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Trutz von Trotha
Die Hälfte aller Afrikaner ist jünger
als 18 Jahre
Der Zusammenhang von Demographie,
Männlichkeit und Gewalt
Im Jahr 1651, lange vor Samuel Huntington (Clash
of Civilizations), schrieb Thomas Hobbes in seinem Leviathan:
"Bedürftige und verwegene Männer, die mit ihrer
gegenwärtigen Lage nicht zufrieden sind, sind sehr geneigt,
Kriege fortzuführen und Unruhe und Aufruhr zu erregen und zu
nähren; denn es gibt keine Hoffnung, ein schlechtstehendes
Spiel zu beenden, als ein neues Mischen der Karten
herbeizuführen."
Afrika ist der Kontinent mit dem
höchsten Bevöl-kerungswachstum. Während die
Wachstumsrate der Weltbevölkerung auf unter 1,4 Prozent
gesunken ist, liegt sie in Afrika trotz aller Heimsuchungen durch
Kriege, Hunger und AIDS bei 2,4 Pro-zent, in West- und im mittleren
Afrika zwischen 2,5 und 2,7 Prozent. Seinen gegenwärtigen
Anteil von 13 Prozent der Weltbevölkerung wird Afrika auf
voraussichtlich 20 Prozent (2025) steigern und es wird von heute
785 Millionen auf 1,3 Milliarden Menschen anwachsen. Das
subsaharische Afrika hat hier den größten Anteil. Ist es
heute Heimstatt für 525 Millionen, wird es dies 2025
voraussichtlich für 1,05 Milliarden Menschen sein. Afrika
verdankt dieses Wachstum einerseits der zwar deutlich gesunkenen,
aber mit 5,06 im Schnitt der Jahre 1995 - 2000 vergleichsweise
hohen Fertilitätsrate der Frauen. Andererseits ist das
Wachstum Ergebnis einer Altersstruktur, die - als Folge der hohen
Fertilität, gesunkener Kinder- und Müttersterblichkeit -
das bekannte Bild einer Pyramide mit breiter Basis hat und Afrika
zu einem Kontinent der Kinder und Jugendlichen macht. Das
Durchschnittsalter der Bevölkerung in Afrika liegt bei 17,5
Jahren (Deutschland: 41). Damit ist die Hälfte der Bewohner
Afrikas, das sind rund 400 Millionen Menschen, jünger als 17,5
Jahre.
Jugendlichkeit ist zweifelsohne ein Trumpf
Afrikas. Sie gehört zur Vitalität und Dynamik, zum
sozialen, politischen und kulturellen Erfindungsreichtum des
Kontinents. Aber sie trägt auch dazu bei, dass der Berg an
Problemen, den es mit allen Entwicklungsländern teilt, noch
größer ist. Dazu gehört ein Problem von kaum zu
überschätzender Bedeutung: das der Gewalt, das auf den
Zusammenhang von Demographie, Männlichkeit und Gewalt
verweist.
Afrika beherbergte 1998 circa 90 Millionen
männli-cher Jugendlicher zwischen zehn und 19 Jahren. Bis 2025
wird ihre Zahl auf etwa 150 Millionen steigen. Darüber hinaus
sind die 20- bis 30-Jährigen mit zu bedenken, deren Zahl von
123 Millionen sich bis 2025 verdoppeln wird. Die Zukunft dieser
jungen Männer ist nicht allzu vielversprechend. Es ist ein
Leben in fast unregierbar gewordenen Elendsvierteln der
Megastädte, der Wurzellosigkeit von städtischer und
ländlicher Armut, ohne rechtes Auskommen. Schon heute ist das
einst dicht gewebte Netz der erweiterten Familie brü-chig
geworden. In manchen afrikanischen Ländern leben 20 Prozent
der Kinder und Jugendlichen - Mädchen eher als Jungen - nicht
im Haushalt der Eltern. AIDS, eine Seuche der Verwaisung,
trägt dazu bei, dass die Zahl der Straßenkinder zunimmt.
Sie sind oft unterernährt, in schlechtem Gesundheitszustand,
drogenabhängig und Objekt polizeilicher Willkür und der
Rekrutierungsanstrengungen der Kriegsherren.
Im subsaharischen Afrika leben heute 60
Millionen im Alter zwischen 10 und 24 Jahren in extremer Armut
gemäß Definition der UN. Die Arbeitsverhältnisse,
die die Jugendlichen jenseits der Landwirtschaft eingehen, sind oft
gesundheitsschädlich und ausbeuterisch. Kinderarbeit ist an
der Tagesordnung und hat im subsaharischen Afrika gegenwärtig
48 Millionen der zehn- bis 14-Jährigen erfasst. Vor allem
schneidet Erwerbstätigkeit von schulischen Ausbildungswegen
ab.
