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Jürgen Liminski
"Die Zukunft der Menschheit geht über die
Familie"
Stark im Geiste, schwach in der Tat - Familie
und Kirchen in Deutschland
Es gibt keine andere global ausgreifende Institution, keinen
anderen global player, der so eng sein Schicksal mit dem der
Familie verwoben sieht wie die katholische Kirche. "Die Familie ist
der Weg der Kirche", schreibt Johannes Paul II., und: "Die Zukunft
der Kirche geht über die Familie." Kein anderer Papst der
Geschichte hat so viel und so Grundlegendes über Familie,
Kirche und Gesellschaft geschrieben wie der ehemalige Professor
für Anthropologie Karol Wojtyla. In einem Grußwort an den
"Berliner Kongress Demographie und Wohlstand - Neuer Stellenwert
für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft" (ISBN
3-8100-3738-9), der vor zwei Jahren im Haus der deutschen
Wirtschaft unter der doppelten Schirmherrschaft der
Präsidenten Chirac und Rau abgehalten wurde, zieht er eine
kleine Bilanz des kirchlichen Denkens über Familie: "Eine
gesunde Familienkultur kann der Gesellschaft in entscheidender
Weise die notwendige geistig-moralische Kraft und innere Festigkeit
verleihen. Denn die soziale Dimension des Menschen findet ihren
ersten und ursprünglichen Ausdruck in den Eheleuten und in der
Familie: "Gott hat den Menschen nicht allein geschaffen: Von Anfang
an hat er ihn als Mann und Frau geschaffen" (Gen. 1,27); ihre
Verbindung schafft die erste Form personaler Gemeinschaft. Die
Erfahrung zeigt, dass Zivilisation und Festigkeit der Völker
vor allem durch die menschliche Qualität ihrer Familien
bestimmt werden. Die Kirche ist zutiefst davon überzeugt: Die
Zukunft der Menschheit geht über die Familie."
Es ist symptomatisch, dass auf diesem Kongress der Präfekt
des Päpstlichen Rates für die Familie, Kardinal Trujillo
zugegen war, aber der ebenfalls eingeladene deutsche
Familienbischof, Kardinal Sterzinsky, in dessen Stadt der Kongress
abgehalten wurde, nicht. Bis auf wenige Ausnahmen, hat man in der
Kirche in Deutschland die Dramatik und Dringlichkeit der Frage, so
wie man sie in der Weltkirche empfindet, noch nicht begriffen. In
einem Brief des Papstes an die deutschen Kardinäle vom 22.
Februar 2001 ermahnt und bittet Johannes Paul II. die
Kirchenführung in Deutschland, "klare Orientierungen" zu
geben. "Die Zukunft der Kirche und der Gesellschaft hängt
wesentlich von der Zukunft der Familie ab. Ihr Land hat auch in
dieser Frage eine wesentliche Mitverantwortung für viele
andere Staaten Europas und darüber hinaus."
Diese Orientierungen sind in mancherlei Dokumentationen
enthalten, zum Beispiel im Wort der deutschen Bischöfe zum
Familiensonntag oder auch in einem Aufruf der
rheinland-pfälzischen (Erz-)Diözesen "für eine
gerechte Förderung der Familie". Aber diese Appelle auf dem
öffentlichen Marktplatz haben einen Nachteil: Der Platz ist
weitgehend leer. Sie erreichen die Politik nicht oder diese geht
achselzuckend darüber hinweg. Zwar werden in diesen und
anderen Dokumenten zunehmend auch praktische Hinweise gegeben, etwa
zum Familiensonntag 2002 über die Nutzung der Medien in der
Familie. Und sie sind oft durchaus geeignet, das Bewusstsein
über manche Problemkreise zu fördern, etwa zur
Computersucht oder zu Regeln des Medienkonsums. Aber sie sind nur
unverbindliche Angebote auf dem Markt pluralistischer Lebensformen,
sie reichen nicht bis in die familiären Verästelungen der
Gesellschaft. Es sei denn, sie werden von Eltern bewusst gesucht
und angefragt.
Dem Ziel der gesellschaftlichen Tiefenwirkung dienen konkretere
Angebote. So gibt die Diözese Köln einen Wegweiser
heraus, der Fragen von Ehe und Partnerschaft, von Kindern und
Familie, von Krisensituationen mit Tipps und Adressen angibt. Eine
weitere Handreichung sendet "Impulse für die Pfarrgemeinde".
