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Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Rainer Tetzlaff

Gibt es mehr Interventionen in Afrika?

Lokale Probleme mit globalen Auswirkungen
"Deutsche und europäische Sicherheitsinteressen werden ab jetzt am Kongo verteidigt" - dieser Satz ist noch von keinem deutschen Minister oder EU-Kommissar ausgesprochen worden. Jedoch ist nicht auszuschließen, sondern zu erwarten, dass nach der nationalstaatlich entgrenzten neuen Sicherheitskonzeption - analog zur aktuellen Struck-Doktrin, dass deutsche Interessen am Hindukusch verteidigt werden - demnächst auch Afrika südlich der Sahara mit seinen Staatszerfalls- und Bürgerkriegsländern stärker ins Visier der Außen- und Verteidigungspolitiker der atlantischen Sicherheitsgemeinschaft geraten wird.

Im Unterschied zu früheren Zeiten, als imperialisti-sche Groß- und Mittelmächte aus Europa im Zuge ihrer Expansionspolitik nach Übersee gingen, andere Völker unterwarfen und sich ihre Bodenschätze an-eigneten, überwiegen heute statt der klassischen "push-Faktoren" die "pull-Faktoren" im Nord-Süd-Verhältnis. Denn die Sicherheitsbedingungen und Le-bensverhältnisse vor Ort haben sich an Kriegsschau-plätzen wie Mogadishu/Somalia, Ituri und Bunia im Ostkongo, in einigen umkämpften Regionen von Süd- und Westsudan (Juba, Nuba-Berge, Darfur), in Süd-äthiopien (ungelöstes "Oromo-Problem"), Nordugan-da (Dauerrebellion der "Lord Resistance Armee") so-wie in den von Rebellen, Warlords und ethnischen Milizen verunsicherten Gebieten von Tschad und Zentralafrikanischer Republik, von Liberia und Côte d' Ivoire derart verschlechtert, dass aus aufgeklärtem Selbstinteresse diejenigen Staaten auf eine jeder Zeit mögliche Eskalation von lokaler Gewalt reagieren müssen, die die Mittel zur Beruhigung der Lage dazu haben: die Staaten der OECD-Welt. Man kann darin die Schattenseiten der Globalisierung sehen, gleichwohl ist die Einsicht unabweisbar, dass die politisch gewollte Entgrenzung und Denationalisierung von Handels- und Kommunikationsaktionen aller Art auch die interkontinentale Wanderung von erwünschten wie unerwünschten Migranten auslöst. Politik, vor allem Entwicklungshilfe- und Sicherheitspolitik, ist im Zeitalter der Globalisierung komplizierter geworden. Sie bedarf auf verschränkten lokalen, nationalen und regionalen Handlungsebenen viel Empathie und Fantasie, neuer Konzepte wie auch Ressourcen und Instrumente. Sie hat sich dieser neuen Konstellation transnationaler Räume mit ihren lokalen Problemen und globalen Auswirkungen zu stellen.

Ob diese Staaten angesichts prekärer eigener Budgets und hoher Kosten von Militärintervention in Übersee dafür die politische Bereitschaft aufbringen werden, ist allerdings nicht sicher, zumal Afrika südlich der Sahara als potentiell gefährliche geopolitische Großregion sicherlich erst an dritter Stelle europäischer Sicherheitsplanung rangiert.

Priorität haben die Friedenskonsolidierung auf dem Balkan und die Bemühungen um regionale Konfliktentschärfung und zivilgesellschaftlich gestützte Staatsbildung im Nahen und Mittleren Osten (Afghanistan, Irak, Palästina), wo der islamistische Terrorismus Wurzeln geschlagen hat - auch eine Folge verfehlter und politisch leichtfertiger Interventionen der Großmächte im Kalten Krieg.

Mindestens drei Tendenzen, die seit dem Ende der 90er-Jahre erkennbar sind, weisen in diese Richtung einer notgedrungenen Aufwertung Afrikas südlich der Sahara als einem politisch und sozio-kulturell hoch fragmentierten, instabilen Befriedungsraum, der aus eigener Kraft nicht zu der gewünschten strukturellen Stabilität finden kann: kollektive Lernprozesse auf Seiten der politischen Akteure (im Norden); neue Bedrohungsszenarien aufgrund der Verschlechterung der Lebens- und Überlebensbedingungen vor Ort (ein-schließlich der AIDS-Problematik) und schließlich eine Neuakzentuierung völkerrechtlicher Normen.

