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Sönke Giard-Weiss
Ein Land, aber noch keine Nation
Südafrikas zwei Seiten unter dem
Regenbogen
Vor zehn Jahren fanden in Südafrika die
ersten freien Wahlen statt. Das Apartheidsregime war zu Ende. Was
hat sich seitdem geändert? Ist der Traum von der
Regenbogennation wahr geworden? Viele aktuelle Tatbestände und
schmerzliche Erinnerungen sprechen dagegen.
Es war ein Uhr morgens, als sie Thandiwe
Shezi holten. Es waren 50 Soldaten und Polizisten. In 20 Fahrzeugen
kamen sie und umstellten ihr Haus in Soweto, brachen durch die
Fenster ein, fesselten die damals 26-Jährige und brachten sie
nach Johannesburg, wo ihr "ein paar Fragen" gestellt werden
sollten. Das war im September 1988. Zehn Jahre später
berichtete die heute 41-jährige Frau der nach dem Ende der
Apartheid eingesetzten Wahrheitskommission: "Sie schlugen und
vergewaltigten mich, schmierten anschließend Butter auf meinen
Körper, warfen mich in ein Ameisennest und lachten, weil ich
mich vor Schmerzen immer wieder auf den Boden warf." Die Täter
wurden nie verurteilt. Thandiwe Shezis Fall ist Geschichte wie der
von 22.000 anderen Opfern eines Regimes, das mit den freien Wahlen
vom Frühjahr 1994 endgültig vorüber war.
Nach einem Jahrzehnt Demokratie ist
Südafrika nicht wieder zu erkennen. Das Land hat sich eine
Verfassung gestrickt, die wahrscheinlich die progressivste der Welt
ist. Die Gerichte funktionieren nach dem Prinzip: Gleiches Recht
für alle. Presse- und Redefreiheit werden garantiert,
Abtreibung ist legal. Die Rechte von Minderheiten sind
gewährleistet, Frauen und Behinderte werden bei der Jobsuche
bevorzugt. Es gibt elf offizielle Sprachen.
Lebte vor zehn Jahren noch die Hälfte
der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, ist es heute "nur"
noch ein Drittel. 30.000 öffentliche Schulen sind offen
für alle Hautfarben. Das gilt auch für die
Universitäten. Sozial schwachen Schülern und Studenten
werden die Schul- und Studiengebühren erlassen. 95 Prozent der
15- bis 24-Jährigen können lesen und schreiben. Ein
kostenloses Gesundheitswesen hilft Millionen von Kindern und allein
erziehenden Müttern. Die Wirtschaft wurde wieder belebt,
Steuergesetze und Mindestlöhne eingeführt. Darüber
hinaus hat Südafrika seine diplomatische Isolation
überwunden und spielt heute eine wichtige Rolle auf der
internationalen Bühne.
Die größte Errungenschaft
Südafrikas indes war, das Blutbad zu verhindern, das viele
Beobachter prophezeit hatten. Während seiner ersten zwei
Amtsjahre als Präsident hat Nelson Mandela im wahrsten Sinne
des Wortes Wundervolles vollbracht. Er hat die Gegenbewegung der
weißen Nationalisten im Keim ersticken können sowie die
Grabenkämpfe zwischen seiner Partei, dem African National
Congress (ANC), und der seines Widersachers Buthelizi Inkatha von
der Freiheitspartei (IFP) beendet. In diesem Kampf kamen zwischen
1983 und 1996 mehr als 25.000 Menschen um.
Denn Mandela versteht die Taktik des
Versöhnens. Er gab Buthelizi einen Platz in seinem Kabinett,
trank Tee mit Betsie Verwoerd, der Witwe des Apartheidsarchitekten
Hendrik, er besuchte selbst Percy Yutar, einen der
Staatsanwälte, der Mandela für Jahrzehnte ins
Gefängnis brachte. All dies vor den Augen der
Weltöffentlichkeit. Mit dem Ziel, Südafrika zu einem
anerkannten, souveränen - und zivilisierten - Staat zu
machen.
