|
|
Kurt Bangert
Fast die Hälfte aller Afrikaner lebt in
Armut
Kritiker halten das "Aktionsprogramm 2015" der
Bundesregierung für zu gering
Rund 1,2 Milliarden Menschen haben weniger als einen Dollar am
Tag zum Leben. Damit lebt jeder fünfte Mensch auf Erden in
extremer Armut. Die meisten von ihnen finden wir in Afrika, wo
nahezu die Hälfte - fast 300 Millionen Menschen - in absoluter
Armut lebt. Weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung zu
haben, bedeutet jedoch nicht nur, einen ständigen
Überlebenskampf zu führen. Ein solcher Zustand stellt
eine Verletzung der Menschenrechte dar, eine Missachtung der
Menschenwürde. Und ein Armutszeugnis für die
Entwicklungspolitik.
Die Völkergemeinschaft hat sich zwar vorgenommen, dies
nicht länger hinzunehmen. Beim Jahrtausendgipfel der Vereinten
Nationen im September 2000 verpflichteten sich 189 Staats- und
Regierungschefs, bis 2015 die extreme Armut in der Welt zu
halbieren. In der Millenniums-Erklärung wurden dazu acht Ziele
formuliert, nämlich: die Halbierung von extremer Armut und
Hunger; Primärschulbildung für alle; Förderung der
Gleichstellung der Geschlechter; Reduzierung der
Kindersterblichkeit; Verbesserung der Gesundheitsversorgung der
Mütter; Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria; Tuberkulose und
anderen armutsbedingten Krankheiten; ökologische
Nachhaltigkeit sowie der Aufbau einer weltweiten
Entwicklungspartnerschaft zwischen Nord und Süd.
In seinem Zwischenbericht vom 2. September 2003 klang
UN-Generalsekretär Kofi Annan noch zuversichtlich, als er
schrieb: "Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte haben wir die
Mittel, das Wis-sen und die Expertise, um menschliche Armut
auszumerzen - und es sogar innerhalb der Lebensspanne eines zum
Zeitpunkt der Millenniums-Erklärung geborenen Kindes zu tun."
In seinem Bericht machte er aber auch deutlich, dass die ersten
sieben Jahrtausend-Ziele vor allem von der Umsetzung des achten
(globale Partnerschaft) abhängen.
Die Bundesregierung hat die Millenniumsziele nicht nur
ausdrücklich befürwortet, sondern auch ein
"Aktionsprogramm 2015" unter Federführung des
Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung vorgelegt, das am 4. April 2001 vom Kabinett
verabschiedet wurde. Das rund 50-seitige Papier liest sich gut.
Oppositionspolitiker sehen es jedoch eher kritisch. Laut Professor
Winfried Pinger aus Köln, dem langjährigen
entwicklungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
haben die Autoren im Entwicklungsministerium nur alles
aufgeschrieben, was sie ohnehin machen, um dies unter der
Überschrift "Aktionsprogramm 2015" zusammenzufassen. Weil es
unpräzise blieb, fügten sie noch ein Kapitel zur
"Umsetzung" an, in dem zwar keine Einzelheiten erläutert,
dafür aber drei sinnvolle Maßnahmen angekündigt
wurden: Als erstes die Einrichtung eines Dialogforums 2015,
zweitens ein Umsetzungsplan und zum Schluss eine Kampagne der
Bundesregierung, um "die Öffentlichkeit anzusprechen und zu
Verhaltensänderungen und Engagement zu bewegen".
Was ist daraus geworden? Ein Dialogforum wurde zwar ins Leben
gerufen, traf sich aber nur zweimal. Der Umsetzungsplan lässt
auf sich warten. Auch von der Kampagne der Regierung ist bislang
nichts zu sehen. Die kirchlichen Hilfswerke bescheinigen der
Bundesregierung zwar "eine gewisse Entschlossenheit und Tatkraft",
beanstanden aber die fehlende Wirkungsorientierung und mangelnde
Prioritätensetzung (GKKE-Bericht).
Seit dem Millennium-Gipfel sind mittlerweile mehr als drei Jahre
vergangen - drei von 15 bis zum Jahr 2015, wenn die
Weltgemeinschaft die Halbierung der Armut erreicht haben will. Doch
damit dieses Ziel kei-ne Utopie bleibt, gönnten sich die
Vereinten Nationen bei der Verabschiedung auf dem Millennium-Gipfel
auch noch den Luxus, nicht die (damals noch unvoll-ständigen)
Zahlen von 2000 zugrunde zu legen, sondern die von 1990 -
eigentlich ein fauler Trick. Es war nämlich bereits 2000
erkennbar, dass - basierend auf den Zahlen für 1990 - die
Halbierung in einigen Regionen bald erreicht sein würde.
Für andere Regionen indes bleibt dieses Ziel noch weit
entfernt.
Allein 37 von 67 Ländern, von denen Daten vorliegen, haben
in den 90er-Jahren Rückschritte erfahren, das heißt einen
Zuwachs an extremer Armut gesehen. Gerade in Schwarzafrika konnten
im letzten Jahrzehnt nur 15 Staaten ihr Pro-Kopf-Einkommen
steigern; 24 afrikanische Länder dagegen erlebten einen
Rückgang oder eine Stagnation im durchschnittlichen
Einkommen.
