Karin Tomala
Die unbeugsame Stadt
Vor 60 Jahren begann der Warschauer
Aufstand
Obwohl der Warschauer Aufstand nur 63 Tage
dauerte, ist er in die Geschichte als ein
außergewöhnliches Ereignis des Zweiten Weltkrieges
eingegangen. Am 1. August jährte sich sein Beginn zum 60. Mal
und wurde besonders feierlich begangen. Die Gefechte mit SS und
Wehrmacht um jeden Straßenzug, um jedes Haus kosteten mehr als
200.000 Tote. Warschau wurde danach dem Erdboden gleichgemacht.
Über den Warschauer Aufstand sind viele
wissenschaftliche Abhandlungen erschienen, doch die meisten stellen
diese dramatische Episode des Krieges recht einseitig dar. So
unterscheidet sich die umfangreiche Publikation des englischen
Historikers Norman Davies in vielen Aspekten von den bisherigen
Veröffentlichungen. Man kann Davies nur zustimmen, wenn er
schreibt, dass die Geschichte des Aufstandes nie richtig
dargestellt worden sei, weil die verschiedenen Gruppen nur ihre
eigene Sicht gelten lassen wollten.
Dieses Buch berichtet nicht nur über den
Warschauer Aufstand; Davies zeichnet ein Gesamtbild der so
komplizierten Situation im besetzten Polen und beleuchtet die
unterschiedlichsten Aspekte der Okkupationszeit. Wie in einem
Brennglas erfahren wir auch viele Details - und das anhand neuer
Dokumente - über die Spannungen zwischen den
Alliierten.
Die umfangreiche Monografie besteht aus drei
Teilen. Zuerst wird die Situation im "Generalgouvernement" - so
hießen die besetzten Gebiete in Polen, die nicht dem Dritten
Reich einverleibt worden waren - dargestellt. Hier hatte sich der
polnische Widerstand organisiert, hier befand sich die
Untergrundführung und hier war die Heimatarmee, die "Armia
Krajowa", entstanden.
Der Autor zeigt, wie sich Großbritannien
für Polen engagierte und wie die USA weit weniger Interesse
aufzubringen vermochten. Infolge des Ribbentrop-Molotow-Vertrags im
September 1939 wurde das östliche Territorium Polens dem
Staatsbereich der Sowjetunion eingegliedert. Obgleich darüber
Bestürzung in Polen zum Ausdruck gebracht wurde und die
Westmächte das bedauerten, sahen sie keine Möglichkeit,
gegen die Annexion einzuschreiten. Stalin wiederum nahm das zum
Anlass, die Beziehungen mit dem unbequemen Partner Polen
abzubrechen. Es war auch eine gute Gelegenheit, die Deutschen
für den bestialischen Mord tausender polnischer Offiziere
durch die Russen in Katyn verantwortlich zu machen.
Der zweite Teil des Buches ist dann mit
vielen Details dem Aufstand selbst gewidmet. Der Autor untersucht
die Gründe, warum der Aufstand so tragisch enden musste. Die
westlichen Alliierten verhielten sich eher zurückhaltend und
vertraten die Auffassung, dass es nur zu einem vereinsamten Kampf
kommen würde. Auch zeigten sie wenig Interesse an den
polnischen Plänen, über Warschau eine polnische
Fallschirmbrigade absetzen zu lassen. Davies sagt es direkt: "Das
Wirken der alliierten Koalition war entscheidend für das
Desaster." Der Warschauer Aufstand sei für sie nichts anderes
als nur ein Feld auf einem großen Schachbrett
gewesen.
Aufgrund des unaufhaltsamen Vormarsches der
Roten Armee waren die deutschen Truppen im Sommer 1944 bis auf 20
Kilometer vor die Tore Warschaus zurückgedrängt worden.
In Polen träumte man von der Befreiung der Stadt; 40.000
bewaffnete Kämpfer wollten sie erobern. Doch der Aufstand war
nicht nur gegen die deutsche Besatzungsmacht gerichtet.
