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Rainer Tetzlaff
Gibt es mehr Interventionen in Afrika?
Lokale Probleme mit globalen
Auswirkungen
"Deutsche und europäische
Sicherheitsinteressen werden ab jetzt am Kongo verteidigt" - dieser
Satz ist noch von keinem deutschen Minister oder EU-Kommissar
ausgesprochen worden. Jedoch ist nicht auszuschließen, sondern
zu erwarten, dass nach der nationalstaatlich entgrenzten neuen
Sicherheitskonzeption - analog zur aktuellen Struck-Doktrin, dass
deutsche Interessen am Hindukusch verteidigt werden -
demnächst auch Afrika südlich der Sahara mit seinen
Staatszerfalls- und Bürgerkriegsländern stärker ins
Visier der Außen- und Verteidigungspolitiker der atlantischen
Sicherheitsgemeinschaft geraten wird.
Im Unterschied zu früheren Zeiten, als
imperialisti-sche Groß- und Mittelmächte aus Europa im
Zuge ihrer Expansionspolitik nach Übersee gingen, andere
Völker unterwarfen und sich ihre Bodenschätze
an-eigneten, überwiegen heute statt der klassischen
"push-Faktoren" die "pull-Faktoren" im
Nord-Süd-Verhältnis. Denn die Sicherheitsbedingungen und
Le-bensverhältnisse vor Ort haben sich an
Kriegsschau-plätzen wie Mogadishu/Somalia, Ituri und Bunia im
Ostkongo, in einigen umkämpften Regionen von Süd- und
Westsudan (Juba, Nuba-Berge, Darfur), in Süd-äthiopien
(ungelöstes "Oromo-Problem"), Nordugan-da (Dauerrebellion der
"Lord Resistance Armee") so-wie in den von Rebellen, Warlords und
ethnischen Milizen verunsicherten Gebieten von Tschad und
Zentralafrikanischer Republik, von Liberia und Côte d' Ivoire
derart verschlechtert, dass aus aufgeklärtem Selbstinteresse
diejenigen Staaten auf eine jeder Zeit mögliche Eskalation von
lokaler Gewalt reagieren müssen, die die Mittel zur Beruhigung
der Lage dazu haben: die Staaten der OECD-Welt. Man kann darin die
Schattenseiten der Globalisierung sehen, gleichwohl ist die
Einsicht unabweisbar, dass die politisch gewollte Entgrenzung und
Denationalisierung von Handels- und Kommunikationsaktionen aller
Art auch die interkontinentale Wanderung von erwünschten wie
unerwünschten Migranten auslöst. Politik, vor allem
Entwicklungshilfe- und Sicherheitspolitik, ist im Zeitalter der
Globalisierung komplizierter geworden. Sie bedarf auf
verschränkten lokalen, nationalen und regionalen
Handlungsebenen viel Empathie und Fantasie, neuer Konzepte wie auch
Ressourcen und Instrumente. Sie hat sich dieser neuen Konstellation
transnationaler Räume mit ihren lokalen Problemen und globalen
Auswirkungen zu stellen.
Ob diese Staaten angesichts prekärer
eigener Budgets und hoher Kosten von Militärintervention in
Übersee dafür die politische Bereitschaft aufbringen
werden, ist allerdings nicht sicher, zumal Afrika südlich der
Sahara als potentiell gefährliche geopolitische
Großregion sicherlich erst an dritter Stelle europäischer
Sicherheitsplanung rangiert.
Priorität haben die
Friedenskonsolidierung auf dem Balkan und die Bemühungen um
regionale Konfliktentschärfung und zivilgesellschaftlich
gestützte Staatsbildung im Nahen und Mittleren Osten
(Afghanistan, Irak, Palästina), wo der islamistische
Terrorismus Wurzeln geschlagen hat - auch eine Folge verfehlter und
politisch leichtfertiger Interventionen der Großmächte im
Kalten Krieg.
Mindestens drei Tendenzen, die seit dem Ende
der 90er-Jahre erkennbar sind, weisen in diese Richtung einer
notgedrungenen Aufwertung Afrikas südlich der Sahara als einem
politisch und sozio-kulturell hoch fragmentierten, instabilen
Befriedungsraum, der aus eigener Kraft nicht zu der
gewünschten strukturellen Stabilität finden kann:
kollektive Lernprozesse auf Seiten der politischen Akteure (im
Norden); neue Bedrohungsszenarien aufgrund der Verschlechterung der
Lebens- und Überlebensbedingungen vor Ort
(ein-schließlich der AIDS-Problematik) und schließlich
eine Neuakzentuierung völkerrechtlicher Normen.
