Elisabeth Boesen und Georg Klute
Direkt von der Wüste in die Stadt
Moderne Migration von Nomaden aus dem
Sahara-Sahelraum
Die größte Wüste der Erde und ihr südlich
angrenzendes "Ufer" werden vor allem als Hunger- oder
Krisengebiete, allenfalls als touristische Regionen wahrgenommen.
Sahara und Sahel gelten als Ränder der bewohnten Welt. Obwohl
Mobilität die moderne Gesellschaft auszeichnet, ist die
Teilhabe an ihr offenbar an Sesshaftigkeit gebunden. Wo Nomadismus
herrscht, ist Peripherie. Die Verdichtung des globalen Austauschs
erfasst diese Peripherie nur partiell - als sporadische
Hungerhilfe, zunehmender Touristenstrom, zur Rohstoffgewinnung oder
aber in einem Spektakel wie der Rallye Paris-Dakar.
Auch innerafrikanische "Ströme" berühren das Gebiet
nur flüchtig; es ist ein Transitraum zwischen getrennten
ökonomischen und kulturellen Regionen. Die Wüste trennt
Schwarzafrika vom Maghreb. Sie war aber auch immer Durchgangs- und
Lebensraum, was spätestens dann deutlich wird, wenn ihre
Bewohner - wie in der Westsahara, Algerien, Mali und Niger - sie
zeitweilig mehr oder weniger unpassierbar machen. In jüngster
Zeit ist die Vorstellung von dieser Peripherie denn auch durch eine
weitere ergänzt worden: als Heimstatt von Rebellen und
Terroristen erscheint sie gleichzeitig als Ort, an dem
Informations-, Waren- und Kapitalströme zusammenfließen.
Mit den Tuareg-Rebellionen der 90er-Jahre und der Geiselnahme vom
vergangenen Jahr hat die Sahara die Qualität des
"deterritorialisierten" Raumes angenommen.
Seit der Dürre der 70er-Jahre verbinden Nomaden aus dem
Sahara-Sahel-Raum ihre Viehhaltung in zunehmendem Maße mit
anderen mobilen Aktivitäten, in erster Linie saisonaler
Arbeitsmigration in urbane Zentren. Welche ökonomischen und
sozialen Auswirkungen diese Reisen auf die Herkunftsregionen haben,
ist kaum bekannt. Es spricht einiges dafür, dass die Herkunft
der Migranten ihren modernen Nomadismus, ihre Teilhabe an urbanen
und globalen Austauschprozessen, in spezifischer Weise
prägt.
Noch bis in die 70er-Jahre wurde die mobile Vieh-haltung vor
allem als Anpassung an ökologische Bedingungen betrachtet. Die
Wanderungen von Nomaden leitete man als Variable des Vorhandenseins
von Weide und Wasser ab, als reagierten die Nomaden, wie ihre
Tiere, ausschließlich auf die Erfordernisse der Natur. Damit
wurde ihnen eine primitive Lebensweise unterstellt, die mit
moderner wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung
unvereinbar sei. Andere betonten die Irrationalität dieser
Wirtschaftsweise, die der Umwelt schade. Die Sesshaftwerdung schien
aus diesem Blickwinkel wünschenswert zu sein.
Die von dem norwegischen Anthropologen Frederick Barth gewonnene
Einsicht, dass die Sesshaftwerdung die reichsten und die
ärmsten Nomadenfamilien betrifft, die sich anderen
wirtschaftlichen Aktivitäten zuwenden, wurde weitgehend als
allgemeingültiger Prozess anerkannt. In den vergangenen
Jahrzehnten ist die Annahme von einem kontinuierlichen
Rückgang der nomadischen Bevölkerung jedoch
fragwürdig geworden. Sie hat sich als flexibel und innovativ
erwiesen und ist der Stadt und dem städtischen Leben
näher gerückt, ohne ihre nomadische Identität
einzubüßen. Die seit Ibn Khaldun bestehende Vorstellung
von der zersetzenden Wirkung des städtischen Lebens auf die
asketische Nomadenkultur trifft auf die aktuellen Entwicklungen
offenbar nicht zu. Man könnte sogar meinen, dass der
Fortbestand nomadischer Gruppen zunehmend von ihrer Integration in
moderne urbane Strukturen abhängt.