Gleichzeitig wollte sich die polnische Untergrundführung, die
nicht gerade sowjetfreundlich eingestellt war, gegenüber den
Russen als legitime politische Macht in Polen
präsentieren.
Das lag nicht im Interesse der Sowjets, die
in Lublin ihre Satellitenregierung mit Hilfe polnischer Kommunisten
am 22. Juli bildeten. Stalin dachte nicht daran, die
Aufständischen zu unterstützen, die sowjetischen Truppen
sahen am rechten Weichselufer dem Geschehen tatenlos zu.
Auch verfügte die Heimatarmee über
keine genauere Kenntnis sowjetischer Kampfpläne. Im Buch lesen
wir, dass sich einer der Untergrundführer auf einem Fahrrad
aufmachte, um die sowjetischen Stellungen zu erkunden.
Außerdem hatte das Oberkommando der deutschen Wehrmacht
bereits am 23. Juli 1944 deutsche Spezialpanzerdivisionen gen Osten
verlegt und unweit Warschaus, fast zur selben Zeit, als der
Aufstand ausgbrach, sowjetische Panzereinheiten
zerstört.
Aus den Plänen zur Befreiung Warschaus
wurde nichts. Davies berichtet in diesem Kontext ausführlich
über die englische Luftwaffenhilfe, insbesondere während
der ersten Tage des Aufstandes. Später erteilte Stalin nur
zögerlich Landegenehmigung für die Flugzeuge der
Alliierten auf dem Flughafen im ukrainischen Poltawa. Obgleich die
Weltöffentlichkeit über Moskau entsetzt war, waren weder
London noch Washington zu ernsthafter Hilfe entschlossen. Erst im
September, als der Aufstand schon fast ausgeblutet war, konnten
alliierte Flieger mit 144 "fliegenden Festungen" von England aus
starten. Doch 90 Prozent der abgeworfenen Hilfsgüter und
Waffen fielen in die Hände der Deutschen.
Im dritten Teil behandelt der Autor den
"Bürgerkrieg" in Polen. So schreibt Davies, dass die
Kapitulation der Aufständischen nur das Ende des offenen
bewaffneten Kampfes bedeutete. Er ging im Untergrund weiter. Der
Autor beschreibt den weiteren Weg der Aufständischen, die
Dramatik, die die Warschauer Bevölkerung durchmachte, als die
Menschen ihre Stadt verlassen mussten, in die Konzentrationslager
kamen oder zur Zwangsarbeit geschickt wurden. Alles war vernichtet
oder zerstört, was noch irgendein Zeugnis polnischer Kultur
hätte sein können. Warschau, vereinsamt in
Trümmerbergen, wurde Objekt von Raubzügen.
Rachsüchtiger Stalin
Nach der russischen Besetzung Polens begann
das sowjetische NKWD, die politischen und militärischen
Führer des Aufstandes, die überlebt hatten, zu verfolgen.
Wo man sie fasste, wurden spektakuläre Prozesse gegen sie in
Moskau geführt.
Auf polnischem Boden entstanden Lager
für Soldaten der Heimatarmee. Viele von ihnen kamen in das
Schreckenslager Workuta. Einige versuchten, der Verhaftung zu
entkommen, indem fiktive Grabsteine mit Namen der Gesuchten auf dem
Friedhof aufgestellt worden waren.
Nach 1945 wurde Warschau wieder aufgebaut.
Über den Aufstand erschienen nur Publikationen, die die
Aufständischen diskreditierten. Doch bereits nach 1956 wurden
in Polen immer mehr Stimmen laut, die im Aufstand nicht nur einen
Willensakt der Geknechteten zur Befreiung Warschaus sahen. Davies
schließt sein Werk mit der These, dass die "Tragödie des
Warschauer Aufstandes im Wesentlichen aus dem Scheitern des Systems
der Großen Allianz" resultierte. Mag jeder für sich
interpretieren, was das bedeutet.
Norman Davies
Aufstand der Verlorenen.
Der Kampf um Warschau 1944.
Droemer Verlag, München 2003; 816 S.,
29,90 Euro
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