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Sonja Hegasy
Die Generation Mohammed VI.
Modernes Marokko: Reformen ja - aber von
oben
"Danke, Majestät", titelte im vergangenen
Jahr die oppositionelle marokkanische Wochenzeitschrift "TelQuel".
Auf dem Titelbild sieht man den König lässig mit
Sonnenbrille, Jeans und schwarzer Lederjacke. Nein, ganz so
royalistisch war die sonst so freche Redaktion doch nicht und
fügte ein Fragezeichen hinzu. Worum ging es? Im März 2003
waren neun Mitglieder der Heavy-Metal Bands Nekros und Reborn sowie
fünf ihrer Anhänger zu Haftstrafen bis zu einem Jahr
verurteilt worden mit der Begründung, die öffentliche
Ordnung zu stören und einem Satanskult anzuhängen.
Dabei hatten sie nichts anderes gemacht als
das, was Jugendliche weltweit tun: schwarze T-Shirts anziehen und
in dunklen Kellern Heavy Metal spielen. Ihre Fans gingen auf die
Barrikaden. Sie stellten Petitionen ins Netz und organisierten
Sit-ins vor dem Gericht in Casablanca, zu denen 4.000 bis 5.000
Menschen kamen. Nur vier Wochen später wurden elf der
Angeklagten in zweiter Instanz freigesprochen; drei einjährige
Haftstrafen wurden auf 45 Tage reduziert. "TelQuel" geht davon aus,
dass Mohammed VI. die Annullierung der Urteile aus erster Instanz
hinter den Kulissen veranlasste. Daher bedankte sich die Redaktion
auf der Titelseite bei ihm.
In Ägypten hatte es Ende der 90er-Jahre
einen ähnlichen Fall gegeben, denn der Kampf mit den
Islamisten wird in erster Linie auf dem kulturellen Feld
ausgefochten. 80 "westlich" gekleidete Jugendliche lan-deten damals
in Untersuchungshaft. Man warf ihnen Satanskult vor, damit
Apostasie - worauf die Todesstrafe steht - ein Tatbestand, den es
in der marokkanischen Rechtsprechung nicht gibt. "Globalisierte
Jugendkultur versus islamistische Monokultur" könnte man diese
Auseinandersetzung nennen. Mohammed VI. will sich eindeutig auf
Seiten der globalisierten Jugend sehen. Sein Eingreifen
fördert zwar nicht die Unabhängigkeit der Justiz, bringt
Marokko aber auf dem Weg der Bürgerfreiheiten und des
Pluralismus voran. Das Gebaren des jungen Königs seit seiner
Thronbesteigung: Reformen ja, aber von oben. Öffnung ja, aber
durch ihn. Dezentralisierung ja, aber gesteuert vom "makhzen", dem
Zentrum des Staatsapparates.
Die heute unter 40-jährigen Marokkaner
kannten bis zu seinem Tod 1999 nur die Herrschaft Hassans II.
Insbesondere junge Menschen, inzwischen mehr als zwei Drittel der
Bevölkerung, sympathisieren mit seinem 1963 geborenen
Nachfolger. Er ist nicht so unnahbar wie sein Vater. Offiziell sind
Kniefall und Handkuss abgeschafft. 1994 veröffentlichte der
ehemalige Praktikant von Jacques Delors seine Dissertation zum
Thema "La Coopération entre l'Union Européenne et les
pays du Maghreb." Seine Hochzeit mit einer berufstätigen
Informatikerin aus dem Mittelstand sorgte für Aufsehen.
Entgegen allen Traditionen stellte er seine Frau der
Öffentlichkeit vor. Neuere Zeitungsfotos zeigen ihn betend im
Anzug, statt im traditionellen Gewand. Und er fördert Sport
und Popkultur. So gibt es seit zwei Jahren das renommierte,
internationale Musikfestival Mawazine, das bei freiem Eintritt in
den Parks von Rabat stattfindet. Höhepunkt des Festivals war
im vergangenen Jahr der Auftritt der Band RAÏ-X, die
maghrebinischen Raï mit Salsa mischt. Der Boulevard des Jeunes
Musiciens in Casablanca präsentiert junge marokkanische Rap,
Hip Hop, Rock und Heavy Metal Bands. Aus allen Teilen des Landes
kommen Bands wie Tora Bora, Blad Bomb, Kif Kif oder die beiden
Anfang 2003 Verurteilten zusammen. Sie singen in marokkanischem
Dialekt gegen den gesellschaftlichen "Hyperkonformismus". Mit
provozierenden Texten wie "Sag mir, wo die Reichtümer des
Landes sind/Sag mir, wer seinen Besitz gestohlen hat/Deine Antwort
findest Du bei einem Journalisten, dem man seinen Broterwerb
weggenommen hat/Wegen seiner Ideen, seinem Blatt Papier und seinem
Stift/Sie haben ihm eine rote Linie aufgezeichnet und ihm gesagt:
Aufgepasst, nicht überschreiten", rast die Gruppe Kif Kif
über einen Aufruf der Islamisten, Mohammed VI. solle die
Auslandsgelder der Monarchie repatriieren und über den Hunger
streikenden Journalisten Ali Lmrabet. 7.000 Jugendliche haben das
Festival der Untergrundmusik mit 36 marokkanischen und vier
europäischen Bands im Sommer 2003 besucht. Fusion Bands
präsentierten einen Mix aus klassischen Rhythmen und globaler
Musikkultur. Der Pluralismus wird aber nicht nur in der Kultur
gefördert. Zum ersten Mal erkennt mit Mohammed VI. ein
marokkanischer König die berberische Kultur und Sprache als
zentrales Element der nationalen Identität des Landes an. In
seiner Thronrede vom 30. Juli 2001 kündigte er die
Gründung eines königlichen Instituts für
Berberkultur an, "besorgt, die Säulen, auf denen unsere
historische Identität beruht, zu konsolidieren, und um unserer
Berberkultur, die einen nationalen Reichtum darstellt, sowohl einen
neuen Impuls als auch die Mittel zu geben, ihre Kultur zu bewahren
und zu entwickeln, haben wir die Gründung eines
königlichen Instituts für Berberkultur beschlossen".
