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Margot Käßmann
Vertrauen als "Schutzimpfung" gegen die
Versuchungen
Mut zur Erziehung
Immer wieder ist in den vergangenen Jahren von
einer "Erziehungskatastrophe", manchmal auch von einem
"Erziehungsnotstand" die Rede. Geradezu genüsslich wird
erklärt, die 68er-Generation habe alle Maßstäbe
über den Haufen geworfen und wir seien nun ohne jede
Orientierung für Erziehung sozusagen hilflos mit den Kindern
unserer Zeit in der Krise.
Derartige Horrorszenarien halte ich für
gefährlich und vor allen Dingen auch für ungerecht. Die
Veränderungen Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, sie waren
ja notwendig in einer Demokratie, in der nicht einfach das Wort des
Vaters als Wahrheit gelten konnte, in der Kinder und Jugendliche
lernen sollten, nachzufragen, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Gerade bei vielen Jugendlichen beispielsweise aus patriarchal
geprägten Zuwandererfamilien sehen wir heute eben dieses
Ringen, das in jenen Jahren in den deutschen Familien stattfand.
Dass Autorität etwas anderes bedeutet als autoritäres
Gebaren, musste in jenen Jahren gelernt werden. Allerdings dachten
manche nun, Kinder erzögen sich irgendwie von selbst und
würden ihren Weg ohne jede Orientierung finden. Doch es gibt
einige Beispiele, die eine notwendige Veränderung deutlich
machen:
- Das Thema Grenzen. Da ist das schöne
Beispiel der Eltern, die ihr Kind mit auf eine Party schleppen und
ganz locker erklären: "Das macht dem Kleinen gar nichts, bis
zwei Uhr morgens mit dabei zu sein." Wenn der dann völlig
übermüdet und überdreht zugleich zwischen leeren
Weinflaschen und Aschenbechern orientierungslos umherrobbt, findet
dieses Kind niemand mehr niedlich. Wesentlich besser für das
Kind wie für die Eltern und die anderen Gäste wäre
es gewesen, dieses Kind mit einem Babysitter zu Hause zu
lassen.
- Das Thema Vernachlässigung. Es gibt
vermehrt Kinder, die keinerlei Orientierung und keine Klarheit
erhalten, sich selbst überlassen bleiben.
- Das Thema Mangel an Vorbildern, an
Prägekraft. Wie kann ein Kind Zivilcourage lernen, wenn es
erlebt, dass im Bus alle wegschauen, wenn ein Asylbewerber
angepöbelt wird? Was nützen hehre Prinzipien, wenn die
Erwachsenenwelt sie nicht einhält, keine Regeln
anerkennt?
- Die Delegation der Erziehungsaufgabe an
Institutionen. Sie wird geradezu symbolisiert in einer Karikatur,
in der Vater mit Bierdose und Mutter mit Fernsehschalter auf dem
Sofa sitzen und auf den Bildschirm starren. In der Mitte läuft
ein kleiner Junge mit Stern über dem Kopf im Kreis. Die Mutter
sagt: "Du, der benimmt sich in letzter Zeit so komisch." Der Vater
antwortet: "Macht doch nichts. Er kommt ja bald in die Schule."
Viele Eltern brauchen nicht nur Unterstützung in der
Erziehung, es muss ihnen auch wieder klar gemacht werden, dass
Erziehung eine Leistung ist, die Eltern zu erbringen
haben.
- Der Mangel an Maßstäben. Regeln
des Zusammenlebens, die früher selbstverständlich waren,
sind individualisiert beziehungsweise der Beliebigkeit anheim
gestellt worden.
- Die Mediengesellschaft. In den vergangenen
20 Jahren hat sich unsere Gesellschaft radikal verändert.
Nehmen wir allein die Zulassung des Privatfernsehens vor 20 Jahren,
die das Fernsehen rund um die Uhr, Fernsehen voller Blödelei
bis hin zur Pornographie in die Wohnzimmer gebracht hat. Die
Entstehung der Handys, der Computer, die Vernetzung der
Informationen, ja die Überfülle der Informationen sind
von der Medienpädagogik bei weitem noch nicht verarbeitet
worden.
- Die Religion. Indem Religion eher als
Phänomen von gestern gesehen wird, gibt es eine Erosion
religiöser Erziehung. Eltern erzählen die alten
Geschichten nicht mehr, es gibt kein gemeinsames tradiertes Erbe,
keine Erinnerungskultur. Religiöse Maßstäbe und
Rituale,Gemeinschaftserfahrung am freien Sonntag, an den hohen
Festtagen, sie sind preisgegeben worden.
