|
|
Bert Schulz
... aufgekehrt
Zu den Besonderheiten der Redaktion dieser Zeitung gehört,
dass sie ein Lieblingskunstwerk besitzt. Wobei besitzen das
falschen Wort ist: Sagen wir, für sich beansprucht. Eigentlich
ist "Liebling" auch übertrieben, meistbeachtet wäre
passender. So kompliziert wie seine Beschreibung ist das Kunstwerk
selbst. Es handelt sich keineswegs um einen schnöden Picasso
oder platten Rubens - ein bisschen politischer muss es schon sein.
Das künstlerische Augenmerk der Redakteure gilt (am
Arbeitsplatz) ganz und gar vier bunten Ruderbooten, ihrem kaum zu
entcodierenden Subtext und ihren geradewegs verschlungenen
Wegen.
In der großen Halle des Hauses eins des
Jakob-Kaiser-Hauses, in dem die Redaktion sitzt, hat die
Künstlerin Christiane Möbus vier Rennachter
aufgehängt, an der Decke, an Stahlseilen, die von Motorwinden
nach dem Zufallsprinzip betrieben, in jeweils unterschiedlichem
Tempo die Bötchen rauf und runter ziehen. Wohlgemerkt rauf und
runter, ganz entgegen der ihnen zugedachten Fortbewegungsart.
Vermutlich, damit das Ganze nicht zu abstrakt wirkt, hat die
Kunstprofessorin die passenden Sportschuhe (unbenutzt) an passender
Stelle in die Renner eingeschraubt. Man stelle sich also vier mal
acht schwitzende Menschen vor, die mit aller Kraft rudern und doch
nicht vorankommen. Zum Verzweifeln, oder?
Das ist natürlich eine falsche Interpretation, weil nicht
politisch genug. Also gut: Die Boote glänzen in vier
verschiedenen Farben, bewegen sich in unterschiedlichem Tempo und
stehen selten (und dann nur für kurze Augenblicke) auf selber
Höhe. Vier Boote, vier Farben, vier Positionen, gibt es nicht
auch genau vier Fraktionen im Deutschen Bundestag? Das stimmt, aber
wieder auch nicht. Die Schiffchen sind rot, gelb, schwarz und -
blau: Schon mal 'ne blaue Fraktion gesehen? Etwas gewählter
ausgedrückt, aber inhaltlich identisch, erfahren
Besuchergruppen, dass das Naheliegendste nicht unbedingt das
Richtige ist.
Durch eine Langzeitbeobachtung des Kunstwerks, die trotz aller
Routine durchaus inspirierend sein kann, ergeben sich weitergehende
Erklärungsansätze. Etwa alle drei Wochen setzen zwei, in
der Regel schön kontrastreich in Blaumännern gekleidete
Handwerker die Boote außer Betrieb. Fast wäre man
geneigt, an Aktionskunst zu denken, auch weil es meist reicht, wenn
die Herren nur die dekorativ montierten Motoren von dreien
anhalten, das vierte hat schon vorher gestreikt (der Beobachter
notiert: keine Verbindung zwischen Bootsfarbe und Häufigkeit
der Aussetzer feststellbar). Stundenlang mühen sich die
Handwerker publikumswirksam mit der Technik ab, dann gehen die
Achter wieder auf Tour. Bisher hat aber noch kein Reparateur dem
Bewegungssystem langfristig trotzen können. Die Boote als
Ganzes also als Symbol für Deutschland und seine Politik, an
der regelmäßig geschraubt werden muss? Das ist fast zu
politisch.
Die Internetseite des Bundestages klärt auf: "So bewirkt
der tänzerisches Rhythmus der starkfarbigen Boote im Luftraum
der großzügigen Halle nicht nur eine beschwingte
Stimmung, er verbindet gleichzeitig Spiel und Sport und
symbolisiert überdies die Lebendigkeit und Fairness des
politischen Wettstreits." Ach so? Bert Schulz
Zurück zur
Übersicht
|