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Stephan Küke
Mehr Chancen für die Kleinsten
Aufbruch im
Betreuungsentwicklungsland
"PISA sei Dank", seufzte unlängst im
privaten Kreis eine junge Mutter, die bis zur Veröffentlichung
der Bildungsstudie immer wieder rechtfertigen musste, dass sie
ihren Felix mit einem halben Jahr in eine Berliner
Kindertageseinrichtung gebracht hatte. Seit PISA und dem
Bekanntwerden der (erfolgreicheren) Bildungskonzepte der
europäischen Nachbarländer gestehen die Freunde ihr nun
zu, durchaus auch im Interesse ihres Sohnes gehandelt zu haben -
und nicht nur in ihrem eigenen, wie der Vorwurf häufig
lautete.
Dass die ersten sechs Lebensjahre in
Deutschland nicht ausreichend für die Förderung genutzt
werden, beklagen Bildungsforscher und
-forscherinnen seit vielen Jahren. Dabei ist
die Wissbegierde der Vorschulkinder enorm, ebenso ihre
Lernfähigkeit. Leo zum Beispiel, viereinhalb Jahre,
Kindergartenkind aus Bornheim, erarbeitet sich begierig alles, was
es über Dinosaurier zu wissen gibt. Dabei schreckt er selbst
vor wissenschaftlichen Büchern nicht zurück, die seine
Eltern am Wochenende geduldig mit ihm durchgehen. Die lateinischen
Bezeichnungen für jedes dieser Urviecher inklusive ihrer
Lebensgewohnheiten beherrscht er aus dem Effeff und jongliert wie
ein Großer mit den dazugehörigen Millionen Jahren. "Lesen
ist cool", verblüffte er unlängst seine
Kindergärtnerin. Und - Leo ist keine Ausnahme.
Das im Ländervergleich magere Wissen der
deutschen 15-Jährigen führte dazu, dass die deutsche
Öffentlichkeit auch etwas über die der Schule
vorgelagerten Bildungseinrichtungen erfuhr. Und da stellte sich
heraus, dass kleine Kinder nach Meinung der Franzosen, Dänen
oder Schweden keineswegs am besten bei Mama zu Hause aufgehoben
sind, Einzelkinder schon gar nicht. Außerfamiliäre
Betreuung gilt in Skandinavien als Lern- und Entwicklungschance
schon für Kleinstkinder. In Frankreich bietet der Staat
ebenfalls für die Zeit nach der Geburt ein breites Angebot an
frühkindlichen Betreuungs- und Lernangeboten. Dort wie in
Skandinavien liegt die Frauenerwerbstätigkeit bei rund 70
Prozent und die Geburtenrate über unseren mageren 1,29
Prozent. Die Hausfrauenfamilie gilt in diesen Ländern als Exot
und die Kinder entwickeln sich, anders als oftmals behauptet, nicht
schlechter als bei uns.
Qualifizierte Angebote
entscheidend
Das ausgewiesene Expertengremium um den
einstigen Direktor des deutschen Jugendinstitutes in München,
Ingo Richter, hat bereits im elften Kinder- und Jugendbericht
(2002) ein "Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung"
gefordert. Öffentliche Verantwortung meint dabei nicht
Verstaatlichung von Erziehung und Bildung, sondern im besten Sinne
Ergänzung und Stärkung dessen, was Eltern tagein, tagaus
leisten. Für ein gelingendes Aufwachsen, so die Experten,
brauche man auch in Deutschland "qualifizierte Angebote für
die Erziehung, Bildung und Betreuung aller Kinder in
Kindertageseinrichtungen sowie verlässliche
Schulzeiten".
Soweit die Wissenschaft. Wohin aber nun in
Deutschland mit den Kleinsten? Nach Hause zu Mama oder - seltener -
Papa? Zu Oma und Opa, in eine Tageseinrichtung, zu Tagesmutter oder
Kinderfrau? Wer sich unter jungen Familien umschaut, entdeckt eine
Vielzahl von Lösungen: Die anfangs erwähnte junge Mutter
aus Berlin ist mit ihrer Kindertagesstätte mehr als zufrieden.
Selbst die Kleinsten lernen mit einer eigens angestellten
Engländerin englische Lieder. Mittwoch und Freitag kommt ein
Musikpädagoge in die Gruppe. Anders hat sich Karin aus Koblenz
entschieden: "Meine Schwiegereltern wohnen nebenan und nehmen Meike
während meiner Arbeitszeit, bis sie einen Kindergartenplatz
bekommt." Claudia wohnt in Moers am Niederrhein und hat sich nach
der Geburt eine Tagesmutter gesucht: "Sie hat selber noch zwei
Kinder und so hat unsere Kim Kontakt zu anderen Kindern." Ganz
anders hat Sabine aus München die Betreuungsfrage gelöst:
"Meine Freundin und ich tauschen unsere Kinder. Morgens sind sie
bei mir und nachmittags bei ihr. So kann jede einen halben Tag
arbeiten."