Trotzdem: Wer heute in Südafrika lebt,
kann nicht übersehen, dass das Land noch einen weiten Weg vor
sich hat zu einer wirklichen "Rainbow-Nation", wie Nelson Mandela
es wünschte. In vielen Bereichen hat die Regierung bislang
versagt. Man hat der schwarzen Bevölkerung Häuser und
Land versprochen, kostenlose Wasser- und Stromversorgung. Die
Versprechungen warten zum größten Teil noch auf
Erfüllung. Die Arbeitslosigkeit ist gewaltig. An den
Rändern der Großstädte wachsen die Slums ins
Unermessliche. Extreme Kriminalität ist das Resultat, und zwar
zum größten Teil unter der schwarzen Bevölkerung.
Mord ist in Town-ships wie Soweto und Alexandria an der
Tagesordnung.
Viele schwarze und indische Südafrikaner
wün-schen sich gar wieder einen weißen Präsidenten,
da es ihnen unter der schwarzen Regierung seit 1995 wirtschaftlich
immer schlechter geht. Große Teile der weißen
Bevölkerung verlassen Südafrika, wenn die
Möglichkeit besteht. Somit schwindet auch die
Wirtschaftskraft. Viele Südafrikaner - nicht nur Weiße -
sind der Meinung, dass heute im Prinzip sogar eine "schwarze
Apartheid" im Lande herrsche.
Schon 1995 gab es zwei Millionen mehr Stimmen
für den ANC als Wähler. Die Internationale Gemeinschaft
hat dies hingenommen, um ein Blutbad in der jungen Demokratie zu
verhindern. Freie und faire Wahlen fanden auch 1999 nur scheinbar
statt. Seitens des ANC und der IFP wurden die schwarzen Wähler
derart eingeschüchtert, dass diese nicht den Mut fanden,
oppositionell - weiß - zu wählen. Auch bei den Wahlen in
diesem Frühjahr werden wieder 60 bis 70 Prozent der Stimmen
für den ANC prognostiziert.
"Wir wissen heute nicht mehr, wo wir
hineinpassen. Glücklicherweise sind wir in Afrika geboren
worden. Unglücklicherweise nicht als Schwarze", sagte
kürzlich Chris Louw, Afrikaaner und Radiosprecher, dessen
Vorfahren vor mehr als 350 Jahren aus Holland kamen. Andere Stimmen
sind deutlicher und verwünschen, um es milde
auszudrücken, die derzeitige Situation im Land.
Im Klartext: Die Leiche des Nationalismus ist
noch nicht beerdigt, noch herrscht Totenwache.
Die Afrikaaner fürchten um ihre Kultur,
ihre Sprache, ihre Zukunft. Als sie an der Macht waren, zeichneten
die englischstämmigen Weißen weitgehend für die
Wirtschaft verantwortlich. Ihnen fehlt die
Blut-und-Boden-Attitüde, sie fürchten nun um ihre
wirtschaftliche Stellung in der Gesellschaft. Ein Angehöriger
der deutschen Botschaft (der ungenannt bleiben möchte) meint
dazu: "Vertreibt man die Weißen aus den letzten
Schlüsselpositionen, würde Südafrika das gleiche
Schicksal erleiden wie Simbabwe. Eine allein herrschende schwarze
Bevölkerung, in Wirtschaft und Politik, würde das Land
ruinieren."
Für viele Intellektuelle stellt sich die
Frage: Kann ein Volksgeist bestehen, wenn das Land keine Nation
ist, sondern lediglich eine bunte Mischung aus Menschen, die keine
andere Wahl haben, als gemeinsam zu leben? Und welchen Preis muss
der einzelne Bürger dafür zahlen?
Ein weitaus höherer Preis, den
Südafrika noch zu zahlen hat, ist der für eine
verschlafene AIDS-Politik. Fünf Millionen Südafrikaner
sind HIV-positiv, etwa elf Prozent der Bevölkerung.