Erstens hat die politische und humane
Doppelkatastrophe von Somalia und Ruanda - verfehlte
UN-Militärintervention unter eigenwilliger Leitung der USA
hier, unterlassene Hilfeleistung und verhinderte
Militärintervention der UNO wegen des US-Vetos dort - zu
Beginn der 90er-Jahre und verstärkt durch den 11. September
2001 einen politischen Lernprozess bei den Regierungen der
G8-Staaten ausgelöst oder beschleunigt. Ruanda 1994 hat
gezeigt, dass es zu einer Umsetzung des Konzepts einer an
Menschenrechten, Demokratie und Frieden orientierten
Weltinnenpolitik vielleicht noch zu früh war. Es bedurfte erst
der sieben Staaten umfassenden Katastrophe im Großen
Seengebiet, der von 1994 bis heute wohl weitere drei bis vier
Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein dürften, ehe
ernsthaftere Anstrengungen der Krisenprävention und
Friedensschaffung erkennbar und realisierbar wurden. Man kann von
einem pathologischen Lernprozess auf Seiten der westlichen
Diplomatie sprechen, dessen positives Ergebnis die Aufwertung der
Idee der Krisenprävention ist. Noch handelt es sich im
Kantschen Sinne um eine vor allem "regulative Idee", der die
Instrumente und Ressourcen fehlen. Aber die Einsätze in
Afghanistan, Liberia oder Kongo sind Vorboten einer
interkontinentalen Notgemeinschaft, die zu kooperativem Handeln
über Grenzen und Meere hinweg bereit ist.
Die zweite Tendenz besteht darin, dass aus
realisti-schen Einsichten in historische Kontexte der Konflikte
vermehrt reale politische Entscheidungen zum Handeln getroffen
werden. Allen voran ist wohl Großbritannien unter
Premierminister Tony Blair gegangen, der - wenigstens fallweise -
den Schutz der Menschenrechte zum Ziel politischer und
militärischer Interventionen erklärte und danach
handelte. Als sich in Liberia und Sierra Leone unterschiedliche
ethnische Gruppen, repräsentiert durch kriminelle Banden,
undisziplinierte Kriegsherren, traditionelle Führer und unter
Drogen stehende Kindersoldaten in Rambokluft einen Krieg um
lukrative Ressourcen wie "Blutdiamanten" lieferten und dabei unter
der Zivilbevölkerung durch Abschneiden von Gliedmaßen
Furcht und Schrecken auslösten, wollte man in London, dem
einstigen kolonialen Mutterland, nicht länger wegsehen: im
Jahr 2000 wurden endlich 1.000 Soldaten in das Konfliktgebiet
geschickt, um der überforderten UN-Friedensmission bei der
Entwaffnung der Rebellen zu helfen. Diese viel gelobte
Militäraktion in dem Kleinstaat Sierra Leone macht in Umrissen
deutlich, wie hoch die finanziellen Kosten solcher humanitären
Interventionen in Zukunft sein werden. Eine Debatte in der
Öffentlichkeit der EU über die Frage, wie viel den
Europäern ihre Sicherheit und die des Nachbarkontinents wert
sei - der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr kostet den Steuerzahler
jährlich drei Milliarden Euro, Tendenz steigend - steht noch
aus.
Auch in Frankreich unter Präsident
Chirac, ansatzweise auch in den USA (unter Clinton und Bush) sowie
in Deutschland (Reisen von Schröder und Fischer nach Afrika)
und anderen Staaten der EU ist eine neue Betroffenheit bei den
Regierungen über die Zukunft des "abgeschalteten Kontinents"
(Manuel Castels) zu spüren. Das Weggucken der Verantwortlichen
im Sicherheitsrat und vor allem in der US-Administration unter
Präsident Clinton angesichts eines in Vorbereitung
befindlichen Massakers, das zu einem Genozid an rund 800.000
Menschen in Ruanda eskalierte und Vergeltungsmaßnahmen bis in
den Kongo auslöste, bei denen noch einmal drei Millionen
Menschen umgekommen sind, hat die Notwendigkeit der strukturellen
Stabilisierung afrikanischer Governance-Systeme verdeutlicht.
