Sonja Menning
Entwickelt sich Europa zum Kontinent der
Kinderlosen?
Strukturwandel der Familie
Die Staaten Europas befinden sich mitten in
einem Prozess, der ihre Bevölkerungsstrukturen grundlegend
verändert. Die Bevölkerung altert durch die Zunahme der
Lebenserwartung und durch Geburtenzahlen, die über lange
Zeiträume hinweg unter dem Generationenersatzniveau lagen. Die
Alterung der Bevölkerung in den europäischen Ländern
hängt aber auch zusammen mit dem Wandel des familialen
Zusammenlebens.
Die Ehe hat die alleinige Dominanz als Basis
der Familie verloren. Die Zahl der Eheschließungen ist
rückläufig. Die Ehen sind instabiler geworden; das zeigen
steigende Scheidungsraten. Nichteheliche Lebensformen sind
zunehmend verbreitet. Die Familiengründung hat sich
verzögert, das heißt, Eheschließungen und die Geburt
von Kindern finden heute später im Leben statt als vor
Jahrzehnten. Das reproduktive Verhalten hat sich seit Mitte der
60er-Jahre substanziell verändert: Das bestandserhaltende
Niveau der Fertilität wurde in fast allen Ländern
unterschritten. Der Anteil kinderloser Frauen und Männer
steigt.
Diese Trends sind in allen europäischen
Staaten zu beobachten. Aber gleichzeitig sind
sozialökonomische Unterschiede, kulturelle Besonderheiten,
aber auch eine unterschiedliche Ausrichtung familienpolitischer
Bestrebungen Faktoren, die bewirken, dass der Wandel der Familie in
Europa nicht nach einem einheitlichen Muster geschieht und
unterschiedliche Tempi in den einzelnen Ländern aufweist. Die
drei hier aufgeführten europäischen Staaten sollen diese
Differenzierungen verdeutlichen.
Junge italienische Frauen wünschen sich
im Durchschnitt immer noch mehr als zwei Kinder. Das zeigte eine
Studie zur Lebensqualität in Europa, die von der "European
Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions" in
diesem Jahr veröffentlicht wurde. Aber während die
Italienerinnen, die bereits älter als 55 Jahre sind, noch
durchschnittlich 2,6 Kinder als ideale Familiengröße
ansehen, ging dieser Wert bei den unter 35-jährigen
Italienerinnen auf nur noch 2,1 Kinder je Frau
zurück.
Selbst die Realisierung dieses Kinderwunsches
müssen die italienischen Frauen oftmals lange vor sich
herschieben. Bei der Geburt ihres ersten Kindes ist eine
Italienerin im Schnitt schon 28 Jahre alt. Das entspricht dem
europäischen Durchschnitt. Italien erlebte wie eine Reihe
anderer südeuropäischer Staaten seit der zweiten
Hälfte der 70er-Jahre einen Rückgang der
Geburtenhäufigkeit, der das Land zu einem der
geburtenärmsten Staaten Europas gemacht hat. In der Mitte der
90er-Jahre sank die Gesamtfruchtbarkeit Italiens auf unter 1,2
Kinder je Frau, ein europäisches Minimum. Seitdem ist die
Fertilität für Italien zwar wieder leicht angestiegen
(2001: 1,2 Kinder je Frau). Diese Werte gehören aber immer
noch zu den geringsten in Europa.
Warum ist es gerade ein Land wie Italien, das
so extrem niedrige Fertilitätswerte aufweist? Junge
italienische Frauen (und Männer) sehen sich in einem
Lebensabschnitt, der für die Gründung einer Familie ideal
wäre, zahlreichen Aufgaben gegenüber, die parallel zu
bewältigen sind: die Beendigung der Ausbildung, die Suche nach
Arbeit, der Einstieg in eine berufliche Karriere, die Etablierung
einer festen Partnerbeziehung und nicht zuletzt die Suche nach
einer Wohnung. Mit diesen Anforderungen werden junge Menschen
überall in Europa konfrontiert. Aber die Bedingungen, alle
diese Aufgaben unter einen Hut zu bringen, sind in Italien
besonders schwierig. Das betrifft einen schwer zugänglichen
Wohnungsmarkt, die Folgen einer hohen Arbeitslosigkeit und eine
nahezu fehlende Flankierung der Entscheidung zur Elternschaft durch
familienpolitische Maßnahmen.
