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Tina Heidborn
Familiäre Eigeninitiative steigert den
Schulerfolg
Bildungsdefizite behindern die
Integration
Abiturientenfeier im Roten Rathaus in Berlin: Aufgeregte Eltern
drängen sich zwischen Jugendlichen, die betont cool wirken
wollen. Locken glänzen, Röcke werden gezupft, man hat
sich fein gemacht. Der Berliner Bildungssenator Klaus Böger
und der Türkische Bund Berlin haben an diesem Nachmittag zur
ersten Feier speziell für türkische Abiturienten
eingeladen. "Ein nett gemeintes Zeichen. Aber schöner
wäre es, zusammen mit den deutschen Abiturienten zu feiern",
sagt die 19-jährige Nurdan, die mit ihrer Freundin
Nilüfer das Treiben abwartend beobachtet.
Der Prozentsatz der türkischen Gymnasiasten liegt in Berlin
bei 9,4 Prozent, weit unter den 30 Prozent der deutschen
Schüler. Unter den 12.258 erfolgreichen Abiturienten in Berlin
sind sogar nur 165 Türken, weniger als 1,5 Prozent. Kinder aus
Migrantenfamilien haben im hiesigen dreigliedrigen Schulsystem
besonders schlechte Chancen, das hat auch die PISA-Studie gezeigt.
Nurdan und Nilüfer gehören zu denen, die es geschafft
haben. "Ich habe Lehrer gefragt oder Freunde, wenn es nötig
war", sagt Nilüfer. Ihre Eltern, die als Jugendliche nach
Deutschland gekommen sind, haben selbst keine Ausbildung - und
keine Ahnung vom deutschen Schulsystem. "Ich nehme ihnen das nicht
übel. Niemand hat sie aufgeklärt", setzt Nilüfer
nach.
Die Diskussion um die "optimale Beschulung ausländischer
Schüler", sagt der Werklehrer Ahmet Öztürk, kenne er
schon seit Jahrzehnten. Öztürk arbeitet seit 25 Jahren
als Grundschullehrer in Berlin, und er kann eine lange Liste von
Sonderprojekten aufzählen, bei denen er mitgearbeitet hat: Mal
ging es um verstärkte Elternarbeit, mal um Deutsch als
Fremdsprache. "Zweisprachige Alphabetisierung, das war eine feine
Sache", erinnert er sich. 15 Berliner Schulen hätten das
angeboten, als es gerade Trend in der Bildungspolitik war, heute
seien es nur noch fünf. "Zweisprachigkeit gehört einfach
dazu", sagt Öztürk, wenn man ihn nach Hilfen für
nichtdeutsche Schüler fragt. "Sonst wissen die Kinder mit
anderer Muttersprache nicht, was das deutsche Wort ‚Abfall'
bedeutet, müssen es aber schreiben können".
Die Defizite sind allgemein bekannt: Mit dem
"Bärenstark-Test" untersuchte der Berliner Senat die
Deutschkenntnisse von rund 26.700 Kindern vor ihrer Einschulung im
August 2003. Bei den deutschen Kindern beherrschte nach dieser
Studie knapp jedes Dritte die Sprache nicht ausreichend, bei den
ausländischen Kindern waren es 80 Prozent. In den
türkisch dominierten Vierteln von Neukölln oder Kreuzberg
braucht man kein Deutsch. "Viele Eltern wissen, dass das schlecht
für ihre Kinder ist, aber ihre Kräfte reichen nicht, um
rauszukommen. Sie haben keine Arbeit, sie können sich keine
teurere Wohnung woanders leisten", sagt Öztürk. Vor der
Schule gilt der Besuch einer Kita (Kindertagesstätte) als
entscheidend für die Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kinder:
In Berlin gehen immerhin mehr als 90 Prozent der türkischen
Kinder in eine Kita, ergab eine Studie der Gesundheitssenatorin im
Frühjahr 2003. Doch da die türkischen Kinder in vielen
Einrichtungen unter sich bleiben, sind ihre Spracherfolge oft
schlechter, als man erwarten könnte.
Kinder, die in der Grundschule erst einmal Deutsch lernen
müssen, haben aber eindeutig schlechtere Start-Chancen: 60
Prozent der nichtdeutschen Zweitklässler sind schwach im
Lesen, bei den deutschen Kindern sind es lediglich 25 Prozent,
ergab ein Berliner Lesetest, an dem im Frühjahr 2004 fast
25.000 Zweitklässler teilnahmen. Hinzukommt, dass der
Vormittag in der Schule oft nicht ausreicht, wenn sonst nur
Türkisch gesprochen wird. Eine deutlich verbesserte
Sprachförderung in Kindergärten und Schulen gehört
deshalb zu den Standardforderungen in der Bildungsdiskussion.