In den Elendsvierteln der Städte
gehören Kriminalität und Gewalt zum Aufwachsen. In der
Welt der afrikanischen "Gewaltmärkte" verschärfen sich
diese Erfahrungen. Es ist eine Welt, in der Gewalt sowohl
ökonomisch und sozial zweckrational als auch Selbstzweck ist.
Die Gewaltmärkte, die von Somalia über Liberia bis
Algerien reichen, sind ein Lebensraum, der gleichsam die Funktion
eines "Leistungszentrums" erfüllt. Aus Tausenden werden dort
diejenigen ausgewählt, die für ein Leben im Zeichen der
Gewalt geeignet sind, vom Straßenräuber bis zum
Selbstmordattentäter. In den vergangenen Jahren haben sie zu
einem rapiden Anstieg der Zahl der "Kindersoldaten" geführt.
Mit Zwang rekrutierte 1998 die kongolesische Armee Kinder schon ab
13. Für die Frage nach der Gewalt und den Ursachen der
Mehrzahl der politischen, ethnischen oder religiösen
Gewaltkonflikte in Afrika und auf dem Globus ist die Demographie
der männlichen Altersgruppen zwischen 15 und 30 Jahren einer
der wichtigsten Untersuchungswege.
Das Problem von Demographie und Gewalt wird
als "children bulge" oder "youth bulge" diskutiert. Es ist in
Deutschland insbesondere dem Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar
Heinsohn zu danken, dass diese Diskussion angestoßen wurde
(Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der
Nationen. Zürich 2003). Unter children bulge versteht man
einen Anteil von mindestens 30 Prozent Kindern bis 14 Jahren, unter
youth bulge von 20 Prozent Jugendlicher und junger Erwachsener
zwischen 15 und 30 Jahren. Für den Zusammenhang zwischen
Demographie und Gewalt ist der Jugend-bulge die entscheidende
Größe - der Kinder-bulge gibt nur einen Hinweis darauf,
wie groß der Jugend-bulge sein wird. So werden in den
kommenden Jahrzehnten Millionen Jungen in die Altersgruppen der
Jugend-bulges kommen; 1998 waren 118 Millionen afrikanische Jungen
noch keine zehn Jahre alt; 2025 werden es 168 Millionen
sein.
Sieht man sich die Nationen mit Jugend-bulges
an, hat die überwiegende Mehrheit eine beträchtliche Zahl
von Opfern durch gewaltsame Konflikte. Nach den Daten Heinsohns
sind es 72 von 76 Ländern. Kinder- und Jugend-bulges gehen mit
Konflikten einher. Die Elfenbeinküste, die zu einem der
blutigsten Orte geworden ist und deren Bevölkerung zur
Hälfte unter 18 Jahren ist, hat ihre Bevölkerung zwischen
1962 und 2002 von 3,5 auf zwölf Millionen fast vervierfacht.
Unter den 28 größten Jugend-bulge-Nationen liegt der
Anteil der islamischen bei 50 Prozent.
Die Welt der Gewalt ist die der jüngeren
Männer. Die Führer gewalttätiger Bewegungen wie
Arkan oder Ussamah bin Laden mögen die 40 überschritten
haben, die Mehrheit der Kämpfer hat das dritte Lebensjahrzehnt
noch vor sich. Die Welt der Gewalt, des Krieges und des Terrorismus
ist eine, wie sie immer wieder am Beispiel der so genannten
"Kristallisationspunkte" von "Jugendbanden" amerikanischer
Großstädte thematisiert worden ist: "Härte" als
physische Belastung, Maskulinität und Mut angesichts von
Bedrohung, "Erregung" als Ausbruch aus Alltagsroutine, Nichtstun
und Langeweile und natürlich das Verlangen nach Autonomie. Die
"verwegenen Männer, die mit ihrer Lage nicht zufrieden sind",
werden zu Kristallisationsfiguren, die die relative Wurzellosigkeit
des jugendlichen Alters, von ländlicher und städtischer
Armut, von Landflucht und Arbeitsmigration, von Flucht vor
Dürren oder politischer Verfolgung, von Vertreibung und Exil
in gewalttätige politische und soziale Aktionen
übersetzen. Sie treffen auf Gewalt in der Welt der
jugendlichen Banden und in städtischen Elendsvierteln, in der
alltäglichen Willkür staatlicher "Sicherheitsorgane",
selbst bei der Flucht ihrer Eltern vor politischer Gewalt, bei
Vertreibung oder in der Rolle des jungen Soldaten, die ihnen die
eine oder andere Armee des Migrations- und Exillandes - etwa die
"Islamische Legion" von Muammar al Gaddafi - anträgt. Die 2.