Schauen wir uns die absoluten Zahlen an: Nach einem Bericht der
Weltbank von 2002 lag die Zahl derer, die mit weniger als einem
Dollar am Tag auskommen mussten, 1990 bei 1,276 Milliarden. 1999
war diese Zahl trotz erheblicher Anstrengungen bei der
Entwicklungszusammenarbeit und trotz wirtschaftlichen Wachstums nur
unwesentlich niedriger, nämlich rund 1,15 Milliarden. Spart
man China aus, stellen wir sogar einen Zuwachs der extrem Armen
fest: 1990 lebten 916 Millionen Menschen außerhalb Chinas
unter der 1-Dollar-Grenze. 1999 waren es 936 Millionen. Bei der
Beurteilung der Zahlen muss zudem berücksichtigt werden, dass
wir inzwischen einen Zuwachs der Weltbevölkerung zu
verzeichnen hatten: Von etwa fünf Milliarden 1990 auf rund
sechs Milliarden 1999/2000. Bis zum Jahr 2015 wird sie sich
wahrscheinlich auf über sieben Milliarden erhöht haben.
Somit ist ein weiteres Anwachsen der extrem Armen zu
befürchten.
Wie könnte die Armutshalbierung erreicht werden? Gehen wir
davon aus, dass wir als Weltgemeinschaft die Zahl derer in extremer
Armut bis 2015 um die Hälfte auf 600 Millionen reduzieren
wollen. Wie soll man 600 Millionen Menschen helfen, über die
Armutsgrenze von einem Dollar pro Tag zu kommen? Ein Weg wäre,
die allgemeinen Rahmenbedingungen der armen Länder zu
verbessern, was auch erklärtes Ziel der Bundesregierung ist:
mehr Demokratie, mehr good governance, Entschuldung der
hochverschuldeten Länder, Stabilisierung der Wirtschaft und
mehr ausländische Direktinvestitionen, weniger Staatsausgaben
für Militär und mehr für Gesundheit und Bildung. Der
"Sicker-Effekt" aber zugunsten der Armen würde zu lange auf
sich warten lassen, um das Ziel bis 2015 zu erreichen. Eine zweite
sinnvolle Methode wäre, die Landstriche mit einem hohen Anteil
an extrem Armen zu identifizieren, dort gezielt Brunnen und
Bewässerungsanlagen, Schulen und Krankenstationen zu bauen und
den Menschen zu helfen, die Land- und Viehwirtschaft zu verbessern.
Eine dritte, sehr effektive Art der direkten Armutsbekämpfung
wäre die Vergabe von Kleinkrediten, in Form von
Sachgütern wie Saatgut oder Haustieren. Gerade in Afrika, wo
die Armut eine "visage feminine" hat, ein weibliches Gesicht, wird
sie fortgeschrieben, weil die Frauen keinen Zugang zu Kapital
haben, um sich in anderen Berufen als der traditionellen
Landwirtschaft zu versuchen.
Um also die Zahl der 1,2 Milliarden in absoluter Armut zu
halbieren, müssten mindestens 600 Millionen Menschen ein
Darlehen in Höhe von 200 Dollar erhalten, hat doch die
Erfahrung mit Kleinkrediten gezeigt, dass man damit das Einkommen
der extrem Armen über einen Dollar heben kann. Das wären
insgesamt 120 Milliarden Dollar. Professor Winfried Pinger hat
vorgerechnet, dass die derzeitigen finanziellen Leistungen
Deutschlands im Rahmen der internationalen Gebergemeinschaft, die
Quote der offiziellen weltweiten Entwicklungshilfe, bei acht
Prozent liegen. Ausgehend davon müsste Deutschland für
acht Prozent von 600 Millionen verantwortlich zeichnen - für
48 Millionen Menschen also, die "die Chance erhalten, durch
deutsche Hilfe zur Selbsthilfe aus dem Elend herauszukommen". Wenn
diese 48 Millionen über die nächsten zwölf Jahre
einen Kredit über 200 Dollar erhalten sollen, wären dies
rund 49,6 Milliarden - im Vergleich erheblich weniger, als der
Westteil Deutschlands seinerzeit an Marshallplan-Geldern
erhielt.
Über die zwölf verbliebenen Jahre bis 2015 verteilt,
wäre dies keineswegs unmöglich zu finanzieren. Allerdings
müssten gleichzeitig für die betroffenen Regionen Mittel
für Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung, Umweltschutz und
Infrastruktur bereit gestellt werden, ohne die die mit
Kleinkrediten versorgten Armen langfristig auch nicht erfolgreich
wirtschaften könnten. Zwar darf der rot-grünen Regierung
bescheinigt werden, dass sie - anders als ihre CDU-geführte
Vorgängerin, - immerhin den Entschuldungsprozess der
ärmsten (HIPC)-Länder vorangetrieben hat, aber eine klare
Schwerpunktsetzung in Richtung Halbierung der absoluten Armut ist
bisher nicht erkennbar, auch wenn die Bundesentwicklungsministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul im Juni 2003 deren Dringlichkeit sehr
wohl erkannt hat: "Sollten wir dieses Ziel nicht erreichen, setzen
wir unsere eigene Sicherheit und unseren eigenen Wohlstand aufs
Spiel."
Die Vereinten Nationen haben den Wert von Kleinkrediten für
die Millenniumsziele erkannt und 2005 als "Internationales Jahr des
Kleinkredits" ausgerufen.
Kurt Bangert ist Leiter des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit
und Anwaltschaft bei World Vision Deutschland e. V.
Zurück zur
Übersicht
|