Ahmet Öztürk unterrichtet heute an der
Aziz-Nesin-Schule in Kreuzberg, einer so genannten Europa-Schule
mit interkulturellem Ansatz. Hier läuft der Unterricht auf
Deutsch und Türkisch, muslimische und christliche Feste sind
gleich wichtig. Das Prinzip der Europa-Schule besagt, dass die
Hälfte der Kinder Deutsch als "Hauptsprache" sprechen soll,
die andere Türkisch. "Wir haben aber keine 50 Prozent Kinder
aus deutschen Familien," sagt Christel Kottmann-Mentz, die
Rektorin. Denn Deutsch als Hauptsprache kann bedeuten, dass beide
Eltern türkischer Herkunft sind, zu Hause aber Deutsch
sprechen. 40 Jahre nach der Anwerbung der ersten Gastarbeiter hat
sich in Deutschland längst eine türkische Mittel- und
Akademikerschicht entwickelt, die Deutsch mindestens so gut wie
Türkisch beherrscht. "Auch diese türkischen Eltern
möchten gerne möglichst viele deutsche Eltern an der
Schule. Sie fühlen sich dadurch aufgewertet", sagt
Kottmann-Mentz. Andere Grundschulen in typischen Migrantenbezirken
wie Kreuzberg und Neukölln klagen darüber, dass
bildungsbewusste Familien wegziehen, wenn ihre Kinder ins
schulpflichtige Alter kommen.
Muttersprache gut beherrschen
Schüler aus so genannten "bildungsfernen" Familien werden
beim Lernen oft nicht unterstützt - egal, ob die Eltern
Türken sind oder Deutsche. "Es reicht einfach nicht, wenn
Eltern sagen: Lies ein Buch!, selbst aber nie ein Buch zur Hand
nehmen", sagt die türkischstämmige Lehrerin Selma
Rohrwasser von der Nesin-Schule, "Kinder brauchen Vorbilder".
Wenn türkische Kinder ihre Muttersprache beim Schuleintritt
gut beherrschen, dann lernen sie auch parallel gut Deutsch hinzu,
ist die Erfahrung ihres Kollegen Ahmet Öztürk. "Aber
viele Kinder sind auch in ihrer Muttersprache nicht auf der
Höhe. Sie sprechen zu Hause nur einfaches
Umgangstürkisch". Dabei sei die Bildung ihrer Kinder für
die allermeisten Migranten ganz wichtig: "Fast alle wollen ihre
Kinder aufs Gymnasium schicken. Sie denken nach dem Muster: Unseren
Kindern soll es einmal besser gehen als uns." Doch der Anteil der
Türken unter den Gymnasiasten in Berlin ist in den vergangenen
zehn Jahren lediglich um 0,6 Prozent gestiegen. In den Statistiken
tauchen allerdings jene Türken, die inzwischen die deutsche
Staatsangehörigkeit angenommen haben, nicht mehr auf. Wie
viele der 12.258 deutschen Abiturienten türkischer Abstammung
sind, ist deshalb nicht ermittelbar.
"Integration durch Bildung", heißt das Förderprogramm,
das der Berliner Schulsenator Böger auf der Feier für
türkische Abiturienten ankündigt. Im nächsten
Schuljahr will er speziell 15 Lehrer mit Migrationshintergrund
einstellen. "Mehr türkischstämmige Lehrer wären gut,
um zu zeigen, dass auch Türken in Deutschland angesehene
Berufe haben", findet der Abiturient Cihan, der selbst in seiner
Schullaufbahn nur deutschen Lehrer begegnet ist. "Wenn wir einen
neuen Lehrer bekamen, hatte ich im ersten Halbjahr immer eine
schlechtere Note als im zweiten", sagt der Einser-Abiturient. Er
führt dies auch auf Vorurteile zurück: Die Lehrer mussten
erst merken, wie gut er wirklich war.
Ähnliche Erfahrungen hat der kurdische Abiturient Roj
Al-Yousef gemacht. "Manche Lehrer haben gedacht: Der Junge ist
Ausländer, der hat keine Ahnung. Dann haben sie mir Worte
erklärt. So klischeehaft", sagt er und grinst. Er darf auf der
Feier eine Rede halten. "Diese Veranstaltung setzt ein Zeichen,"
sagt Roj Al-Yousef. Eine gute Ausbildung sei für seine
Generation nicht mehr so unerschlossen wie noch am Anfang für
die ersten Gastarbeiter. "Mein Abi kann mir keiner mehr nehmen,"
sagt er, sein Stolz ist hörbar. "Wir ziehen die voll durch,
die Integration!" Tina Heidborn
Tina Heidborn ist freie Journalistin in Berlin.
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