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Margit Miosga
Sinkende Geburtenzahlen zwingen zum Handeln
Familienpolitik in den neuen
EU-Mitgliedstaaten
Bevor die zehn Neuen Mitglieder im EU-Klub
werden durften, wurden ihre Verwaltung, ihre Justiz und ihre
Wirtschaftspolitik genau beobachtet und beurteilt. Monitorberichte
protokollierten über Jahre die Entwicklung in Landwirtschaft
und Haushalt, im Warenverkehr und beim Kampf gegen Korruption. Die
Berichte hielten Mängel und Erfolge fest, erwähnten
Maßnahmen gegen Kartoffelfäule oder für
Wasserqualität. Das Wort "Familienpolitik" ist in den
beobachtenden Länderreports nicht zu finden. Thematisch am
nächsten kommt ein sich wiederholender Passus: "Die
beigetretenen Länder sind mit der Politik in den Bereichen
Gleichbehandlung von Männern und Frauen, sozialem Dialog,
Beschäftigung, sozialer Eingliederung und Sozialschutz
vertraut." Ende.
Familienpolitik ist keine
Gemeinschaftsaufgabe - so trocken lässt sich die Tatsache
beschreiben, dass jedes Land in Europa nach eigenem Gusto
verfährt. Nach dem Prinzip der Subsidiarität wird in den
europäischen Verträgen die Familie nicht als Gegenstand
gemeinsamer Zielsetzung genannt. Aus dem Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin ist zu hören,
dass niemand ein "europäisches Kindergeld" wolle, aber man
sollte doch in Sachen Familienpolitik mit den Neuen näher
zusammenrücken. Deshalb lädt das Ministerium Anfang
Dezember zu einer großen Konferenz ein, bei der sich die
Familienministerinnen und -minister aus allen 25 Ländern
austauschen sollen. Titel: "Zukunft Familie - Gemeinsamer
familienpolitischer Aufbruch in der EU."
Das Europäische Parlament unternahm in
der Vergangenheit, vor allem in der ersten Hälfte
der
90er-Jahre, immer wieder Vorstöße
zu mehr Gemeinsamkeit, aber die Kommission wehrte sie als
Kompetenzüberschreitungen ab. Von engagierten
europäischen Familienpolitikern und -politikerinnen wird laut
über einen Begriff wie "Family Mainstreaming" analog zum
"Gender Mainstreaming" nachgedacht, ein Echo ist kaum hörbar.
In der Praxis ist das Thema Familienpolitik eher auf dem
Rückzug, denn beispielsweise muss das "Österreichische
Institut für Familienforschung" seine EU-Observatory, seine
regelmäßigen Berichte über die soziale Situation,
Demographie und Familie zum Jahresende einstellen, die neuen
Mitglieder konnten gar nicht mehr erfasst werden.
Auch wenn das Europa der 25 keine
einheitliche Familienpolitik betreiben darf, gibt es
unterschiedliche "Einflugschneisen" für familienrelevante
gesamteuropäische Regelungen, denn die Mussnormen auf den
Gebieten der Chancengleichheit, des Arbeitsrechts und der
Arbeitsbedingungen, des Sozialschutzes, der Migration und
Freizügigkeit betreffen natürlich in der Praxis Familien.
Im Sommer 2000 verabschiedete der Rat der Minister für
Beschäftigung und Sozialpolitik eine Entschließung, die
eine ausgewogene Teilhabe von Frauen und Männern am Berufs-
und Familienleben formulierte und setzte damit ein wichtiges Ziel
moderner Familienpolitik auf die Tagesordnung. Einige Jahre
früher beschloss die Gemeinschaft eine Rahmenvereinbarung
über Elternurlaub, die 1996 in eine Gemeinschaftsrichtlinie
mit Mindestnormen umgewandelt wurde. Die Ausgestaltung blieb bei
jedem einzelnen Staat. Eine Politik zur praktischen und effektiven
Förderung der Chancengleichheit ist für jedes Land
verpflichtend, bereits seit 1994 ist der Grundsatz über
gleiche Bezahlung für Frauen und Männer für
gleichwertige Arbeit bindend.
Konkrete Familienpolitik ist das alles nicht,
aber mit diesen Instrumenten lassen sich Regelungen finden, die
für Frauen eine Verbindung von Berufstätigkeit und
Familie möglich machen. Die alten Strukturen der
staatsregulierten Kinderversorgung und Familienförderung sind
in acht der zehn neuen Länder kurz nach dem Ende des
Sozialismus zusammengebrochen. Der rigide Einmarsch des
Kosten-Nutzen-Rechnens führte sozial in eine Sackgasse - die
Verweigerung der Frauen Kinder zu bekommen, ist ein deutliches
Indiz - sodass die Staaten nun mithilfe einiger europäischer
Instrumente, der Besinnung auf eigene und noch brauchbare
Traditionen und der Bereitschaft, Geld in Familien zu investieren,
moderne Familienpolitik betreiben können.
Alle 25 Länder der europäischen
Gemeinschaft registrieren einen Mangel an Kindern. In der alten
Gemeinschaft sank die durchschnittliche Fertilitätsrate bis
Mitte der 90er-Jahre auf 1,42 und hat sich seitdem bei der nicht
hoffnungsvollen Zahl von 1,45 eingependelt. Den gravierendsten
Rückgang haben die Mittelmeerländer wie Spanien und
Italien zu verzeichnen. Dort genießen immer mehr Frauen die
Freiheit, Mann, Kindern und Schwiegermutter zumindest bis zum 30.