Stefan Mair von der Stiftung Wissenschaft und Politik spricht mit
Hinweis auf die Entsendung einer EU-geführten Friedensmission
unter robustem UN-Mandat in das Krisengebiet im Nordosten Kongos
(Bunia, Ituri) von "Anzeichen einer Wende". Auch die USA haben in
ihrer "National Security Strategy 2003" - inspiriert von der
Sicherheitsberaterin und Afrikadiplomatin Susan Rice - die neue
Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass eine Somalisierung weiterer
afrikanischer Regionen (Großes Seengebiet, Westafrikanischer
Krisengürtel, Horn von Afrika mit dem bisher unberechenbaren
islamischen Militärregime im Sudan) auch die globalen
Sicherheitsinteressen der USA gefährden würde - vor allem
bei den Bemühungen, die Rückzugsräume für
terroristische Netzwerke wie al Qaida unter Kontrolle zu
bekommen.
Drittens hat sich im humanitären
Völkerrecht und in den Diskussionen von Experten und
Meinungsmachern der "Weltöffentlichkeit" ein Gesinnungswandel
in Richtung Aufwertung des Opferschutzes als politisch-ethische
Handlungsnorm vollzogen. Nicht mehr das Recht der souveränen
Staaten auf Nichteinmischung steht im Mittelpunkt der rechtlichen
und politischen Bemühungen um Sicherheit und Frieden (wie nach
1945), sondern in Grenz- und Notfällen - genozidförmige
Bedrohung von Menschenleben - die Verpflichtung zum Schutz
bedrohter Menschen.
In der handlungsethischen Norm
"responsibility to protect" hat diese Überzeugung ihren
Niederschlag gefunden: Angesichts von Staatszerfall und
Regierungsversagen geht das "Prinzip der Nicht-Intervention in das
Prinzip der Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft
zum Schutz" über - wie es in den Grundsätzen der
internationalen NGO "International Commission on Intervention and
State Sovereignty" (ICISS) unter Vorsitz des einstigen
australischen Außenministers Gareth Evans und Mohamed Sahnoun,
dem Sonderberater des UN-Generalsekretärs, heißt. Dabei
wird das Prinzip der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit weit
interpretiert: als "responsibility to prevent", als "responsibility
to react" und auch als "responsibility to rebuild". Letzteres
impliziert die Verpflichtung, nach einer militärischen
Intervention "volle Unterstützung beim Wiederaufbau und der
Versöhnung" zu gewähren. Es ist damit zu rechnen, dass
Kriegsgeschehen, soziale Notlagen und instabile politische
Governance-Strukturen, einschließlich Staatsverfall und
Staatskollaps zu lang anhaltenden Tatbeständen in Afrika
südlich der Sahara gehören werden. Auch Beiträge zum
konstruktiven "nation-building von unten" werden dazugehören.
Krisenprävention, Fluchtursachenbekämpfung und
strukturelle Stabilisierung von überlebensfähigen
Institutionen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft
werden für lange Zeit normale politische Imperative bleiben.
Für einzelne Krisenszenarien mit dramatischer Gewalteskalation
wie im Ostkongo werden Extraanstrengungen im Sinne der
Einlösung des zivilgesellschaftlichen Mandats "responsibility
to protect" notwendig sein.
Multilaterale Befriedungsinterventionen
militärischer Art aus politischen und sozial-ethischen
Gründen werden daher bald zum allgegenwärtigen
Instrumentarium einer verantwortungsbewussten Afrikapolitik der EU
für sich abzeichnende Katastrophen- und Notfälle werden.
Dabei sind viele Fragen offen, wie die neue Rolle der Europäer
(und Amerikaner) angesichts der Krisenentwicklung in Afrika
ausgefüllt werden kann - als allseits erwünschter
Treuhänder unterm Dach der UNO, als vorübergehende
Protektoratsmacht mit dem Recht zur Gewaltausübung oder als
quasi-staatliche Vormundschafts-Instanz.
Dabei ist wahrscheinlich, dass sich die
Regierungen der EU weiterhin bemühen, die logistischen und
ope-rativen Kapazitäten regionaler afrikanischer
Krisenpräventions- und Befriedungskräfte zu erhöhen
- etwa nach dem Vorbild der in westafrikanischen
Staatszerfallsländern operierenden ECOMOG der dortigen
Wirtschaftsgemeinschaft ECO-WAS, die seit Ende des
Ost-West-Konflikts mit westlicher Unterstützung teilweise
erfolgreiche Militärinterventionen in Liberia, Sierra Leone
und Côte d' Ivoire vorgenommen hat (übrigens ohne Mandat
des UN-Sicherheitsrates). Auch wäre es sinnvoll, die alte Idee
kollektiver afrikanischer Eigenverantwortlichkeit
(NEPAD-Initiative) als Ergänzung zu notwendig werdenden
Interventionen materiell und diplomatisch zu ermutigen.
Rainer Tetzlaff ist Professor für
politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.
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