Solche Initiativen und Ideen leben vom Engagement einzelner
Personen, nicht von der Macht der Institution. Letztere hat die
Bürokratie auf ihrer Seite, die Person aber das Herz, was im
Bereich von Ehe und Familie entscheidend ist. Der Pulsschlag der
Bürokratie belebt nur schwach. Nötig wäre, was zum
Beispiel in Österreich praktiziert wird. Dort hat der
Familienbischof Klaus Küng (Feldkirch) eine Bewegung
"Hauskirche" gegründet, die über so genannte Hauskreise
Lebenshilfe leistet und die Menschen über persönliche
Begegnung in ihrer Lebenswirklichkeit erreicht.
Diese persönliche Begegnung findet zum Teil auch in
Deutschland statt, zum Beispiel im Netzwerk Leben. Aber auch hier
ist das persönliche Engagement entscheidend, in diesem Fall
entscheidend gut. Ähnliches lässt sich sagen von den
Initiativen in den so genannten geistlichen Familien, der
Schönstatt-Bewegung, den Focolari, den Gemeinschaften Totus
Tuus oder Emmanuel. Sie haben eigene Formen der Familien- und
Jugendpastoral entwickelt, in denen die persönliche Beratung
und Begegnung gepflegt wird. Das ist nicht bei allen der Fall,
manche halten Familienpastoral in Verkennung der Dramatik der
gesellschaftlichen Situation auch nicht für nötig.
Insofern man jedoch diese Begegnung in so genannten diözesanen
Beratungsstellen institutionalisiert, wird auch der
persönliche Bezug abgeschwächt. Solche Beratungsstellen
gibt es in allen Diözesen, auch in der evangelischen Kirche.
Offenbar geht es in Deutschland nicht anders. Verwunderlich ist
allerdings, dass trotz des wachsenden Bedarfs und trotz der
Dringlichkeit der familiären Problematik solche
Beratungsstellen auch dem Sparzwang geopfert werden, zum Beispiel
in der Diözese Mainz. Offensichtlich sieht man auch hier die
Dramatik der gesellschaftlichen Lage anders als in Rom oder in
anderen Diözesen. Dass der Bischof dieser Diözese
gleichzeitig der Vorsitzende der Bischofskonferenz ist, mag
erklären, warum die katholische Kirche in diesem Bereich
anders als die Weltkirche ähnlich zaghaft und kleinlaut ist
wie die Politik.
Initiativen der Protestanten
Wollte man die Familienposition der Kirche in Deutschland
resümieren, könnte man sagen: Stark im Geiste, schwach in
der Tat. Natürlich gibt es hervorragende Initiativen, wie die
Gründung des Zentralinstituts für Ehe und Familie in der
Gesellschaft, das der Katholischen Universität Eichstätt
angegliedert ist und die gesamte Palette von Problemen und Fragen
akademisch behandelt. Und auch in der Evangelischen Kirche finden
sich großartige Initiativen mit viel
Einfühlungsvermögen in die Problemwelt von Ehe und
Familie. Besonders hervorzuheben sind hier die Initiativen der
Evangelischen Allianz, die auch der Politik ganz konkrete
Vorschläge unterbreitet, zum Beispiel über ein
Familienwahlrecht. In einer (katholischen) Diözese ist es
bereits umgesetzt. In Fulda haben die Eltern bei der
Pfarrgemeinderatswahl ein Stimmrecht für ihre Kinder,
übrigens seit 1986 auch in der Diözese Wien. Auch die
Diözese Köln trägt sich mit diesem Gedanken.
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Katholiken und
Protestanten, auch wenn sich die Vorsitzenden der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD) und der katholischen Bischofskonferenz
bemühen, diese Unterschiede möglichst im Hintergrund zu
halten. Aber allein mit der Definition von Familie, wie sie im
Punkt 2020 des Katechismus der Katholischen Kirche verbindlich
aufgeführt ist ("Ein Mann und eine Frau, die miteinander
verheiratet sind, bilden mit ihren Kindern eine Familie. Diese
Gemeinschaft geht jeder Anerkennung durch die öffentliche
Autorität voraus; sie ist ihr vorgegeben. Man muss sie als die
normale Beziehungsgrundlage betrachten, von der aus die
verschiedenen Verwandtschaftsformen zu würdigen sind. Indem
Gott Mann und Frau erschuf, hat er die menschliche Familie
gegründet und ihr die Grundverfassung gegeben. Ihre Glieder
sind Personen gleicher Würde."), können sich manche
Protestanten nicht anfreunden. Diese Definition schließt die
so genannte Homo-Ehe aus. Deshalb wird auch besonders das Ehe- und
Familienbild der katholischen Kirche in den Medien angefeindet.
