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Das Parlament
Nr. 18 / 26.04.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Ilnur Cevik

Das Verbot ist eine Hauptquelle der innenpolitischen Spannungen

Auch am Bosporus wogt ein so genannter Kopftuch-Streit

Die Türkei ist kein islamischer Staat, sondern ein laizistischer Staat mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Der Kopftuch-Streit erhitzt auch dort die Gemüter. Dieser Streit, in den letzten zehn Jahren eine Hauptquelle für innenpolitische Spannungen in der Türkei, wurde unter der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) auf Eis gelegt, um die laizistische Führungsschicht nicht zu verärgern und neue politische Zuspitzungen zu verhindern. Doch das Thema, das in der Türkei unter den Teppich gekehrt wird, bleibt eine wichtige Ursache für innenpolitische Spannungen im Lande. Die Debatte hat nun auch verschiedene europäische Länder erreicht, in denen muslimische Minderheitsgruppen das Kopftuch zum politischen Symbol machen und so die Behörden provozieren.

Die Türkei ist kein islamischer Staat, sondern ein Land mit überwiegend muslimischen Bevölkerung. Die Mehrheit des Volkes ist religiös, jedoch nicht fundamentalistisch eingestellt, wie sich deutlich am Wahl- erfolg der gemäßigten prowestlichen AK-Partei ablesen lässt, die aus ehemaligen islamischen politischen Bewegungen hervorgegangen ist. Sie erfährt inzwischen von über 43 Prozent der Bevölkerung Zuspruch und Unterstützung.

Die Kopftuch-Diskussion wurde zum ersten Mal während der Regierung des verstorbenen Staatspräsidenten Turgut Ozal aufgeworfen. Die Debatte konzentrierte sich auf die Frage, ob Studentinnen an der Universität ihre Haare mit einem Kopftuch bedecken durften. Damals drängte Ozal die Behörden, das Kopftuch an den Universitäten nicht zu verbieten und so zu verhindern, dass Fundamentalisten das Kopftuch als politisches Geschenk zu benutzen.

Es gelang ihm, die Obrigkeiten zu überzeugen, dass sie mit dem Kopftuch leben konnten, vorausgesetzt, die jungen Mädchen versuchten nicht, es als Ausdruck politischer islamistischer Überzeugungen zu tragen und so die Regierung herauszufordern. Damit gelang Ozal, der als Reformer und religiös eingestellter, aber prowestlicher Politiker bekannt war, ein schwieriger Balanceakt, mit dem er verhindern konnte, dass die Kopftuchdiskussion zu einem gewichtigen innenpolitischen Problem wurde.

Allerdings verprellten die beiden politischen Führer Tansu Ciller von der Partei des Rechten Weges (DYP) und Mesut Yilmaz von der Mutterland-Partei (ANAP), die nach Ozal an die Macht kamen, die muslimischen Massen. Sie zeigten wenig Sensibilität für religiöse Empfindungen und trieben so die gläubige Bevölkerung aus der politischen Mitte heraus in die Arme der von Necmettin Erbakan angeführten, radikaleren islamischen Bewegung. Dies führte schließlich dazu, dass die islamische Bewegung in den Provinzverwaltungen zunehmend an Einfluss gewann und schließlich 1995 als führender Koalitionspartner an die Macht kam und Erbakan auf den Sitz des Ministerpräsidenten beförderte.

Die politische Islambewegung entwickelte großes Selbstbewusstsein und vermittelte den Eindruck, dass sie sich anschickte, an den auf der Trennung von Kirche und Staat beruhenden Werten der laizistischen Republik zu rütteln. Vor den Wahlsiegen von 1995 hatte Erbakan den weiblichen Studenten versprochen, dass er die Universitätspräsidenten zwingen würde, ihnen zu huldigen, wenn er an die Macht käme. Mit Erbakan an der Macht erwartete das laizistische Establishment das Schlimmste und begann sich zu wehren. Das türkische Militär schloss sich den politischen Gruppen und Berufsverbänden an und begann einen Angriffskrieg gegen Erbakan, der ihn 1997 aus dem Amt zwang und eine offizielle Verfolgung politischer Islamgruppen und natürlich auch der kopftuchtragenden Studentinnen einleitete. Diese Verfolgung war umfassend: Frauen wurden daran gehindert, jedwede öffentlichen Plätze mit Kopftuch zu betreten. Dies schloss auch Schulen ein. Das Verbot galt teilweise in der gesamten Öffentlichkeit, aber betraf hauptsächlich die Studentinnen, die entweder die Universität verlassen oder das Kopftuch abnehmen mussten. Einige trugen Perücken, um ihr Haar ersatzweise zu bedecken.

