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Antje Flade
Mehr Verkehrssicherheit und Spielräume
für Kinder
Mobilität mit Hindernissen
In der Verkehrsplanung und Verkehrspolitik sind die Belange von
Familien bislang kaum berücksichtigt worden. Während
beispielsweise der Begriff "familienfreundliches Wohnen" durchaus
geläufig ist, lässt sich das beim "familienfreundlichen
Verkehr" nicht feststellen.
Im Verkehrsbereich dominieren offensichtlich andere Themen so
stark, dass kein Raum bleibt, in die kontroversen Debatten etwa
über die Entwicklung und den Einsatz von Technik zur
Verhinderung von Staus, über die Einführung von
Straßenbenutzungsgebühren, über Ansätze zur
Senkung des Kraftstoffverbrauchs auch noch soziale Aspekte wie den
familienfreundlichen Verkehr einzubringen. Wirtschaftliche und
zunehmend auch ökologische Überlegungen beherrschen das
Feld. Ein weiterer Grund ist, dass im Verkehr im Allgemeinen nur
zwei Ebenen betrachtet werden: in erster Linie die Aggregatebene,
das heißt der Verkehr als Summe individueller Fortbewegungen
pro Zeit und Raum, sowie des Weiteren die individuelle Ebene, das
heißt die einzelne Person, die zum Verkehr beiträgt,
beziehungsweise der "Beförderungsfall". Die dazwischen
liegende Gruppenebene fehlt. Menschen sind jedoch nicht nur
"Einzelwesen", die ihre Entscheidungen ganz für sich allein
treffen - zum Beispiel welches Verkehrsmittel sie wählen -,
sondern "Gruppenwesen". Viele Entscheidungen werden in Gruppen
gefällt, zum Beispiel wird entschieden, dass die Mutter heute
das Familienauto bekommt, weil sie das Kind transportieren und den
Großeinkauf tätigen muss, und der Vater an diesem Tag mit
dem Fahrrad vorlieb nehmen muss. Weil die Gruppenperspektive in der
Verkehrsplanung und Verkehrspolitik noch nicht entwickelt ist,
kommen auch die Probleme, die Familien mit dem Verkehr haben
könnten, nicht in den Sinn.
Die Familie rückte mit ins Blickfeld, als man in den
90er-Jahren begann, die Belange von Frauen als
Verkehrsteilnehmerinnen zu beleuchten. Man stellte fest, dass sich
Frauen in mehrfacher Hinsicht von Männern unterscheiden: sie
haben seltener ein Auto zur Verfügung, sie fühlen sich
häufiger unsicher, belästigt und bedroht, wenn sie in der
Dunkelheit allein unterwegs sind, sie legen öfter Wegeketten
anstelle einfacher Wege zurück und sind häufiger für
die Betreuung und das Wohl von Kindern zuständig. Frauen in
ihrer Rolle als Sorgende für andere Familienmitglieder sind
die Brücke zur Familie. Sie nehmen Kinder mit, wenn sie
unterwegs sind, und sie begleiten Kinder auf ihren Wegen, damit
diese sicher und in zumutbarer Zeit am Zielort ankommen.
Während die Familie in Bezug auf den Bereich Mobilität
und Verkehr kaum thematisiert wurde, war das Thema "Kind und
Verkehr" immer im Blickfeld. Alle Jahre wieder, wenn die
Verkehrsunfallstatistik des Vorjahres veröffentlicht wird,
werden die Kinderverkehrsunfälle extra analysiert.
Handlungsbedarf ergibt sich dann, wenn die Unfallraten angestiegen
sind oder wenn Deutschland im Vergleich zu seinen
Nachbarländern schlecht abschneidet. Vor 30 Jahren war die
Rate der verunglückten Kinder in Westdeutschland deutlich
höher als heute, im Osten ist sie nach der Wende angestiegen.
Doch auch wenn diese Zahl heute insgesamt niedriger ausfällt
als vor 30 Jahren, so nimmt Deutschland im Vergleich zu den anderen
Ländern Europas nach wie vor eine Spitzenposition ein. Hier
ist natürlich die Verkehrspolitik gefordert.
Die Frage der Verkehrssicherheit ist jedoch nur ein Aspekt,
wobei es keine Frage ist, dass es sich um einen entscheidenden
Punkt handelt. Das zeigt sich auch daran, dass sich viele
Verbände und Institutionen damit befassen. Es gibt aber noch
weitere verkehrsbedingte Probleme, die sich Familien im wahrsten
Sinne des Wortes in den Weg stellen und die sie lösen
müssen. Ein gravierendes Problem ist, dass sich Kinder
draußen oftmals nicht mehr eigenständig und in
ausreichendem Maße bewegen können, weil die dazu
erforderlichen Freiflächen knapp geworden sind. Denn sowohl
der fließende als auch der ruhende Autoverkehr nehmen
ungeheuer viel Fläche in Anspruch. Sogar der ruhende Verkehr
ist gefährlich, wenn er nämlich die Sicht über das
Verkehrsgeschehen behindert. Wenn Aktions- und Spielräume im
Außenraum verschwinden, werden sich die Kinder in unserer
ohnehin bewegungsarmen Auto-, Fernseh- und Computer-Gesellschaft
noch weniger bewegen. So können sie auch die psychomotorischen
Fertigkeiten, die für eine eigenständige
Verkehrsteilnahme erforderlich sind, nicht im erforderlichen
Maße ausbilden. Solange es verkehrssichere Freiflächen in
Wohngebieten gibt, könnte auf Kompensationsangebote wie das
Kinderturnen im Vorschulalter, Bewegungskindergärten oder
"bewegte" Schulen weitgehend verzichtet werden.