Von den geringen Geburtenzahlen abgesehen
leben italienische Familien noch immer ziemlich traditionell.
Nichteheliche Lebensformen sind wenig verbreitet. Nur zwei Prozent
der Gesamtbevölkerung und nur elf Prozent der Jugendlichen
unter 30 Jahren lebten mit dem Partner oder der Partnerin
unverheiratet zusammen. Wenn man bedenkt, dass auch die
Eheschließungen auf einem niedrigen Niveau stagnieren,
führt das dazu, dass junge Menschen in Italien seltener in
eigenen Familien und Partnerschaften leben als in anderen
europäischen Ländern. Viele der jungen Erwachsenen leben
lange Zeit bei ihren Eltern - 1998 wohnten weit mehr als drei
Viertel der italienischen Männer zwischen 25 und 29 Jahren und
mehr als die Hälfte der gleichaltrigen italienischen Frauen
noch im Elternhaus.
Neue EU-Länder im Vergleich
Die meisten osteuropäischen Staaten
hatten noch bis zum Ende der 80er-Jahre ein Geburtenniveau, das
deutlich über dem europäischen Durchschnitt lag. Im Jahr
1990 war in den baltischen Staaten (darunter in Lettland), in Polen
und in der Slowakei ein Geburtenniveau knapp über zwei Kindern
je Frau zu beobachten. Nach dem Zerfall der politischen Systeme in
Osteuropa begann sich auch das Geburtenverhalten mit einer hohen
Dynamik zu verändern. Die Fertilität sank auf das
weltweit niedrigste Niveau. In Lettland wurden 2002 nur
durchschnittlich 1,2 Kinder je Frau geboren. Das ist ein Wert, der
noch unter dem Niveau eines solchen Niedrigfertilitätslandes
wie Deutschland liegt. Typisch für die osteuropäischen
Staaten und damit auch für Lettland war neben den hohen
Geburtenraten ein früher Zeitpunkt der Familiengründung.
Auch hier sind seit Beginn der 90er-Jahre Angleichungsprozesse an
westliche Muster zu beobachten. Das Alter bei der Geburt des ersten
Kindes in Lettland hat sich seit 1991 um zwei Jahre erhöht und
liegt jetzt bei 24,6 Jahren. Allerdings ist das im
europäischen Vergleich noch ein junges Alter. In Deutschland
bekommen Frauen im Durchschnitt erst mit mehr als 28 Jahren ihr
erstes Kind.
Die politischen und sozioökonomischen
Umbrüche in Lettland führten nicht nur zu Einbrüchen
bei den Geburtenzahlen. Auch die Zahl der Eheschließungen und
der Ehescheidungen sank deutlich auf etwa die Hälfte des
Niveaus von 1991. Das beförderte einen steigenden Anteil
nichtehelicher Geburten, der mit
42 Prozent im Jahr 2001 bereits fast das
Niveau solcher Länder wie Frankreich oder Dänemark
erreicht hat.
In ihren Wünschen sind sich die jungen
Lettinnen treu geblieben: Sie möchten im Durchschnitt noch
immer mehr als zwei Kinder und nur ein verschwindend geringer Teil
von ihnen (zwei Prozent) möchte überhaupt keine Kinder
haben. Die mittlerweile langanhaltende, extrem niedrige
Geburtenhäufigkeit spricht aber eher dafür, dass sich
zumindestens ein Teil dieser Kinderwünsche nicht erfüllen
wird.