Damit können Berberdialekte nun auch in Schulen unterrichtet
werden; eine Forderung, die in Algerien lange ignoriert
wurde.
Mohammed VI. nennt drei Bereiche, die
Schwerpunkt seiner Herrschaft sein sollen: Armutsbekämpfung,
Durchsetzung eines Rechtstaats und Gleichberechtigung der Frau. Als
Reaktion auf die französische Kolonisation wurde nach der
Unabhängigkeit (1956) als erstes ein einheitliches Ehe- und
Familienrecht entworfen. Zum einen sollten dadurch die
konservativ-patriarchalen Kräfte zufrieden gestellt werden;
zum anderen sollte die unwandelbare Identität der Frau
für Kontinuität in der muslimischen Gesellschaft
sorgen.
Die marokkanische Familienstandsgesetzgebung
be-zieht sich ausdrücklich auf die klassischen Quellen
is-lamischer Rechtssprechung (Koran, Vorbild des Pro-pheten,
Analogieschluss und Konsens der Gelehrten). Demnach ist der Ehemann
wie im römischen Recht pater familias und die Ehefrau
untertan. Seit der Unabhängigkeit Marokkos kritisiert die
Frauenrechtsbewegung, dass der Abhängigenstatus von Frauen
rechtlich festgeschrieben ist. Aufgrund ihrer Teilnahme am
Unabhängigkeitskampf hatten sie eine rechtliche Gleichstellung
erwartet. In einem Vergleich von vier verschiedenen
Familiengesetzen im Maghreb bezeichnet der Jurist und
Islamwissenschaftler Hans-Georg Ebert die Diskussion um die
Familien-standsgesetzgebung in maghrebinischen Ländern als
"sensiblen Gradmesser" für die Interaktion zwischen Staat und
Bürgern.
Insbesondere mit Blick auf die staatliche
Frauenförderpolitik kann Mohammed VI. Erfolge vorweisen.
Über eine vor den letzten Wahlen eingeführte Quote sind
seit September 2002 mehr als 30 Frauen im Parlament vertreten. Die
Parlamentswahlen endeten jedoch auch mit einer weiteren
Überraschung: Die gemäßigt islamistische Partei der
Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) verdreifachte ihre Sitze auf
42, darunter vier Frauen, und ist stärkste
Oppositionskraft.
Zur Eröffnung des Parlaments im Oktober
2003 hielt Mohammed VI. eine mutige Rede, in der er die Reform des
Familienrechts gegen starke Proteste islamistischer Kreise wieder
auf die Tagesordnung setzte. Aber diesmal mit konkreten
Vorschlägen, die für die islamische Welt
revolutionär sind: Frauen brauchen keinen Vormund mehr, um zu
heiraten. Das Mindestheiratsalter wird von 15 auf 18 Jahre hinauf
gesetzt. Auch Frauen dürfen künftig die Scheidung
einreichen. Sogar die Polygamie wurde vom König
eingeschränkt, obwohl Feministinnen diesen Punkt bisher
ignorierten, da sie gar kein gesellschaftliches Phänomen mehr
ist. Zu häufig hatte die Forderung nach Abschaffung der
Polygamie die Islamisten auf den Plan gerufen und so wichtigere
Reformideen blockiert. Sie stilisieren die Polygamie trotz der
Tatsache, dass sie in vielen arabischen Staaten heute verpönt
ist, zu einem Kernelement "klassisch"-patriarchaler islamischer
Identität.
Man kann das Tempo gesellschaftlicher
Veränderungen in Marokko als schleppend beschreiben. Man kann
es genauso gut als schrittweise bezeichnen. Unter
Politikwissenschaftlern gibt es eine auffällige Inkonsistenz
bei der Beurteilung von Demokratisierungs- beziehungsweise
Modernisierungsfortschritten des Landes: So meinte 1999 Remy
Leveau, einer der bekanntesten französischen Experten, dass
der königliche Handkuss Marokkos Politik behindere. Die
Tatsache, dass Mohammed VI. als eine der ersten Amtshandlungen
diese Hofetikette abschaffte - auch wenn es weiterhin Personen
gibt, die ihm so ihre Ehrerbietung erweisen wollen - hat dagegen
wenig Beachtung gefunden. Die amerikanische Ethnologin Susan
Slyomovics erklärte 2001, Mohammed VI. habe seinen Vater nie
öffentlich kritisiert. Was aber war die Thematisierung von
Rechtsstaat und Menschenrechten in seiner ersten Thronrede sieben
Tage nach dem Tod von Hassan II. - während der sakrosankten 40
Tage Trauerzeit - anderes als massive Kritik am Vater?
"Refolution" taufte der englische Historiker
Timothy G. Ash die Kombination von Revolution und Reformation Ende
der 80er-Jahre in der DDR. Für einen Teil der marokkanischen
Jugend repräsentiert Mohammed VI. ihre Hoffnungen auf einen
gesellschaftlich-politischen Umbruch.
Dr. Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin
am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin.
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