Erstens hat die politische und humane Doppelkatastrophe von Somalia und Ruanda - verfehlte UN-Militärintervention unter eigenwilliger Leitung der USA hier, unterlassene Hilfeleistung und verhinderte Militärintervention der UNO wegen des US-Vetos dort - zu Beginn der 90er-Jahre und verstärkt durch den 11. September 2001 einen politischen Lernprozess bei den Regierungen der G8-Staaten ausgelöst oder beschleunigt. Ruanda 1994 hat gezeigt, dass es zu einer Umsetzung des Konzepts einer an Menschenrechten, Demokratie und Frieden orientierten Weltinnenpolitik vielleicht noch zu früh war. Es bedurfte erst der sieben Staaten umfassenden Katastrophe im Großen Seengebiet, der von 1994 bis heute wohl weitere drei bis vier Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein dürften, ehe ernsthaftere Anstrengungen der Krisenprävention und Friedensschaffung erkennbar und realisierbar wurden. Man kann von einem pathologischen Lernprozess auf Seiten der westlichen Diplomatie sprechen, dessen positives Ergebnis die Aufwertung der Idee der Krisenprävention ist. Noch handelt es sich im Kantschen Sinne um eine vor allem "regulative Idee", der die Instrumente und Ressourcen fehlen. Aber die Einsätze in Afghanistan, Liberia oder Kongo sind Vorboten einer interkontinentalen Notgemeinschaft, die zu kooperativem Handeln über Grenzen und Meere hinweg bereit ist.

Die zweite Tendenz besteht darin, dass aus realisti-schen Einsichten in historische Kontexte der Konflikte vermehrt reale politische Entscheidungen zum Handeln getroffen werden. Allen voran ist wohl Großbritannien unter Premierminister Tony Blair gegangen, der - wenigstens fallweise - den Schutz der Menschenrechte zum Ziel politischer und militärischer Interventionen erklärte und danach handelte. Als sich in Liberia und Sierra Leone unterschiedliche ethnische Gruppen, repräsentiert durch kriminelle Banden, undisziplinierte Kriegsherren, traditionelle Führer und unter Drogen stehende Kindersoldaten in Rambokluft einen Krieg um lukrative Ressourcen wie "Blutdiamanten" lieferten und dabei unter der Zivilbevölkerung durch Abschneiden von Gliedmaßen Furcht und Schrecken auslösten, wollte man in London, dem einstigen kolonialen Mutterland, nicht länger wegsehen: im Jahr 2000 wurden endlich 1.000 Soldaten in das Konfliktgebiet geschickt, um der überforderten UN-Friedensmission bei der Entwaffnung der Rebellen zu helfen. Diese viel gelobte Militäraktion in dem Kleinstaat Sierra Leone macht in Umrissen deutlich, wie hoch die finanziellen Kosten solcher humanitären Interventionen in Zukunft sein werden. Eine Debatte in der Öffentlichkeit der EU über die Frage, wie viel den Europäern ihre Sicherheit und die des Nachbarkontinents wert sei - der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr kostet den Steuerzahler jährlich drei Milliarden Euro, Tendenz steigend - steht noch aus.

Auch in Frankreich unter Präsident Chirac, ansatzweise auch in den USA (unter Clinton und Bush) sowie in Deutschland (Reisen von Schröder und Fischer nach Afrika) und anderen Staaten der EU ist eine neue Betroffenheit bei den Regierungen über die Zukunft des "abgeschalteten Kontinents" (Manuel Castels) zu spüren. Das Weggucken der Verantwortlichen im Sicherheitsrat und vor allem in der US-Administration unter Präsident Clinton angesichts eines in Vorbereitung befindlichen Massakers, das zu einem Genozid an rund 800.000 Menschen in Ruanda eskalierte und Vergeltungsmaßnahmen bis in den Kongo auslöste, bei denen noch einmal drei Millionen Menschen umgekommen sind, hat die Notwendigkeit der strukturellen Stabilisierung afrikanischer Governance-Systeme verdeutlicht. Stefan Mair von der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht mit Hinweis auf die Entsendung einer EU-geführten Friedensmission unter robustem UN-Mandat in das Krisengebiet im Nordosten Kongos (Bunia, Ituri) von "Anzeichen einer Wende". Auch die USA haben in ihrer "National Security Strategy 2003" - inspiriert von der Sicherheitsberaterin und Afrikadiplomatin Susan Rice - die neue Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass eine Somalisierung weiterer afrikanischer Regionen (Großes Seengebiet, Westafrikanischer Krisengürtel, Horn von Afrika mit dem bisher unberechenbaren islamischen Militärregime im Sudan) auch die globalen Sicherheitsinteressen der USA gefährden würde - vor allem bei den Bemühungen, die Rückzugsräume für terroristische Netzwerke wie al Qaida unter Kontrolle zu bekommen.