Frankreich gehört zu den wenigen Staaten
in Europa, die dem allgemeinen europäischen Trend zu niedrigen
Geburtenzahlen nicht folgten. Französische Frauen bekamen im
vergangenen Jahr durchschnittlich fast zwei Kinder. Das ist ein
Spitzenwert innerhalb der EU. Eine weitere Besonderheit: Seit 1990,
in einem Zeitraum, in dem fast alle anderen europäischen
Länder rückläufige Geburtenraten verzeichneten, sind
die Geburtenziffern in Frankreich sogar noch gestiegen.
Kinderlosigkeit blieb eine Randerscheinung. Lediglich acht Prozent
der Frauen des Geburtsjahrgangs 1955 blieben kinderlos, das ist
etwa ein Drittel des Wertes der westdeutschen Frauen des gleichen
Jahrgangs.
Der Geburtenanstieg in Frankreich in den
vergangenen Jahren ist vor allem den Frauen über 30 zu
verdanken. Die Familiengründung in Frankreich findet heute
später statt als früher - das äußert sich in
einem veränderten Erstgebärendenalter. Französinnen
sind im Durchschnitt 28 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind
bekommen; 1980 lag dieses Alter noch bei 25 Jahren. Aber die
Lebensphase, in der Französinnen Kinder bekommen, hat sich
verlängert. Bekamen noch vor zehn Jahren Frauen unter 30
Jahren deutlich mehr Kinder als Frauen über 30, so ist heute
dieses Verhältnis fast ausgeglichen. Das ist auch ein Zeichen
dafür, dass die Bedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und
Familie für französische Frauen, die bereits mitten im
Berufsleben stehen, besonders günstig sind.
Eine Besonderheit Frankreichs ist die hohe
Frauenerwerbstätigkeit, die sich überwiegend in
Vollzeitbeschäftigung manifestiert. Für französische
Frauen gehört es zur Normalität, dass sie unabhängig
davon, ob sie eine Familie haben oder nicht, kontinuierlich
erwerbstätig bleiben. In diesen Vorstellungen werden sie
wirkungsvoll unterstützt. Frankreich verfolgt bereits seit
Jahrzehnten eine Familienpolitik, die geburtenfördernde
Zielstellungen verfolgt. Neben der finanziellen Entlastung von
Familien zielt sie bereits seit langem auf eine Förderung der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zum Beispiel durch den Ausbau
der Kinderbetreuung. Ein Eckpunkt der jüngsten Zeit ist dabei
die Kinderbetreuung der jüngsten Kinder. Die
familienpolitischen Leistungen werden zum Teil
einkommensabhängig gewährt, sodass Alleinerziehende und
Familien mit geringem Einkommen davon stärker profitieren als
einkommensstarke Familien. Im System der Kinderbetreuung werden
unterschiedliche Betreuungsarrangements gefördert, zum
Beispiel auch Tagesmütter, Kinderfrauen und Angebote privater
Einrichtungen zur Kleinkindbetreuung.
Entsprechend hoch ist auch der Kinderwunsch
der Französinnen. Junge Französinnen unter 35 Jahren
gaben ihre Idealvorstellung für die Familiengröße
mit fast 2,6 Kindern an. Deutsche Frauen möchten im
Durchschnitt nur 1,7 Kinder. Lediglich knapp vier Prozent der
französischen Frauen dieser Altersgruppe wünschen sich
kein Kind. In Deutschland ist dieser Wert mit 17 Prozent mehr als
viermal so groß.
Sonja Menning ist Volkswirtschaftlerin. Sie
arbeitet seit 1984 zu unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen
Themen mit den Schwerpunkten Demographie, Familie und
Lebenssituation älterer Menschen. Derzeit arbeitet sie
freiberuflich für das Deutsche Zentrum für
Altersfragen in Berlin.
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