Die islamische Bewegung splitterte auf. Die jungen Islamisten, angeführt von Recep Tayyip Erdogan und Abdullah Gul gründeten eine Reformbewegung und trennten sich von Erbakan, dessen rigide Islambewegung sie ablehnten. Sie gründeten die moderate AK-Partei und kappten alle Verbindungen zur Religion. Sie bezeichneten sich als gläubige Muslime, aber sie hatten kein religiöses Partei-Programm und lehnten den Fundamentalismus ab. Sie versprachen tiefgehende Erneuerung und die Beendigung der Korruption. Die türkische Bevölkerung sprach sich bei der Wahl im November 2002 für den Wechsel aus und warf die alte politische Führung zugunsten einer jungen Reformbewegung mit einer überwältigenden parlamentarischen Mehrheit aus dem Amt.

Unter der Führung von Erdogan verabschiedete die AK-Partei tief gehende Reformen, die das demokratische System stärkten und das Image des Landes im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte dramatisch verbesserten. Sie bewies, dass sie die Bindungen zu ihren religiösen Wurzeln abgeschnitten hatte und einem prowestlichen Programm verpflichtet war. Außerdem verbesserten sie die Wirtschaftskraft des Landes, wobei sie die Inflation auf eine einstellige Zahl reduzierte und trocknete die Quellen der Korruption aus. Der Westen äußerte Beifall, und es schien, dass der Termin für Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union in nicht allzu weiter Zukunft läge.

Während dieses Prozesses hielt sich die AKP von allen religiösen Themen und besonders der Kopftuch-Diskussion fern. Die Ehefrau des stellvertretenden Premierministers und Außenminister Gul, Kopftuchträgerin Hayrunisa, zog sogar ihre Klage gegen die Türkei am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurück. Sie hatte zuvor geltend gemacht, dass ihre Rechte verletzt worden seien, als man ihr an der Universität das Tragen eines Kopftuches versagt hatte.

Trotz der vorsichtigen Haltung zur Kopftuch-Diskussion bleibt das Kopftuch ein soziales Problem, das im Verborgenen gärt. Es ist außer Frage, dass die laizistische Führungsschicht der Türkei dabei eine Schlüsselrolle spielt. Aus vergangener Erfahrung heraus glauben die ultrakonservativen Laizisten, dass die Islamisten nicht aufrichtig sind und nur auf eine Gelegenheit warten, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Zwar gibt es auch Stimmen wie die von Kemal Dervis, die erklären, das Thema dürfe nicht in der Schwebe bleiben und sollte gelöst werden - und zwar von Sozialdemokraten mit laizistischen Einstellungen, die dies im Namen der sozialen Versöhnung tun sollten.

Die konservativen Laizisten dagegen sind lediglich daran interessiert, das Kopftuchthema am Leben zu erhalten als die wirksamste Trumpfkarte, die sie gegen die AK-Partei einsetzen können. Einige politische Beobachter glauben, dass die AK-Partei das Problem nur allmählich lösen kann, indem sie ein vertrauensvolles Klima schafft, das die religiösen Massen mit den Laizisten aussöhnt. So könnten Vorurteile ausgeräumt und weiblichen Studenten erlaubt werden, das Kopftuch zu tragen: nicht als politisches Bekenntnis, sondern als Ausdruck ihrer religiösen Gefühle. Ilnur Cevik

Ilnur Cevik ist Herausgeber der türkischen Zeitung "Daily News". (Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Büttner)

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