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Till Förster
Der Wirklichkeit des Kontinents verpflichtet
Zeitgenössische Kunst aus und in
Afrika
In der europäischen Imagination haben die
künstlerischen Ausdrucksformen Afrikas eine merkwürdige
Stellung. Einerseits schreibt man dem Kontinent zu, mit der Wiege
der Menschheit auch einige der ältesten Zeugnisse
künstlerischen Schaffens des Menschen zu beherbergen.
Andererseits wird die heutige Kunst des Kontinentes nur
wahrgenommen, wenn sie entweder als das exotische Andere, das
Gegenüber der westlichen Moderne dienen kann, oder wenn sie so
ist, wie diese selbst.
Was afrikanische Kunst ist, bleibt zu einem
nicht geringen Teil den Sehgewohnheiten und Diskursen geschuldet,
in die sie eingebettet ist. Nicht erst seit der "Entdeckung" der
afrikanischen Kunst durch die Künstler in Paris, Dresden oder
Berlin hat sich unser Bild dieser Kunst wesentlich an dem
orientiert, was außerhalb Afrikas über sie gesagt und
geschrieben wurde. Solche Kritik wird auch dort wahrgenommen. Die
Kommunikations- und Transportwege, die einmal dazu dienten,
über riesige Kolonialreiche zu herrschen, wurden bald von
afrikanischen Intellektuellen und Künstlern genutzt, um
über die Horizonte ihrer Heimat hinaus eine ihrer Zeit
verpflichtete Kunst und Kultur zu schaffen. Was entstand, entzog
sich den kolonialen Zuschreibungen und Inventaren, die die
Landkarte Afrikas in ein Verzeichnis von Ethnien verwandelt hatten,
die jede für sich mit einer eigenen Kultur und Kunst einen
eigenen kleinen Kosmos bilden sollten. Dieser Kosmos war das Reich
dessen, was die europäischen Herren "Tradition" nannten: des
Lebens und künstlerischen Schaffens nach Regeln, die "immer
schon" da waren und sich nicht zu wandeln schienen. Dieses Bild der
so genannten traditionellen afrikanischen Kunst hat nie gestimmt.
Natürlich hat es auch im vorkolonialen Afrika Wandel in Kunst
und Kultur - kurz: Geschichte - gegeben. Und natürlich ist
diese Geschichte durch den Imperialismus nicht nur beeinflusst,
sondern grundlegend verändert worden. Die Konstruktion einer
zeitlosen, traditionellen afrikanischen Kunst ist genauso absurd
wie ihr Gegenüber, eine moderne, zeitgenössische Kunst,
die sich auf nichts Lokales mehr beziehen könne, weil mit der
"Tradition" eben auch die "eigentliche" afrikanische Kunst
untergegangen sei. Die Prophezeiungen, dass Afrika mit der
kolonialen und neokolonialen Durchdringung nicht nur seine
politische und kulturelle Selbstständigkeit, sondern mit
dieser auch seine Kunst verlieren werde, haben sich nicht
erfüllt. Vielmehr gibt es heute ein beeindruckendes Spektrum
von künstlerischen Ausdrucksformen aus und in Afrika, das sich
nicht den herkömmlichen Kategorien "traditionell" oder
"modern" zuordnen lässt.
Afrikanische Künstler können, wie
überall auf der Welt, neugierig und innovativ sein und sie
waren es auch schon vor der Kolonialisierung. Nur folgte der
künstlerische Wandel anderen Mustern als die europäische
Stilgeschichte. Das wird offensichtlich, wenn man sich vor Augen
führt, was in den Museen, die alte Kunst aus Afrika zeigen,
eigentlich zu sehen ist: Relikte, die erst in den
Handlungszusammenhängen, aus denen sie stammen, Sinn machen.
Eine Maske, die in Afrika im Rahmen eines umfangreichen, oft
mehrere Tage umfassenden Rituals getragen und nur zu einer
bestimmten Musik bewegt wird, ist in einer Vitrine als solche nicht
mehr zu erkennen. Die in vielen afrikanischen Gesellschaften zu
findenden Verbote, Masken außerhalb ihres Kontextes zu sehen,
lassen sich als Versuch verstehen, den Zuschauern eine ganz
bestimmte Erfahrung zu vermitteln.