Bei den Migrationen im Sahara-Sahelraum handelt es sich um ein
relativ rezentes Phänomen. Während die Wanderarbeit in
bäuerlichen Gemeinschaften Westafrikas seit der Kolonialzeit
allmählich zu einem Bestandteil der Ökonomie geworden
war, setzte die massenhafte Migration bei Viehhaltern erst mit der
Dürre der 70er-Jahre ein. Dass Nomaden nun in großer Zahl
zum Verlassen ihrer Region gezwungen waren, hat aber nicht nur
ökologische Ursachen. Der umfassende soziale Kontext ihrer
Ökonomie hatte sich verändert. Zum einen konnten sie auf
die Krise kaum mehr durch die (Wieder-) Aufnahme
landwirtschaftlicher Aktivitäten reagieren, weil die
verfügbaren Anbauflächen durch Bevölkerungswachstum,
"cash-crop"-Produktion et cetera merklich zurückgegangen
waren.
Zum anderen waren die Grundlagen der nomadi-schen Wirtschaft mit
Beginn der Kolonisation immer labiler geworden. Im Fall der Tuareg
waren die Einnahmen aus dem Transsaharahandel schon vor der
eigentlichen kolonialen Eroberung zurückgegangen. Ein
verstärktes Ausweichen auf die Viehzucht und - regional
begrenzt - den Ackerbau konnte diese Verluste eine Zeitlang
kompensieren. Mit der massenhaften Einführung von
Anbaukulturen für den Markt seit den 50er-Jahren jedoch wurden
die Viehhalter zunehmend ihrer besten, südlich gelegenen
Weiden beraubt. Die Zunahme von Motorfahrzeugen hatte zur Folge,
dass auch die Dienstleistungen von Nomaden im regionalen
Transportwesen immer weniger nachgefragt wurden.
Die regionalen sozio-ökonomischen Systeme erwiesen sich in
der Krise als nicht länger funktionstüchtig, die Nomaden
mussten ihren Handlungsraum zu einem "transnationalen" ausweiten.
Dieser Begriff ist im nomadischen Kontext wenig hilfreich, da
nationalstaatliche Grenzen regelmäßig überschritten
werden. Sinnvoller ist es, von "Translokalität" zu sprechen,
wenn "Lokalität" nicht nur räumlich, sondern als
Handlungs- und Erfahrungsraum begriffen wird.
Nomadische Lebensweise bedeutet einerseits Randständigkeit
und Isolation. Andererseits waren Nomaden stets auf sesshafte
Bevölkerungen angewiesen. Allerdings gibt es auch
Unterschiede: Bei den modernen Migrationen werden heute einerseits
größere Distanzen zurückgelegt, zum anderen handelt
es sich bei der modernen Migration nicht länger um
Tätigkeiten, die nur von vergleichsweise wenigen
beziehungsweise nur in Krisenlagen ausgeübt werden. Vielmehr
ist die Migration bei den Nomaden des Sahara-Sahelraumes zu einem
allgemeinen Phänomen geworden.
Während der Austausch mit Sesshaften bei traditi-onalen
Nomaden begrenzt ist, sind ihm in den Städten kaum mehr
Grenzen gesetzt. Doch scheinen die Migranten sich in der Stadt
weitgehend auf Aktivitäten zu beschränken, die mit ihrer
Herkunft, mit ihrer Nomaden-Identität assoziiert werden oder
mit bestimmten nomadischen Qualitäten und Wertorientierungen
in Einklang zu bringen sind. Dies trifft beispielsweise auf die
Tätigkeit als Nachtwächter zu. Diese Arbeit verlangt
einerseits Eigenschaften, die die städtische Bevölkerung
mit dem Hirtenleben in der Wildnis assoziiert wie Tapferkeit und
Wachsamkeit, andererseits sind mit ihr keine physischen
Anstrengungen verbunden, die von Nomaden als beschämend
empfunden werden könnten. Eine weitere bedeutende
Aktivität ist der Handel mit bestimmten Gütern, der nicht
selten von der Art grenzüberschreitenden, von den Staaten als
illegal definierten Schmuggels ist.
