
als Abscheu ausgelöst. Klar: wenn sie sich auf das soziale
Netz der afrikanischen Großfamilie verlassen konnten,
brauchten sie kein Geld in einen modernen Sozialstaat zu
investieren. Althergebrachte Loyalitäten ließen sich auch
gut für divide et impera ausnutzen, und bei Bedarf erfanden
Europäer und Afrikaner im Wettstreit neue "Stämme" samt
"chiefs" (englisch), "chefs" (französisch), "Großleuten"
(deutsch). Von wenigen Ausnahmen abgesehen - Sekou Touré
zerschlug eine widerspenstige "chefferie" in Guinea nach 1958 -,
regierten die neuen Herren mit diesem System gern weiter. Seine
negative Seite besteht unter anderem darin, dass der autokratische
Kolonialstil der örtlichen Herrschaft und Verwaltung vor allem
auf den Dörfern ungebrochen weiterlebte, auch als Mitte der
1980er-Jahre in den Städten Bürger und Gewerkschafter von
den nationalen Autokraten Menschenrechte oder gar Demokratie
einzufordern begannen.
Das durchschlagende gesellschaftliche
Phänomen der späten Kolonial- und der frühen
Nachkolonialzeit Afrikas ist das explosive Wachstum der
Bevölkerung, dem auch bei günstiger Konjunktur das
Wirtschaftswachstum weit hinterher hinkt. Moderne Medizin, im
Gepäck der Kolonisatoren zum eigenen Schutz mitgebracht,
sickerte zu den Kolonisierten durch. Die Städte begannen zu
wuchern. Segen oder Fluch? Ist der "informelle Sektor" der
Wirtschaft eher ein Armutsgeschwür und Anzeichen des
Staatsversagens - oder der Überlebenskraft afrikanischer
Gesellschaften? Der weitere Verlauf der Heimsuchung Afrikas durch
AIDS, und der Fortgang des Kampfes gegen AIDS werden vielleicht
solche Fragen beantworten.
Damit sind wir bei der Politik. Die
politischen Systeme des vorkolonialen Afrika wiesen, als
Europäer ab 1900 sie genauer studieren konnten, zwar eine
erhebliche Bandbreite auf, die sich grob zwischen
Militärmonarchien nach Art des damals schon fast 100 Jahre
bestehenden Zulu-Reichs und regierungslosen, von "Segmenten" mit
echter oder erfundener gemeinsamer Abstammung getragenen Ordnungen
katalogisieren ließ. Manche Forscher filterten auch
demokratische Elemente heraus. Individuelle Freiheiten und Rechte
nach dem Verständnis der europäischen Aufklärung
waren nirgends dominant. Die Kolonialregierungen stülpten
Fremdherrschaft über alle diese Systeme und zementierten
dadurch ihre autokratischen Tendenzen, nicht zuletzt in den nach
1800 aus islamischem Reformeifer geborenen Emiraten Nord-Nigerias
oder nach 1948 in den Bürokratien der Bantu-Heimatländer
des Apartheid-Südafrika.
Es bleibt trotzdem wahr, dass die
Kolonialherrschaft, nachdem sie den ursprünglichen Widerstand
gebrochen und die Aufstände niedergeschlagen hatte, fast ganz
Afrika Landfrieden brachte, Sicherheit für Handel und Wandel,
der erst in den Bürgerkriegen und Kriegen nach 1960 und in
einer Woge banaler Kriminalität vor allem in den Städten
verloren ging. Es bleibt wahr, dass Afrikaner unter
Kolonialherrschaft anfingen, kritische Zeitungen zu gründen,
Gewerkschaften und Berufsverbände aufzubauen, vor Gericht um
Rechte zu kämpfen. Diese politischen Werte sickerten aus den
demokratischen Metropolen nach Afrika durch.
Summa summarum: Afrika ist heute in
erheblichem Umfang etwas, das die europäischen
Kolonialmächte in runden 70 Jahren ihrer Herrschaft geschaffen
und deshalb zu verantworten haben. Afrikas neue Herren haben wenig,
zu wenig daran geändert. Vieles konnten sie nicht ändern,
manches setzten sie gern und eifrig zur Festigung der eigenen Macht
ein. Und wer jetzt in Afrika Bürgerrechte fordert und darauf
pocht, dass es nur eine universal gültige Form von Demokratie
gibt, nicht aber eine spezifisch "afrikanische Demokratie", in der
alle Tiere gleich, aber einige gleicher als die anderen sind, der
zehrt ebenfalls von einem Erbe, einem besseren Erbe Europas, als es
Rassismus und Kolonialismus sind.
Franz Ansprenger lebt in Berlin als Professor
emeritus für Internationale Politik der Freien
Universität.
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