Im Wort "Beziehungsgrundlage" klingt übrigens entfernt an,
was der große Soziologe Helmut Schelsky schon in den
60er-Jahren den Funktionsverlust der Familie nennt, weil die
Familie sich heute nur noch auf die Funktionen der Zeugung des
Nachwuchses, seiner Sozialisation und auf die Pflege der
innerfamiliären Intim- und Gefühlsbeziehungen
beschränke. Sie sei keine Wirtschaftseinheit mehr. Darin
könne man eine Entlastung der partnerschaftlichen Ehe sehen,
aber auch eine Gefährdung der Stabilität der Familie als
Institution. Es geht in der Tat um die Hauptfunktion, die Pflege
der Gefühlsbeziehungen, um die emotionale Stabilität.
Diese jedoch hat, wie die Bindungs- und die Hirnforschung seit
einigen Jahren immer klarer belegen können, eine entscheidende
Bedeutung für die Bildung des Humanvermögens, also das
Lernen-Können, das Miteinander-Umgehen-Können, das
Erwerben sozialer Kompetenz, die Steuerung der emotionalen
Intelligenz, Ausdauer, Frustverarbeitung und so weiter. Man
könnte es auch Menschlichkeit im vollen Sinne nennen.
Der strategische Vorteil der katholischen Kirche ist ihr
globales Netzwerk. In vielen Ländern und Weltregionen werden
die Bitten und Mahnungen aus Rom umgesetzt. Vor drei Jahren wurde
die Afrikanische Föderation für die Familie (FAAF) mit
Filialen in mehr als einem Dutzend Ländern des Kontinents
gegründet. Ihr Motor sind Missionare und vor allem Frauen wie
die Kinderärztin Therese Niyrabukeye, die früher das
Familieninstitut Johannes Paul II. in Ruanda leitete. Kongresse,
Studienprogramme und praktische Seminare für Mütter sind
nur ein Teil der Tätigkeit. Eheberatung, Jugendarbeit und
Ausbildung von Seminaristen in Familienfragen sind ein anderer. In
den Programmen der Familienpastoral von Schwester Catherine in
Indien heißt ein Punkt: "Angesichts der Globalisierung - wie
wir stabile Ehen und Familien bekommen und die Solidarität in
der Gesellschaft erhalten." Ähnliches gilt für die
Familienpastoral und Ehevorbereitungsseminare in Peru, Chile, Kuba
oder auf den Philippinen. Auch in Brasilien und in Osteuropa steht
die Kirche für eine Kultur des Lebens und für die
"Zivilisation der Liebe" (Paul VI.) Diese Zivilisation erfordert
auch Taten. In Brasilien verteilt eine vom Ortsbischof
unterstützte Vereinigung für Erziehung, Hoffnung und
Leben Informationsmaterial in Schulen, Apotheken und Arztpraxen. In
Mexiko arbeitet eine Diözese mit plakativen Slogans wie
"Mahlzeiten in der Familie sind das Salz des Lebens".
Von solcher Lebensnähe und unkomplizierter Lebensfreude
können die Kirchen in Deutschland vielleicht noch einiges
lernen. Aufmunternd wäre schon, wenn sie ihre Arbeit mal
quantifizieren ließen, so wie die Zürcher Kirchen das
jetzt getan haben. Heraus käme nämlich in jedem Fall,
dass die Familie in Deutschland ohne die von Kirchen organisierten
Events, Dienste und ehrenamtliche Arbeit ein Patient ohne Hoffnung
wäre. Denn die Wirtschaftswelt ist über die
Globalisierung zwar begeistert, die Kirchen aber warnen zu Recht:
Die Globalisierung schwächt die Familie, weil die Werte des
Menschlichen und der Familie durch das Kosten-Nutzen-Denken
verdrängt werden. Eltern sind, wie Johannes Paul II. in seinem
Brief an die Familien schreibt, "Lehrer in Menschlichkeit",
Erziehung selbst sei "Beschenkung mit Menschlichkeit". Das ist der
Einsatz. Ohne diese Menschlichkeit haben die Kirchen in der Tat
keine Zukunft. Jürgen Liminski
Jürgen Liminski ist Redakteur beim Deutschlandfunk in
Köln.
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