Das ist ein großer Lamentogesang.
Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass immer noch 80 Prozent
aller Kinder bei Vater und Mutter aufwachsen und erzogen werden,
dass sich viele Alleinerziehende intensiv um Erziehung
bemühen. Zudem hat sich das Verhältnis von Eltern und
Kindern deutlich verbessert. Das ist beispielsweise an der Tatsache
abzulesen, dass laut Umfragen heute Jugendliche ihre Mütter an
erster Stelle nennen, wenn sie nach Vorbildern gefragt werden. Das
ist in der Tat eine Veränderung. Das heißt, Eltern sind
zunehmend Personen des Vertrauens geworden, Menschen, mit denen ich
über Probleme, auch über Sexualität sprechen
kann.
Gleichzeitig muss Eltern natürlich immer
wieder deutlich gemacht werden, dass sie nicht die besten Freunde
ihrer Kinder sind. Ein Vater ist ein Vater und eine Mutter eine
Mutter. Der Generationenabstand muss eingehalten werden. Manches
Mal ist das sicher schwieriger geworden in einer Zeit, in der schon
die Eltern mit Rolling Stones aufgewachsen sind und heute die
selben Radiosender und Hits wie die Jugendlichen hören. In der
die Jeans der Tochter auch der Mutter passt, in der der Vater auf
das selbe Konzert gehen will wie der Sohn. Das sind Zeichen von
Annäherungen und partnerschaftlicher Beziehung zwischen Eltern
und Kindern. Diese dürfen aber nicht zu einer Rollen-
beziehungsweise einer Generationenirritation führen. Eltern
müssen sich bewusst sein, dass sie Vorbildcharakter haben,
dass sie die Kraft der Autorität haben müssen, Grenzen zu
ziehen und Auseinandersetzungen zu führen.
Für mich selbst ist bei der Erziehung
meiner vier Kinder der christliche Glauben eine zentrale
Hilfestellung gewesen. Das hängt zum einen damit zusammen,
dass Glaube Vertrauen bedeutet, dass ich in der Taufe diese Kinder
auch Gott anvertraue und sie daher besser frei lassen kann. Ich
muss sie nicht beherrschen und kontrollieren, ihnen aber sehr wohl
klare Maßstäbe mit auf ihren Lebensweg geben: Regeln, die
in einer Familie zu gelten haben und Regeln, die ich auch für
mich persönlich anerkenne, weil sie sonst unglaubwürdige
Vorgaben wären.
Der christliche Glaube ist für mich auch
wichtig in der Vermittlung von Ritualen, von Standfestigkeit und
Lebensmut. Ich finde es traurig, wenn Eltern sagen, ihr Kind solle
doch eines Tages selbst entscheiden, welcher Religion es
angehören will. Das ist nur gerade nicht liberal, weil Kinder
sich nicht entscheiden können, wenn sie gar keine Religion
kennen. Meines Erachtens kann sich ein Kind mit 14 Jahren, mit der
Religionsmündigkeit nur für eine Religion oder gegen sie
entscheiden, wenn es eine Religion kennt. Wie wunderbar sind
Rituale, die wir in der Kindheit lernen und die wir weitergeben von
Generation zu Generation, mit denen wir uns in eine lange Kette der
Überlieferung stellen. Wie einsam sind Kinder, die diese Kette
von Überlieferung überhaupt nicht kennen und das
Gefühl haben müssen, sie seien die einzigen auf der
ganzen Welt. Ob die hohe Suizidrate unter Jugendlichen in unserem
Land auch mit dieser Verlorenheit und inneren
Sinnlosigkeitserfahrung zusammenhängt?
Konfrontation mit Sterben und
Krieg
Die ältere Generation sollte dafür
eintreten, dass Leben Sinn macht, dass Leben Höhen und Tiefen
kennt. Ich selbst habe von meinen Eltern gelernt, dass auch
Kriegserfahrungen, traumatische Erfahrungen verarbeitet werden
können. Das ist ungeheuer wichtig für Kinder, für
Jugendliche, die ja vor großen Rätseln dieser Welt
stehen, die an Überinformation, an Konfrontation mit Sterben
und Krieg über die Bildschirme, in virtueller Weise
ständig konfrontiert sind. Zur Erziehung gehört, auch
über Tod und Sterben zu sprechen. Viel zu oft wird das meines
Erachtens ignoriert. Es ist wichtig, dass Kinder lernen: Leben und
Sterben gehören zusammen.
