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Ulrike Gropp
Vom Ende der Gesundheit
Die heranwachsende Generation
"In meiner Klasse haben eigentlich fast alle
irgend eine Allergie", sagt der neunjährige Leipziger
Schüler Paul. "Das ist doch ganz normal, ich kenne kaum
jemand, der nicht gegen irgendwas allergisch ist." Der
Drittklässler selbst leidet an Asthma Bronchiale und muss nach
eigenem Bekunden "ziemlich oft zum Arzt". Beim Sport darf er nur
die wenig anstrengen den Übungen mitmachen, "weil ich sonst
schrecklichen Husten und keine Luft mehr kriege". Paul empfindet
sich deshalb als ein Kind, das "nicht richtig krank, aber auch
nicht richtig gesund" ist - eine Erfahrung, die er und seine Eltern
mit einer wachsenden Zahl von Familien teilen.
Neben den ganz "normalen" Kinderkrankheiten
haben Allergien, Neurodermitis und Übergewicht bis hin zur
Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen inzwischen eine
Verbreitung erreicht, die sogar die bislang für dieses Thema
wenig sensible Öffentlichkeit schockiert. Sind Arztbesuche,
Medikamenteneinnahme und Therapien inzwischen die Normalität
bei Familien mit Kindern, oder wird da etwa wieder nur einmal
gewaltig übertrieben?
Unabhängig von der Antwort auf diese
Frage steht das Thema im Raum: Welche gesundheitspolitische Zukunft
haben Kinder und Jugendliche zu erwarten, wenn sie in einigen
Jahrzehnten in großer Zahl auf ein marodes oder unbezahlbares
Gesundheitssystem
angewiesen sein werden, das dann bereits mit
der Behandlung der Alterskranken überlastet sein wird? Was
geschieht, wenn aus kranken Kindern lebenslang Kranke
werden?
Bei Experten gilt es als ausgemacht, dass
eine fragile
Gesundheit in früher Kindheit die
Nachfrage nach ärztlicher Hilfe und die häufige
Inanspruchnahme des medizinischen Systems quasi einübt. Und
dass die Medizin aus kränkelnden Kindern so lange
"verlässliche Patienten" machen wird, wie Ärzte am
Kranksein und nicht an der individuellen,
größtmöglichen Gesundheit ihrer Patienten verdienen.
In diese Richtung gehen Überlegungen wie die des Hamburger
Psychiaters und Sozialmediziners Klaus Dörner, der in seinem
2003 erschienenen Buch "Die Gesundheitsfalle" unserem Medizinsystem
ein katastrophales Zeugnis ausstellt. Und zu nicht weniger als
einem Paradigmenwechsel aufruft: "Wir müssen bereit sein,
Gesundheit nicht mehr als unseren einzigen Lebenszweck zu
begreifen."
Ganz so weit ist man in der Politik noch
nicht. Doch als die deutsche Verbraucherministerin Renate
Künast (Bündnis 90/Die Grünen) kürzlich die
Folgekosten ernährungsbedingter Krankheiten auf 71 Milliarden
Euro jährlich bezifferte, und zeitgleich der Fall eines
Fünfjährigen bekannt wurde, der an Altersdiabetes leidet,
ging ein Rauschen durch den Blätterwald. Die
Lebensmittelindustrie sah sich anscheinend in Erklärungsnot
angesichts des eigentlich seit längerem nachgewiesenen
Zusammenhangs zwischen Ernährungsgewohnheiten und der Zahl von
acht Prozent fettleibigen Kindern (hinzu kommen noch die "einfach
übergewichtigen").
Flugs signalisierte sie der Ministerin
Kooperationsbereitschaft. Vielleicht auch deshalb, weil
Wissenschaftler den jetzt Heranwachsenden erstmals eine geringere
Lebenserwartung als ihren Eltern voraussagen und das
frühzeitige Ableben einer Konsumentengeneration zu
befürchten steht. Vom Imageverlust ganz zu schweigen, der sich
für die Branche ergibt, wenn das allgegenwärtige
öffentliche Essen und Trinken immer häufiger sichtbar
macht, dass zwischen den 1,5 Literflaschen mit Softdrinks in der
Schultasche und dem kindlichem Übergewicht des Konsumenten
eben vielleicht doch ein Zusammenhang besteht. Auch wenn Mattias
Horst vom "Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde"
das Gesprächssignal an die Ministerin mit dem Hinweis
abschwächte, dass die Branche "jede Verantwortung"
zurückweise, schließlich gebe es "keine gesunden und
keine ungesunden Produkte, nur auf die Dosierung" käme es
an.