Familienministerin Renate Schmidt
konstatierte zu Beginn ihrer Amtszeit: "Was die Kinderbetreuung
angeht, ist Deutschland innerhalb der EU ein Entwicklungsland." Im
Jahr 2002 hatten im Durchschnitt nur etwa zehn Prozent der unter
Dreijährigen einen Krippenplatz (Statistisches Landesamt
Baden-Württemberg). Erwartungsgemäß ist dabei der
Unterschied zwischen den einzelnen Bundesländern - vornehmlich
zwischen Ost und West - sehr groß. So haben in Brandenburg 45
Prozent der unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz, in
Bayern sind es gerade einmal vier Prozent, ebenso in
Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Während in den westlichen Bundesländern aufgestockt
werden soll, nahm die Zahl der Einrichtungen in Ostdeutschland
zwischen 1994 und 1998 um 22 Prozent ab. Die Zahl der
verfügbaren Plätze schrumpfte um 24 Prozent.
Unterschiede fallen auch auf, wenn man sich
die Situation in Städten und im ländlichen Raum ansieht.
Wer mit seinen Kindern in einer Großstadt lebt, hat bessere
Chancen, einen der heiß begehrten Plätze zu ergattern,
als der, der das Landleben vorzieht. Auf dem Land sind Eltern bis
zum Kindergartenalter ihres Nachwuchses auf familiäre Kontakte
angewiesen oder organisieren zusammen mit anderen eine auch
rechtlich aufwändige private Einrichtung. In Frankfurt und
Hamburg dagegen liegt die Versorgungsquote bei den Kleinsten bei 17
Prozent, in Berlin gar bei knapp 40 Prozent.
Doch auch in Städten kann es Eltern
passieren, dass sie keinen geeigneten Platz finden und auf einer
endlosen Warteliste landen. So ist es Martina aus Bonn gegangen:
"Es war einfach kein Platz in einer Tageseinrichtung oder einer
Elterninitiative zu bekommen. Wir haben über ein Jahr gesucht.
Jetzt haben wir mit mehreren Eltern eine eigene Initiative
gegründet, ein Haus gekauft und sind auf der Suche nach einer
geeigneten Erzieherin. Diese ganze Aktion ist harte Arbeit, und es
ist unglaublich, mit was für bürokratischen Hürden
wir zu kämpfen haben."
Nun ist es nicht so, dass die deutsche
Politik die auch wissenschaftlich gut untermauerten Gründe
für eine frühe Sozialisation und Lernerfahrung in
Einrichtungen ignoriert. Seit Juli liegt der Entwurf des
Tagesbetreuungsausbaugesetzes auf dem Tisch. Darin heißt es zu
Beginn unter anderem: "Ein Ausbau der Infrastruktur ist, das zeigen
alle internationalen Vergleiche, ein erfolgreicher Weg, um die
Entscheidung für die Erfüllung von Kinderwünschen zu
erleichtern, um Familien und der Gesellschaft insgesamt bessere
Entwicklungschancen zu geben sowie für mehr
Geschlechtergerechtigkeit zu sorgen ... Die Förderung
(Erziehung, Bildung und Betreuung) von Kindern soll gesichert und
weiter entwickelt werden, um die Innovationsfähigkeit unserer
Gesellschaft zu erhalten. Ziel ist es, das Angebot bis 2010
quantitativ und qualitativ an den westeuropäischen Standard
heranzuführen."
Finanziert werden soll der stufenweise Ausbau
der Kindertagesstätten und der Tagesbetreuung durch
Einsparungen der Kommunen, die sich aus der Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ergeben sollen. 1,5 Milliarden
Euro würden dafür frei werden, rechnet sich das
Familienministerium aus. Allerdings bestreiten die Kommunen, dass
diese Summe reicht. Die Fachverbände bewerten den Entwurf als
zu zaghaft, vermissen zum Beispiel eine Reform der
Professionalisierung des Personals und kritisieren, dass auf einen
Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung verzichtet wurde.
Neu an der Diskussion um mehr
Tageseinrichtungen ist ihre bildungspolitische Dimension. Diese ist
es, die auch in konservativen Kreisen Gehör findet. Bisher
steckte man dort den Ruf nach mehr öffentlicher Betreuung und
Bildung in die Ecke der vermeintlichen Selbstverwirklichung der
Eltern, insbesondere der Mutter. Weil diese erwerbstätig sein
will, muss das Kind (und hier schwang ein unausgesprochenes
"leider" mit) in eine Tageseinrichtung, so der Tenor. Vorschulische
Einrichtungen als Raum für gezielt angeleitete
Bildungserfahrungen zu sehen hat in Deutschland keine Tradition.
Doch - PISA sei Dank - scheint sich da etwas zu bewegen.
Stephan Lüke ist freier Journalist in
Bonn.
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