Tuareg-Rebellion zwischen 1990 und 1996 war eine solche Revolte
junger Männer, die von Arbeitsmigration und Exil in Algerien
und Libyen nach Mali und Niger zurückgekehrt waren.
Hobbes betonte scharfsinnig, dass Gewalt eine
Sache jüngerer Männer ist, die keinen Platz in der
Gesellschaft haben und ihn sich erst im buchstäblichen Sinne
erkämpfen. Beispielhaft sind die jugendlichen Ritter des 12.
Jahrhunderts. Das Beispiel der Ritterjugend verdeutlicht, dass die
Dynamik von Jugend-bulges nicht aus absoluter Armut hervorgeht. Der
Sprengsatz des Jugend-bulge ergibt sich aus der Relation zwischen
der Menge der Positionen der ausscheidenden Väter und der
Menge an Positionen, die nachrückende Söhne einfordern -
seit Kain und Abel sind Eifersucht und tödliche Feindschaft
der Stoff, aus dem Mythen und Weltliteratur gemacht werden.
Heinsohn: "Ein jüngerer Bruder, der als Knecht des Erbsohnes
durchaus satt werden kann, sucht nicht nach Brot, sondern nach
einer Position, die Ansehen, Einfluss und Würde und nicht so
sehr Essensmengen verbürgen soll. Und umgekehrt, aus der Sicht
der Erwachsenengesellschaft betrachtet: Wo zwei oder mehr
Söhne in den Familien vorhanden sind, gibt es auch eine
wachsende Bereitschaft, die jungen Männer risikoreich
einzusetzen - nicht nur, um ihnen ein Auskommen zu
ermöglichen, sondern auch um den sozialen Frieden zu erhalten.
Eine Nation mit youth bulge entwickelt ein ganz anderes Temperament
als eine nach absoluten Größen viel
bevölkerungsreichere Nation ohne interne Probleme mit
überzähligen Söhnen oder gar bereits mit einem
Sohnesmangel. Wiederholt sich ein youth bulge über zwei oder
mehrere Generationen, kumulieren sich seine Effekte. Die
quantitativ beeindruckendsten Beispiele liefern die islamisch
geprägten Länder, die in nur fünf Generationen (1900
- 2000) von 150 auf 1200 Millionen Menschen zugenommen
haben."
Diese Theorie besagt, dass soziale
Rebellionen, Revolutionen und andere Formen gewaltsamer sozialer
Konflikte nicht eine Sache der absoluten, sondern der relativen
Armut, das heißt einer wahrgenommenen sozialen Benachteiligung
sind. Diese relative Armut nimmt beständig zu. Heinsohn
bemerkt dazu: "Je erfolgreicher nun der Kampf gegen den Hunger
verläuft, desto kampfeslustiger werden die nach Positionen
strebenden jungen Männer. Die ubiquitäre Hoffnung auf
Weltfrieden durch Sättigung auch noch der 750 Millionen
absolut Armen gilt den Strategen als liebenswerteste und zugleich
naivste der Illusionen. Kaum zwei Tode stehen so fern voneinander
wie Hungertod und Heldentod." Nicht weniger wichtig ist, dass in
Afrika ebenfalls die internationalen Wanderungsbewegungen, vor
allem von Menschen mit Hochschulausbildung, die überkommenen
räumlichen Grenzen der relativen sozialen Deprivation
gesprengt haben. Hinzu kommt die Globalisierung der Kommunikation.
Sie hat der sozialen eine kommunikative relative Deprivation
hinzugefügt. Leid und relative Deprivation schließen ein,
dass der legitimatorische Opferanspruch auf Gewalt
unerschöpflich ist. Sie hat immer einen Rechtfertigungsgrund:
in der Erfahrung, "Opfer" zu sein - und deshalb müssen die
Weltreligionen wieder und wieder für die Rechtfertigung der
Gewalt herhalten. Die Gewalt der Opfer ist geschultert als Antwort
auf ein Unrecht, das andere zu verantworten haben. Die
Jugend-bulges in Afrika und anderswo sind die Bugwellen, die sich
in gewalttätigen Opferansprüchen brechen.
Professor Trutz von Trotha lehrt Soziologie
an der Universität Siegen.
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