Angesichts dieser Meinungslage sieht es
(noch) nach einem aussichtslosen Kampf um die Gesundheit der
Heranwachsenden aus, befürchtet die Grundschullehrerin Annette
Flaig. "Was vermögen wir in der Schule mit unseren Versuchen
zur Gesundheitserziehung, wenn Gesellschaft und Eltern etwas
anderes vorleben", fragt die Pädagogin, "das Vorbild der
Familie wirkt stärker als alles, was wir machen können".
Sowohl in ihrer Schule in der Nähe von Stuttgart als auch in
ihrer Rolle als Mutter von drei Kindern hat die Pädagogin
reichlich Erfahrung mit dem Thema gesammelt. "Das Problem sind die
Erwachsenen, nicht die Kinder", sagt Annette Flaig. Sie hat
beobachtet, dass den Versicherungen der Werbung in
Ernährungsfragen noch immer blind geglaubt wird, hohe Zucker
und Fettanteile werden geleugnet. Es seien teilweise dieselben
Mütter und Eltern, die sich im Fitnessstudio und mit
Diäten zur Traumfigur quälen wollen, die eigene
Ernährung nicht im Griff haben - und sich dann später
wundern, wenn ihre Kinder Essstörungen entwickeln.
Naturgemäß machen sich Kinder
über die ganz normale Doppelzüngigkeit der Erwachsenen
und über ihre zukünftige gesellschaftliche Rolle als
Kranke oder Gesunde noch keine Gedanken - glücklicherweise,
muss man hinzu fügen. Bedenklicher ist schon, dass auch
Politiker, Sozialversicherer und Lobbyisten bislang nicht wissen,
wohin die Reise gehen soll. Umfassende und verlässliche
Analysen, Fakten und Daten fehlten bislang, die Gesundheit der
heranwachsenden Generationen war nur im Zusammenhang mit sozial
abweichendem oder Suchtverhalten ein Thema.
Das könnte sich im Sommer 2006
ändern, wenn der im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation
WHO erstellte "Kinder- und Jugendgesundheitssurvey" für
Deutschland veröffentlicht werden wird. Im vergangenen Jahr
haben die Untersuchungen an und mit 23.000 Kindern und Jugendlichen
(und ihren Eltern) begonnen. Die Studie soll erstmals in der
Geschichte der Bundesrepublik epidemologisch verlässliche
Basisdaten über die Gesundheit der nachwachsenden Generation
bereitstellen. Körper, Seele, Sozialkontakte und Familie, das
Lebensgefühl - alles findet Beachtung; sogar das Wohnumfeld
mancher Probanden wird auf schädliche Substanzen hin
untersucht. Erstaunlich angesichts der aufkommenden Datenflut ist
nur eines: Während kaum eine Jugendstudie oder Marktanalyse
heute ohne die Frage auskommt, für wie sicher die Jugendlichen
ihre Rente halten, sparen die Gesundheitsforscher die prekäre
Frage nach den Erwartungen an die eigene gesundheitliche und
gesundheitspolitische Zukunft aus.
Erste Teilergebnisse liegen bereits vor, und
zwar über die gesundheitliche Situation von Schülern in
Berlin. Sie sind alles andere als beruhigend: bereits elf Prozent
der Zehn- bis 17-Jährigen sind in ihrer Gesundheit dauerhaft
beeinträchtigt, weil sie an chronischen Krankheiten oder einer
Behinderung leiden. Bei jedem fünften Schüler sind
kinder- und jugendpsychiatrisch relevante Auffälligkeiten zu
diagnostizieren, ebenso groß ist die Anteil derer, die unter
wiederholten psychosomatischen Beschwerden leiden. Interessant ist,
dass die subjektive Gesundheitswahrnehmung und die objektiven
medizinischen Daten nicht übereinstimmen und dass sich
Jugendliche mit zunehmendem Alter weniger gesund
fühlen.