Es ist offensichtlich, dass sich das
abendländische Konzept des "Kunstwerkes" nur bedingt auf
afrikanische Künste übertragen lässt. Erst der
Handlungszusammenhang, in dem ein Objekt steht und in dem es
gebraucht wird, verleiht ihm Sinn. Letztlich gibt es nur einen Weg,
sich der afrikanischen Skulptur und Plastik zu nähern. Man
muss sich den Menschen selber zuwenden, um mehr über ihre
tatsächlichen Motive und Intentionen zu erfahren. Zwei Seiten
sind auseinander zu halten: Einerseits der Gebrauch, der Umgang mit
den Werken im Alltag oder in Riten und Zeremonien, und andererseits
ihr Entstehen, also die Arbeit der Künstler.
Dabei schien es afrikanische Künstler
lange Zeit gar nicht zu geben. Man sah ihre Werke, das Ergebnis
ihrer Arbeit. Aber über sie selbst, ihr Leben und ihr Wirken
erfuhr und erfährt man bis heute wenig, wenn man sich
Ausstellungen der "alten" afrikanischen Kunst ansieht. Was sind die
Gründe dafür?
Wenden wir uns zunächst der lokalen
Seite zu, also den Umständen, in denen afrikanische
Künstler leben und arbeiten. Noch lange nachdem
europäische Künstler diese Kunst "entdeckt" hatten, war
die Vorstellung verbreitet, dass es in Afrika so gut wie keine
individuellen Künstler gäbe. An ihre Stelle trat der
Ethnos. Die Handwerker - von Künstlern sprach man nicht -
führten nur aus, was an stilistischen Vorgaben auf sie
gekommen sei. Sie waren eben "der Tradition verpflichtet". Ein
Wille, diesen ethnischen Stil zu verändern oder ihn gar
zugunsten eines persönlichen, individuellen aufzugeben, schien
nicht vorhanden zu sein.
Diese Vorstellung war naiv. Bald nachdem man
sich endlich dieser Frage zugewandt hatte, fand man Beispiele
für Schnitzer, die sich ihrer persönlichen
Fähigkeiten bewusst waren und ihr Können auch
öffentlich demonstrierten. Dennoch waren nicht, wie man wenig
später, einer modernen Erwartung folgend, gedacht hatte,
überall persönliche Stile zu finden. Diese Vorstellung
erwies sich als genauso naiv wie die, dass es Individualität
in der afrikanischen Kunst nicht gäbe. Die Wirklichkeit war
vielfältiger, als es sich die westlichen Forscher und
Kunstkenner vorstellten.
Einerseits gibt es immer wieder einzelne
Schnitzer, die sich durch ihre Kunst von allen anderen ihrer
Umgebung abheben. Manchmal versuchen sie, sich mittels ihrer Werke
jene Anerkennung zu verschaffen, die sie sich wünschten und
die sie sonst vielleicht auf einem anderen Wege zu erreichen
suchten. Bisweilen gibt es auch wahre Meister, die sich in ihrer
Arbeit kaum nach den Erwartungen ihrer Umgebung richten und trotz
aller möglichen Widerstände ihren eigenen Weg zu gehen
suchen. Von ihnen erfährt man in der Regel wenig, wenn die
Gesellschaft, in der sie leben, solches Handeln nicht anerkennt. Es
ist immer auch ein soziales Faktum, ob in einer Gesellschaft
Individualität und Originalität gefördert und
anerkannt werden. Das trifft auf die so genannten traditionellen
Künste zu wie auf die populären Künste des heutigen
Afrika oder auf die Künstler, die sich in der internationalen
Kunstwelt situieren.
Die neue Kunst des alten Kontinentes hat
Althergebrachtes weitergeführt und verändert, sie hat
aber auch völlig Neues geschaffen, für das es weder in
Afrika noch irgendwo sonst auf der Welt Vorbilder gab. Oft sind
diese Kunstformen aus der Auseinandersetzung mit der westlichen
Welt - zunächst den kolonialen Metropolen, später der
Kultur des Westens überhaupt - hervorgegangen. Manchmal sind
sie auch parallel zu dieser Auseinandersetzung
entstanden.