Ich denke, Eltern stehen heute vor
dramatischeren Herausforderungen als früher. Sie können
nicht einfach sagen: "So ist es, basta!", sondern sie müssen
sich ernsthaft auseinandersetzen mit den Fragen der jungen
Generation, mit den Fragen dieser Welt, mit denen wir konfrontiert
sind, mit den Fragen unserer Gesellschaft. Da dürfen sie nicht
ausweichen, sondern müssen ihren Mann und ihre Frau stehen,
ohne dabei die eigenen Fragen und Zweifel zu verstecken. Und sie
müssen die Kraft haben, Grenzen zu ziehen in einer Welt, die
sich grenzenlos gibt und Grenzenlosigkeit und Individualität
zum Ideal erhebt. Eine Familie leben heißt: Aufeinander
Rücksicht nehmen, Zeiten einhalten, Regeln beachten, Werte
teilen. Es braucht Kraft, das Miteinander durchzusetzen. Es braucht
Mut, ein Kind und mehr Kinder zu haben und die eigene
Individualität für das Gemeinsame zurückzustellen.
Für eine Gesellschaft aber sind gerade Familien von
allergrößter Wertschätzung. Wer in einer solchen
Vertrauensbeziehung aufwachsen darf, erhält sozusagen die
beste "Schutzimpfung" gegenüber den Auseinandersetzungen und
Versuchungen unserer Zeit. Er lernt Vertrauen, erfährt
Geborgenheit und Verlässlichkeit - das
Aufeinander-Angewiesensein wird eingeübt.
Als Gesellschaft tun wir gut daran, Mut zu
Kindern, Mut zur Familie zu machen. Das dürfen dann aber keine
hohlen und leeren Worte sein, sondern wir müssen Modelle
erstellen, wie wir Familien entlasten können.
Flexibilität in den Arbeitszeiten und in den
Betreuungseinrichtungen, Großelternbörsen als
Freiwilligenagenturen, besonderes Bemühen um die mehr als eine
Million Kinder, die in Sozialhilfe aufwachsen - das sind Grundlagen
von Familienfreundlichkeit. Und auch die Ermutigung zum Leben, die
Zusage des christlichen Glaubens, dass jeder Mensch vor Gott eine
eigene Würde hat, ob er nun einen Arbeitsplatz hat oder nicht,
ob sie nun schlank und schön ist oder nicht, ob es sich um
einen sportlichen Jungen handelt oder einen sterbenden alten Mann.
Diese Botschaft wird Kinder im Leben stärken. Und
schließlich ist der Mut wichtig, Grenzen zu setzen. Er tut
unserer ganzen Gesellschaft gut. Es gibt ein Genug, es gibt eine
Grenze, die einzuhalten ist. Eine Gesellschaft, die meint, alles
sei grenzenlos, alles sei möglich, alle Werte seien gleich
viel wert, alle Anmaßungen seien gleich gültig, sie kann
Kindern und Jugendlichen nur Gleichgültigkeit vermitteln und
keine Zivilcourage.
Es ist ein Geschenk geradezu, dass zwischen
den Generationen heute viel mehr Vertrauen herrscht als
früher. Deshalb sollte Erziehung nicht schlecht geredet
werden, es gibt hervorragende Errungenschaften. Aber es geht auch
um eine Ermutigung zur Erziehung, das heißt, zum Setzen von
Maßstäben, zur Auseinandersetzung, zum Kraftakt der
partnerschaftlichen Beziehung. Erziehen ist wahrhaftig kein
Kinderspiel. Aber es ist eine ungeheure Bereicherung im Leben. Und
bei aller Belastung und bei allen Fragen muss auch deutlich werden:
Mit Kindern leben, Jugendlichen beim Erwachsenwerden zur Seite zu
stehen, das ist einfach eine große und wunderbare
Glückserfahrung.
Dr. Margot Käßmann ist seit 1999
Bischöfin der Landeskirche Hannover, Autorin des Buches
"Erziehen als Herausforderung; Was können wir tun - was
können wir hoffen?", ist verheiratet und hat vier
Töchter.
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