Drittens hat sich im humanitären Völkerrecht und in den Diskussionen von Experten und Meinungsmachern der "Weltöffentlichkeit" ein Gesinnungswandel in Richtung Aufwertung des Opferschutzes als politisch-ethische Handlungsnorm vollzogen. Nicht mehr das Recht der souveränen Staaten auf Nichteinmischung steht im Mittelpunkt der rechtlichen und politischen Bemühungen um Sicherheit und Frieden (wie nach 1945), sondern in Grenz- und Notfällen - genozidförmige Bedrohung von Menschenleben - die Verpflichtung zum Schutz bedrohter Menschen.

In der handlungsethischen Norm "responsibility to protect" hat diese Überzeugung ihren Niederschlag gefunden: Angesichts von Staatszerfall und Regierungsversagen geht das "Prinzip der Nicht-Intervention in das Prinzip der Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft zum Schutz" über - wie es in den Grundsätzen der internationalen NGO "International Commission on Intervention and State Sovereignty" (ICISS) unter Vorsitz des einstigen australischen Außenministers Gareth Evans und Mohamed Sahnoun, dem Sonderberater des UN-Generalsekretärs, heißt. Dabei wird das Prinzip der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit weit interpretiert: als "responsibility to prevent", als "responsibility to react" und auch als "responsibility to rebuild". Letzteres impliziert die Verpflichtung, nach einer militärischen Intervention "volle Unterstützung beim Wiederaufbau und der Versöhnung" zu gewähren. Es ist damit zu rechnen, dass Kriegsgeschehen, soziale Notlagen und instabile politische Governance-Strukturen, einschließlich Staatsverfall und Staatskollaps zu lang anhaltenden Tatbeständen in Afrika südlich der Sahara gehören werden. Auch Beiträge zum konstruktiven "nation-building von unten" werden dazugehören. Krisenprävention, Fluchtursachenbekämpfung und strukturelle Stabilisierung von überlebensfähigen Institutionen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft werden für lange Zeit normale politische Imperative bleiben. Für einzelne Krisenszenarien mit dramatischer Gewalteskalation wie im Ostkongo werden Extraanstrengungen im Sinne der Einlösung des zivilgesellschaftlichen Mandats "responsibility to protect" notwendig sein.

Multilaterale Befriedungsinterventionen militärischer Art aus politischen und sozial-ethischen Gründen werden daher bald zum allgegenwärtigen Instrumentarium einer verantwortungsbewussten Afrikapolitik der EU für sich abzeichnende Katastrophen- und Notfälle werden. Dabei sind viele Fragen offen, wie die neue Rolle der Europäer (und Amerikaner) angesichts der Krisenentwicklung in Afrika ausgefüllt werden kann - als allseits erwünschter Treuhänder unterm Dach der UNO, als vorübergehende Protektoratsmacht mit dem Recht zur Gewaltausübung oder als quasi-staatliche Vormundschafts-Instanz.

Dabei ist wahrscheinlich, dass sich die Regierungen der EU weiterhin bemühen, die logistischen und ope-rativen Kapazitäten regionaler afrikanischer Krisenpräventions- und Befriedungskräfte zu erhöhen - etwa nach dem Vorbild der in westafrikanischen Staatszerfallsländern operierenden ECOMOG der dortigen Wirtschaftsgemeinschaft ECO-WAS, die seit Ende des Ost-West-Konflikts mit westlicher Unterstützung teilweise erfolgreiche Militärinterventionen in Liberia, Sierra Leone und Côte d' Ivoire vorgenommen hat (übrigens ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates). Auch wäre es sinnvoll, die alte Idee kollektiver afrikanischer Eigenverantwortlichkeit (NEPAD-Initiative) als Ergänzung zu notwendig werdenden Interventionen materiell und diplomatisch zu ermutigen.

Rainer Tetzlaff ist Professor für politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.

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