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Das Parlament
Nr. 21-22 / 17.05.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Von Bert Schulz

Der Mahner liest die Leviten

Die letzte "Berliner Rede" von Johannes Rau war eine Standpauke

Es wurde kein leiser Abschied: Bundespräsident Johannes Rau nutzte seine wohl letzte große Rede für eine harsche Kritik an den Eliten der Republik. Unter dem Titel "Vertrauen in Deutschland - eine Ermutigung" prangerte der Präsident in seiner "Berliner Rede" am 12. Mai Egoismus, Gier und Verantwortungslosigkeit in Teilen der Politik, der Wirtschaft und der Medien an. Die dadurch hervorgerufene Vertrauenskrise und die "allgegenwärtige" Verunsicherung in der Gesellschaft sei "lebensgefährlich", so Rau vor 300 geladenen Gästen im Schloss Bellevue, elf Tage vor der Wahl seines Nachfolgers.

Am wahrscheinlichen Ende seiner Karriere als Berufspolitiker erhob Rau schwere Vorwürfe gegen Regierung und Opposition. Es sei verantwortungslos, sich gegenseitig zu blockieren, wenn Vorschläge nicht aus inhaltlichen, sondern parteipolitischen Gründen abgelehnt würden. Zwar gehe es in der Politik um Macht; sie müsse aber in erster Linie ein Streit um Ziele und um die besten Lösungen sein. Die Bürger hätten zunehmend das Gefühl, dass sich die Politiker nicht mehr für sie einsetzen würden.

Der Präsident nannte - anders als von ihm gewohnt - in der 50-minütigen, kaum von Beifall unterbrochenen Rede "haarsträubendes Versagen" beim Namen und sprach von "peinlichen Pannen um die Lkw-Maut" und dem "unendlichen Gezerre um die Einführung des Dosenpfands", das seit 13 Jahren beschlossene Sache gewesen sei. Raus düsteres Resümee: "Noch nie hatten so wenig Menschen in Deutschland Vertrauen in die Politik einer Regierung - und noch nie haben gleichzeitig so wenige geglaubt, die Opposition könne es besser." Sein Vorschlag: Die Politik müsse Probleme wieder lösen. Sie "muss wieder zeigen, dass sie etwas für die Menschen bewirken kann". Zukunftsentwürfe seien vonnöten.

Rau tadelte in scharfer Form, dass "einige, die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen", ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften würden - eine unverhohlene Anspielung auf den Mannesmann-Prozess um hoch ausgefallene Abfindungen von Top-Managern. Den Medien warf er vor, bisweilen eine "fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter Übertreibung" zu kultivieren - so würde die Entfremdung der Bürger von Politik und Staat gefördert. Der Blick auf die Quote und Auflage dürfe die Grundregeln journalistischer Arbeit nicht außer Kraft setzen, so Rau mit Blick auf die Chefredakteure.

Deutschland würde sich vor allem selber schlecht reden: "Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortliche und Funktionsträger mit so großer Lust so schlecht, so negativ über das eigene Land sprechen." Insgesamt sei wenig Selbstvertrauen zu spüren. Es herrsche Unsicherheit und Angst. Wer die Zukunft allerdings gestalten will, der brauche Vertrauen in die Eliten und die Bereitschaft, selbst Verantwortung zu übernehmen. Es sei höchste Zeit, die Vertrauenskrise zu überwinden. "Schönreden hilft da nicht. Wir werden uns anstrengen müssen."

Rau listete die seiner Einschätzung nach positiven Eigenschaften und Erfahrungen auf, auf die zurückgegriffen werden könnte. Ein Blick in die Geschichte zeige nicht nur "furchtbare Verwirrungen", sondern auch, dass politischer Wille und gesellschaftliche Kraft "Veränderungen zum Guten bewirken" könnten. Er lobte die Weltoffenheit und Toleranz gegenüber Minderheiten, das Umweltbewusstsein und den bereits gemeisterten wirtschaftlichen Strukturwandel, die "wagemutigen" Unternehmer und die "hervorragend qualifizierten Arbeitnehmer". Nicht nur die Eliten - alle Bürger seien aufgerufen, sich einzumischen.

Rau bekam stehende Ovationen für seine letzte "Berliner Rede" - wohl auch Ausdruck der Anerkennung seiner gesamten Arbeit als Bundespräsident. Und er bekam Lob für seinen Auftritt: Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sah sich in seiner Politik bestätigt. Rau habe wichtige Anstöße gegeben, ließ er den stellvertretenden Regierungssprecher ausrichten. Kardinal Karl Lehmann würdigte die Ansprache als eine souveräne, ohne Häme vorgetragene Kritik "mit Mut zum Wesentlichen". Und FDP-Chef Guido Westerwelle fand es gut, dass der Präsident "Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft etwas in das Stammbuch schreibt". Ob es auch gelesen wird, ist eine offene Frage. Bisher sind die "Berliner Reden" meist zu rasch verhallt.

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