Täglich sterben Hunderte. Doch noch immer spielt
Präsident Thabo Mbeki das Problem herunter und sagt immerfort:
"Ich kenne niemanden, der an AIDS gestorben ist", alles sei eine
"Erfindung von Schmierenjournalisten". Seine Gesundheitsministerin
Manto Tshabalala-Msimang ist nicht besser. Sie tituliert
Antiretroviral-Therapy als "Gift" und rät AIDS-Kranken, lieber
Knoblauch zu essen. Erst jetzt, während die ersten
Parlamentarier erkranken, geht die Regierung das Problem vorsichtig
an, wenn auch mit Samthandschuhen.
"Uns sterben die Mitarbeiter unter den
Händen weg", sagt dagegen ein deutscher Siemens-Manager aus
der Hauptstadt Pretoria. Aufklärungsmaßnahmen und
Schulungen würden in seinem Werk zwar fortwährend
angeboten, die Gefahr von AIDS werde aber nicht ernst genommen.
"Ist das ein Wunder, wenn die Regierung Scheuklappen trägt und
alles unter den Teppich kehrt", sagt er. Nach UN-Schätzungen
werden in den kommenden zehn Jahren hunderttausende
Südafrikaner - wenn nicht noch mehr - an der
Immunschwächekrankheit sterben.
Zehn Jahre nach den ersten Schritten in
Richtung Demokratie macht sich auch in Südafrika
Enttäuschung breit. Mandela war der Vereiniger, Symbol einer
zu Ende gehenden Epoche und des Neubeginns. Mbeki ist Stratege mit
analytischem Verstand, der sich selbst als African aus
Südafrika sieht, als Teil einer politischen Gruppe und nicht
als der Individualist, als der Mandela im Westen glorifiziert
wurde. Schon deshalb unterstützt Mbeki etwa Robert Mugabe in
Simbabwe, den der Westen am liebsten im Exil sehen würde.
Mbeki ist loyal gegenüber seinen "schwarzen
Brüdern".
Auf der anderen Seite sind Männer wie
Mandela und Mbeki keine glatten Politprofis. Nach Jahren der Haft,
in der sie sich nur auf ein Ziel vorbereitet hatten, nämlich
die Kontrolle in Südafrika zu übernehmen, lernten sie
schnell, mit Macht umzugehen, mit Bürokratie und der komplexen
Gesellschaft. Sie haben das Land nicht ins Chaos gestürzt, wie
es so manch anderer afrikanischer Politiker getan
hätte.
Der Wechsel von Mandela zu Mbeki hat auch in
Südafrika mehr Realpolitik gebracht. Was dazu führen
könnte, dass sich das Land von der Nation entfernt. Einfach
gesagt: Die einen sind reich, die anderen arm. Die einen weiß,
die anderen schwarz. Eine politische Kraft, die die Kluft zwischen
beiden Seiten schließen kann, existiert momentan
nicht.
Es gibt aber auch eine andere Perspektive,
Südafrika zu betrachten. Die andere Seite der Medaille, die
Hoffnung spiegelt. Denn es gibt sie tatsächlich, die
Südafrikaner aller Hautfarben, die ihr Leben teilen. Die
zusammen arbeiten, in die Schule gehen, Beziehungen führen,
Kinder zeugen, an eine gemeinsame Zukunft denken. Vor wenigen
Jahren noch wäre dies ein Verbrechen gewesen, geahndet
ähnlich wie nach den Nürnberger Rassegesetzen. Diese
Zeiten sind vorbei.
Wer heute vor einer Schule in Johannesburg
steht, sieht Kinder in Schuluniformen auf die Straße treten.
Sie laufen Hand in Hand, kommen in allen Farben daher:
Südafrika "einheimisch-schwarz", Südafrika
"indisch-gelb", Südafrika "gemischt-braun", Südafrika
"afrikaans-weiß". Nie werden sie unter dem zu leiden haben,
das die Wahrheitskommission so schmerzhaft ans Licht brachte. Was
etwa Thandiwe Shezi noch 1988 erlebte. Allein das verdient
Respekt.
Sönke Giard-Weiss ist Freier Journalist
und Mitarbeiter von World Vision in Südafrika.
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