"Die mittel- beziehungsweise langfristigen
gesundheitlichen Lebensperspektiven der jungen Generation sind
unerfreulich", sagt Gunhild Kilian-Kornell, die Sprecherin des
Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V., die in ihrer
Praxis am Starnberger See die gesundheitlichen Folgen der
zunehmenden "Luxusverwahrlosung und der Vernachlässigung aus
Armut" registriert. "Gelenkerkrankungen, Schlaganfall oder auch
Herzinfarkt waren früher was für ältere Leute. Heute
trifft es schon die Jungen", sagt die Ärztin. Als ein
"kollektives Paradox" bezeichnet sie angesichts der Konsumtrends
der Gegenwart die Anti-Aging-Mode: "Alle Entscheidungsträger
und Meinungsmacher um die 50, die jetzt gerne "gesund älter
werden" wollen, haben noch nicht begriffen, dass das gesunde
Älterwerden viel früher ansetzt: nämlich
allerspätestens im Kindergarten". Kein Wunder, dass die
Medizinerin die Kinder- und Jugendheilkunde gelegentlich auch mal
als "präventive Geriatrie" bezeichnet.
Angesichts der bevorstehenden Ergebnisse des
Surveys herrsche unter Kinderärzten, so Kilian-Kornell, "eine
verhaltene Hoffnung", dass der Bericht statistisch und deskriptiv
genug hergeben wird, "um die Meinungslage in der
Öffentlichkeit zu verändern und die bisher geleugnete
Kausalität von Ernährung, Lebensstil und kindlicher
Morbidität zu beenden."
Dann wird man vermutlich auch den
Erkenntnissen der Hamburger Medizinerin Dörten Wolff endlich
mehr Aufmerksamkeit schenken. Seit vielen Jahren führt die
Allgemeinärztin einen Kampf für einen therapeutischen
Umgang mit Lebensmitteln, forscht über den Zusammenhang von
Essen und Krankheit und fühlt sich bislang "von denen, die
eigentlich dazu berufen sind, Erkenntnisse an die
Öffentlichkeit zu tragen, ziemlich im Stich gelassen -
beispielsweise auch von der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung". Auch die popularisierten Erkenntnisse der
Genforschung suggerierten den Menschen, sie hätten ihr
gesundheitliches Schicksal sowieso nicht in der Hand.
"Natürlich werden bestimmte Krankheiten oder Leiden auch
genetisch vererbt", sagt Wolff, "aber es sind bei weitem nicht so
viele, wie wir manchmal denken. Das meiste futtern und sitzen wir
uns an. Und diesen Lebensstil vererben wir unseren Kindern, nicht
nur unsere Gene."
Die Medizinerin weiß, wovon sie spricht.
Von vielen Patientenfamilien kennt sie inzwischen drei
Generationen. Da lassen sich bestimmte Dispositionen (respektloses
Wort in Medizinerkreisen: "Dicke Eltern, dickes Kind, dicker Hund")
gut beobachten. Essstörungen sind nach Auskunft der
Medizinerin längst keine Ausnahme mehr. War Magersucht bis vor
einiger Zeit eine Krankheit bei jungen Frauen und Teenagern, "so
kommen heute schon Elf- oder Zwölfjährige damit hier an,
und zwar sowohl Mädchen als auch Jungen". Viele Kinder lernen
nach Wolffs Ansicht "kein normales Essverhalten mehr, die zehn
magersten Topmodels der Welt und die diametral entgegengesetzten
Versprechungen der Lebensmittelindustrie vom Genuss ohne Ende
terrorisieren nicht mehr nur die Mütter, sondern auch die
Kinder." Dörten Wolffs Therapieansatz: Aufklärung,
Information, Beispiele: "Wenn die Leute erst einmal anfangen,
darüber nachzudenken, ob das, was heute als moderne
Ernährung zählt, wirklich gesund sein kann, dann habe ich
- und mit mir meine Patienten - schon fast gewonnen".
Ulrike Gropp ist freie Journalistin in
Leipzig.
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