Auf dem Lande
Im Übrigen sind auch die Kinder auf dem Lande zunehmend von
Bewegungsarmut betroffen, denn die Vorteile ländlicher
Wohngebiete, Kindern größere Aktionsräume zu bieten,
gehen verloren, wenn sie zur Schule und zu anderen Zielorten
transportiert werden müssen. Zusätzlich wird hier das
Zeitbudget vor allem von Frauen belastet, die als
Transportunternehmen fungieren.
Daraus ergibt sich, dass eine familienfreundliche
Verkehrspolitik mehr leisten muss als gleiche
Mobilitätschancen für Familien wie für
Nicht-Familien herzustellen. Sie muss auch auf verkehrsbedingte
Belastungen von Familien, die durch mangelnde Verkehrssicherheit,
fehlende Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten im Außenraum
oder Verkehrslärm entstehen, reagieren und Familien bei der
Problemlösung unterstützen.
Je nach Familienphase gestaltet sich die Beziehung zur
Verkehrsumwelt unterschiedlich, wobei grundsätzlich stets zwei
Seiten im Auge behalten werden müssen. Einerseits nehmen
Familien und Familienmitglieder am Verkehr teil, andererseits sind
sie von den negativen Folgen des motorisierten Straßenverkehrs
stärker betroffen, weil vermehrte Schutzmaßnahmen
erforderlich sind und weil Familien stärker an die Wohnung
gebunden sind als beispielsweise die hochmobilen Singles. Bei
Kindern in der Kleinkind-, Vorschul- und Grundschulphase fungieren
die Eltern vor allem als Schutzschild. Die größte Gefahr
ist der motorisierte Verkehr. Geschützt wird durch Begleitung
beziehungsweise Transport im Pkw und durch Einschränkung des
kindlichen Aktionsraums. Ein familienspezifischer Stress ist die
Angst der Eltern, dass das Kind verunglücken könnte, wenn
es, sobald es älter wird, seine Wege eigenständig
zurücklegt. Doch Eltern sind nicht nur Betreuungs- und
Bezugspersonen, sondern auch Vorbilder, deren Verhaltensweisen
übernommen werden. So sind Kinder, die in autofreien
Haushalten aufwachsen, und Kinder mit Eltern, die einen großen
Teil der Wege nicht mit dem Auto zurücklegen, weniger
autoorientiert; sie stellen sich seltener vor, dass sie als
Erwachsene viel Auto fahren werden, als Kinder aus autofixierten
Familien. Anzumerken ist hier, dass Eltern den an sie gestellten
Mobilitätsanforderungen nachkommen müssen. Inwieweit das
ohne Auto möglich ist, hängt nicht nur von ihnen selbst,
sondern auch von raumstrukturellen Merkmalen beziehungsweise den
Entfernungen zu den alltäglichen Zielorten und der
unkomplizierten Erreichbarkeit dieser Orte mit dem Fahrrad, mit
öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß ab.
Eine kinder- und familienfreundliche Verkehrspolitik lässt
sich folgendermaßen umschreiben: Kinder können sich
verkehrssicher in ihrem Wohngebiet bewegen, sie können ihre
Schulwege ohne Angst zurücklegen, sie haben ausreichend Spiel-
und Bewegungsräume im Außenraum, Eltern müssen nicht
ständig aufpassen, sie haben weniger Stress, und sie
können, weil sie den Mobilitätsanforderungen auch ohne
Fahrzeug genügen können, bessere Vorbilder sein.
Es gibt zahlreiche und vielfältige Vorschläge in
dieser Richtung, die zwar meistens nicht unter der Flagge
"familienfreundliche Verkehrspolitik" segeln, es aber dennoch sind.
Sie laufen auf eine Besserstellung des nicht motorisierten Verkehrs
hinaus. So haben es die nicht motorisierten Familienmitglieder
leichter, ihre Mobilitätswünsche zu erfüllen und den
Mobilitätsanforderungen eigenständig und ohne Angst, im
Verkehr zu verunglücken, nachzukommen. Familien müssen
weniger verkehrsbedingten Stress erleben. Ein positives Beispiel
ist der Nationale Radverkehrsplan, der Argumente und Tipps für
eine strategische Radverkehrsförderung enthält.
Zeitgemäße Mobilitätserziehung
Kinder- und familienfreundlicher Verkehr ist aber nur dann
möglich, wenn die Verkehrsteilnehmer und
Verkehrsteilnehmerinnen dabei mitmachen. Dazu gehört die
Erkenntnis, dass der Verkehr keine individuell unbeeinflussbare
Tatsache ist, auf die man sich einzustellen hat, sondern dass er
ein von Menschen gemachtes und veränderbares Produkt ist. Der
Wandel von der klassischen schulischen Verkehrerziehung, die den
Schwerpunkt auf das Lernen von Verkehrsregeln legte, zur
zeitgemäßen Mobilitätserziehung ist dabei ein
wesentlicher Schritt.
Am Schluss noch kurz der Blick auf das Stichwort
"Partizipation". Damit ist nicht gemeint, dass Familien in die
kommunale Verkehrsplanung einsteigen sollen. Sondern es geht darum,
dass sie ihre Probleme und ihr Erfahrungswissen "an den Mann"
bringen können. Mit einer Ansprechperson in der Stadt im Sinne
eines Ombudsmanns für die Belange von Kindern und Familien im
Verkehr wäre die Bezeichnung "Partizipation" schon ein
Stück weit realisiert. Antje Flade
Antje Flade ist Diplom-Psychologin und arbeitet als
wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut Wohnen und Umwelt (IWU)
in Darmstadt.
Internet: www. beiki.de
(webbasierte Lernsoftware "Mit dem Fahrrad durchs Netz", auch
als CD-ROM im IWU erhältlich)
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