Bereits in den 1930er-Jahren, vor allem aber
während der Dekolonialisierung in den 50er- und 60er-Jahren
entstanden vielerorts in Afrika Zentren und Schulen, an denen
Malerei, Skulptur und Plastik gelehrt wurde. Die Kunst, die dort
entstand, war durch einen Moment der Befreiung von der
Koloinalherrschaft getragen. Sie wurde häufig zu einem
Bestandteil der Selbstinszenierung der postkolonialen Staaten.
Festivals wie 1966 das 1er Festival Mondial des Arts Nègres in
Dakar, dann das FESTAC in Nigeria, später die Biennale in
Dakar, sowie viele lokale und regionale Festivals imaginierten
durch die Kunst eine Nation, deren Führung sich als Teil eines
neuen Afrika betrachtete, das nicht länger auf die
Vergangenheit schaute, sondern auf eine verheißungsvolle
Zukunft.
Die Idee einer absolut neuen, modernen Kunst
in Afrika, die nichts mit der so genannten traditionellen zu tun
hatte, ist eng mit dem Prozess der Dekolonialisierung verbunden.
Viele Künstler lehnten Rückgriffe auf das lokale
künstlerische Schaffen, die "alte" Skulptur und Plastik ab und
wollten nicht als "afrikanische" Künstler gesehen werden. "Das
Afrikanische" wurde von ihnen als Gefängnis gesehen, aus dem
es sich durch Anerkennung in der einen universalen Moderne zu
befreien galt. Schon die Wahl der Malerei als künstlerisches
Ausdrucksmittel war oft eine bewusste Ablehnung der alten
afrikanischen Skulptur und Plastik. Diese Grenze war zwar nicht
immer so eindeutig zu ziehen, wie sie in den Äußerungen
und Schriften erscheint, mit denen die Künstler und ihre
Förderer ihr Tun zu legitimieren suchten, aber sie war eine
Orientierung für das Handeln der Akteure.
Dieser Bruch mit der eigenen Geschichte ist
nur zu verstehen, wenn man sich noch einmal die gesellschaftliche
Situation der 1950er- und 60er-Jahre vor Augen hält. Die
kommende Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten war
in allen Bereichen des täglichen Lebens zu spüren. Sie
brachte einen heute kaum mehr vorstellbaren kulturellen Aufbruch
mit sich. Es war eine Zeit, in der die Hoffnungen auf
Selbstbestimmung und ein Leben in Freiheit und Wohlstand noch
nicht, wie kaum zwei Jahrzehnte später, hundertfach
enttäuscht worden waren. Das Alte hinter sich zu lassen, war
das Natürlichste der Welt.
Auf dem Felde der Kunst bedeutete der Bruch
etwas anderes als in Europa. Es hieß nicht, den formalen
Selbstbegründungsanspruch als logische Weiterführung und
Entwicklung der eigenen Kunstgeschichte durchzusetzen, sondern die
eigene Geschichte als solche zu leugnen. Die Widersprüche, in
die die Künstler damit gerieten, waren gewaltig: Ihnen wurden
ihre eigenen Ziele zum Vorwurf gemacht, nämlich eine Kunst
ohne Wurzeln in der Geschichte zu schaffen. Es handele sich, so die
Kritik, nur um eine nachholende Moderne - eine Kunst, die
nachvollzieht, was in der eigentlichen, universalen Moderne schon
längst erledigt und etabliert war. Für die internationale
Kunstwelt konnte diese Kunst keine Originalität beanspruchen.
Die Teilhabe an der Moderne hatte nicht nur befreiende Züge.
Mit ihr ging die Unterordnung unter die Standards der
internationalen Kunstwelt einher. Es bedeutete, deren
Ästhetik, aber auch deren Markt- und Wertordnungen
anzuerkennen.