Nomadische Migranten scheinen die anderweitige Vielfalt der
Stadt, insbesondere das Angebot zum Erwerb neuartigen Wissens und
neuartiger Güter, stärker zu nutzen als die urbanen
Arbeitsmöglichkeiten. Moderne Tuaregmigranten haben die Idee
einer "nationalen Befreiung" in Palästina erlernt, wo sie als
Söldner für den libyschen Revolutionsführer
gekämpft haben, um sie einige Jahre später in "eigene"
Aufstände gegen die Regierungen ihrer Herkunftsländer zu
übersetzen. Durch die modernen Wanderungen könnten auch
Transformations- oder Modernisierungsprozesse befördert
werden. Anders als Modernisierungstheorien postuliert hatten, haben
bäuerliche Migrationen in der Regel keineswegs einen
Entwicklungsschub in den Herkunftsregionen bewirkt. Einnahmen der
Wanderarbeit flossen kaum je in die landwirtschaftliche Produktion
und wurden sehr häufig auch nicht in andere Erwerbszweige
investiert.
Vieles deutet darauf hin, dass sich migrierende Nomaden in
wirtschaftlicher Hinsicht anders verhalten. Lange Zeit galten der
Traditionalismus, das Festhalten an einer nomadischen Lebensweise
und vor allem die Bindung an ihr Vieh als Entwicklungsproblem:
afrikanische Nomaden schienen zur Modernisierung ihrer
Wirtschaftsweise nicht bereit. Es stellt sich jedoch die Frage, ob
nicht gerade dieses Festhalten und das Beharren auf ihrer
Identität hilft, moderne Elemente in die
familienwirtschaftlich orientierte Ökonomie von Nomaden zu
integrieren. Das erklärte Ziel vieler moderner Nomaden, die
inzwischen auch in den west- und nordafrikanischen Metropolen
zuhause sind, ist die Investition ihres Verdienstes in Vieh als die
Bewahrung einer nomadischen Lebens- und Wirtschaftsweise und die
Erhaltung eines nomadischen Lebensraumes.
Die Migrationen von Nomaden aus dem Sahara-Sahelraum haben
bislang nicht zu deren Sesshaftwerdung geführt. Die
Aufenthalte in den Städten sind in aller Regel kurz; an eine
Niederlassung ist nicht gedacht. Ein "Sich-Einrichten" findet in
begrenztem Maße statt; Nomaden leben in den Städten als
"Fremde".
Auch die Sahara-Touristen werden von der Idee des Fremden
angezogen. Sie wollen gerade nicht die Assimilation der nomadischen
an die westliche Lebensweise. Sie erwarten das ganz Andere, das
(exotische) "Fremde" zu sehen, und sie bekommen in aller Regel, was
sie erwarten und wofür sie zahlen. Die Begegnungen der Nomaden
mit Touristen in der Sahara und ihre Migrationen aus dem
Sahara-Sahel-Raum in die Städte West- und Nordafrikas aber
deuten an, dass die Marginalität dieser Nomaden heute weit
geringer ist, als gewöhnlich unterstellt wird. Überhaupt
ist die Vorstellung, Sahara und Sahel seien Randgebiete der
bewohnten Welt und nur peripher im Vergleich zum westlichen
Zentrum, angesichts eines immer dichter werdenden globalen
Austausches kaum noch aufrechtzuerhalten.
Dr. Elisabeth Boesen ist Ethnologin am ZMO und arbeitet derzeit
mit Georg Klute in einem Forschungsprojekt über "Moderne
Migrationen von Nomaden". Georg Klute ist Professor für
Ethnologie Afrikas an der Universität Bayreuth.
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