Rückblickend ist erstaunlich, wie wenig
diese Seite in den Blick geriet. Vor allem die Malerei
demonstrierte mit ausgewogene Formen und Farben gegenüber
einer "funktional gebundenen", unter dem Etikett "traditionell"
ausgegrenzten alten afrikanischen Kunst den selbstbegründeten
Anspruch der neuen Kunst. Aus der Perspektive der Zentren der
internationalen Kunstwelt waren aber diese Werke schon zur Zeit, da
sie entstanden (seit Ende der 1950er Jahre), durch die Geschichte
der Moderne überholt. Das Unterfangen der afrikanischen Maler
wurde als hoffnungsloser Versuch zugleich eingefangen wie aus der
universalen Moderne ausgegliedert. Die Kunstwelt erwies sich als
eine im wörtlichen Sinne exklusive Institution. Das Postulat
einer einzigen Moderne führte dazu, dass die
zeitgenössische Kunst Afrikas eine koloniale Kunst
blieb.
Das Konzept einer unteilbaren Moderne, einer
Weltkunst beruhte auf dem Glauben an universelle Werte und
ästhetische Urteile, deren Exklusivität zu
überwinden es andererseits vorgab. In gleicher Weise blieb
auch die von Seiten der Künstler vorgenommene Abgrenzung
gegenüber dem Vorangegangenen und nun als überkommen
Erlebten in den kolonialen wie postkolonialen Paradoxien verhaftet.
Auch der Appell an die individuelle Originalität des
Künstlers und seine schöpferische Genialität stand
im offenkundigen Kontrast zur Ausweisung ihrer Werke als
afrikanische Kunst, beziehungsweise als "afrikanische
Moderne".
Diese Debatte hat die Aufmerksamkeit davon
abgelenkt, dass neben den Künsten, die sich an ein
internationales Publikum wenden, eine unüberschaubare Zahl
lokaler Künste entstanden ist. Diese Künste sind dem sich
wandelnden Alltag verpflichtet. Vor allem die lokale Tafelmalerei
kann diesen Zusammenhang veranschaulichen: Sie greift Elemente und
Themen der westlichen Werbung genauso auf, wie Vorlagen aus der
Fotografie oder der rituellen Skulpturen. Es ist ihr gleich, ob
etwas lokal, modern, global oder universell ist. Ihre Bilder sind
unmittelbar präsent und wollen nicht mehr sein als das. Es
sind Hinweistafeln auf ein Restaurant, einen Drinking Spot, eine
Boîte de Nuit, eine Téléboutique (kleiner Laden mit
öffentlichem Telefon) oder einen Friseur. Der Vorwurf, den man
der instruierten afrikanischen Moderne so oft gemacht hatte, dass
sie ein bloßer Abklatsch des Westens und seiner universalen
Moderne sei und ohne eigene Originalität, trifft hier
offensichtlich nicht zu.
Seit Ende der 1980er-Jahre aber entwickeln
afrikanische Künstler einen zunehmend eigenen Blick auf die
Moderne. Die heutige Kunst Afrikas erscheint auch in der
Außensicht nicht mehr als Rückgriff auf vergangene
Positionen der klassischen Moderne. Sie erreicht dies durch einen
scheinbar paradoxen Schritt: Afrikanische Künstler holen in
ihre Kunst zurück, was auf den ersten Blick als Lokales
erscheint, aber seinerseits schon vielfältigen Formen der
Mischung verpflichtet ist. Sie führen Referenzen an ein
imaginiertes Afrika ihre Kunst ein, geben es manchmal als Besinnung
auf das "tatsächliche" afrikanische Leben aus. Künstler
wie Moustapha Dimé oder Ouattara wiederholen afrikanische
Geschichte und keine ferne, klassische Moderne. Sie experimentieren
mit Techniken und Elementen der Moderne, gerade um ihre
"afrikanische" Subjektivität nicht aufgeben zu müssen -
wohl wissend, dass auch diese nicht mehr in demselben Sinne
afrikanisch sein kann, wie manche Kritiker der internationalen
Kunstwelt es möchten. Es ist eine Auseinandersetzung von
konkurrierenden Wirklichkeiten, deren Wurzeln weiter
zurückreichen, als das in diesem Zusammenhang fallende Wort
Globalisierung uns zu suggerieren scheint. Zwischen dem
Afrikanischen, dem Modernen oder dem Universellen lässt sich
nicht mehr unterscheiden. Und genau darin ist sie der Wirklichkeit
des Kontinentes verpflichtet.
Till Förster ist Professor für
Ethnologie an der Universität Basel.
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