Lebensjahr zu entkommen. Generell ist das zunehmende Heiratsalter
in Europa einer der Gründe, warum es wenig Kinder gibt. In
Deutschland gebären verheiratete Frauen durchschnittlich mit
32 Jahren ihr erstes Kind, unverheiratete - und da drücken die
Teenager die Zahlen nach unten - mit 27.
Schlusslicht Tschechien
Die neuen EU-Länder liegen mit ihren
Fertilitätsraten sogar noch unter denen des "alten Europas".
Das Schlusslicht bildet die Tschechische Republik mit einer
Fertilitätsrate von 1,17, gefolgt von seiner ehemaligen
anderen Hälfte Slowakei mit 1,19, alle anderen dümpeln
zwischen 1,24 und 1,30 dahin. Die Zahlen in den neuen
Mitgliedsländern der EU zwingen die Politik zum Handeln. Es
ist bemerkenswert, dass kurz vor dem Beitritt am 1. Mai in den
meistens Ländern dementsprechende Ministerien etabliert und
Programme zur Familienpolitik aufgelegt wurden.
Aufschlussreich ist auch, wie die Länder
ihre Ministerien nennen. In Estland wird Familienpolitik im
"Sotsiaalministeerium", im Sozialministerium gemacht.
Familienpolitik erhielt am 1. Januar 2004 mit dem "Parental Benefit
Act" eine ausgefeilte juristische Form. Natürlich ist auch
hier die drastisch sinkende Geburtenrate die Mutter des Gesetzes.
Es enthält fünf Säulen zur Unterstützung von
Familien: finanzielle Hilfen in Zeiten der Schwangerschaft,
elterliche und generelle Vergünstigungen für Familien,
Steuernachlässe und mehr bezahlten Urlaub für
berufstätige Eltern.
Insgesamt 140 Tage lang vor und nach der
Geburt erhalten berufstätige Frauen ihr volles Gehalt, es wird
aus dem Estnischen Fonds der Gesundheitsversicherer bezahlt. Das
Elterngeld beträgt 141 Euro monatlich, wird aber nicht
länger als ein Jahr ausgezahlt. Jede stillende,
berufstätige Mutter darf, bis ihr Kind eineinhalb Jahre alt
ist, alle drei Stunden eine 30-minütige Stillpause einlegen.
Bei der Geburt des Kindes erhalten die Eltern eine Prämie von
240 Euro, für das zweite und jedes folgende Kind bekommen sie
192 Euro. Das monatliche Kindergeld sowohl für eigene wie
adoptierte Kinder beträgt 19,40 Euro. Eltern können bis
zum
26. Lebensjahr ihres Kindes Ausbildungskosten
absetzen. Von dieser neuen Offensive für die Familie erhofft
sich die Regierung viel. In Tallinn haben sich die Geburtstationen
der Krankenhäuser bereits auf 20 Prozent mehr Geburten
eingerichtet.
Beispiel Lettland
Auch erst in diesem Jahr wurde in Lettland
aus einem Sekretariat ein veritables Ministerium mit dem Titel
"Kinder- und Familienangelegenheiten" Die Letten machen nur gut die
Hälfte der Bevölkerung aus, ein großer
Bevölkerungsteil ist russischer Herkunft. Bei 2,3 Millionen
Einwohnern und einer Fertilitätsrate von 1,24 befürchtet
die lettische Regierung eine bedrohliche Dezimierung der Letten.
Trotzdem hat sich das Land ebenso wie Estland für eine
liberale Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen entschieden.
Das neue Ministerium bietet eine kostenlose Beratung für
Familien in Krisen an. Im Fokus der lettischen Politik steht die
Unterstützung für Kinder. Das reicht von der
Kinder-Hotline im Ministerium bis zum Kindergeld, das in diesem
Jahr verdreifacht wurde. Aktuell ist Lettland dabei, die
Unterstützung für Familien im Parlament zu debattieren;
es wird sich an Estland orientieren.
Bei den Europawahlen am 13. Juni erhielt die
nationalistische "Liga für die polnische Familie" hohe
Stimmzuwächse. Das darf nicht als Signal verstanden werden,
dass in Polen Familienpolitik besonders ausgeprägt ist.
Bemerkenswert sind die Wandlungen des zuständigen Ressorts,
das nie in den Rang eines Ministeriums aufstieg: 1990 hieß es
"Beauftragte für Frauen und Familie" kurz darauf wurde es eine
"Beauftragte für Familie und Frauen", dann verschwanden die
Frauen aus dem Titel und jetzt ist eine "Beauftragte für
Gleichstellungsfragen" im Amt.
Von einer strukturell durchdachten
Familienpolitik könne, so ist von
Nichtregierungsorganisationen zu hören, nicht die Rede sein.
Im Augenblick bewegt die Polinnen, dass der Staat die
Unterstützung für verlassene Mütter drastisch
gekürzt hat. Väter, die sich ihrer
Unterhaltsverpflichtung entziehen, können auf schwache
Gerichte zählen. Die Gesetze sehen für Frauen in der
Mutterschaft eine Jobgarantie vor, die ebenfalls selten gerichtlich
durchgesetzt werden kann. Polen hat immer noch ein restriktives
Abtreibungsrecht, so dass Polinnen entweder zu illegalen und
unsicheren Methoden greifen oder ins Ausland reisen. In der Summe
stellt sich die Situation in Polen so dar, dass die alten
Sozialssysteme erodierten und noch von keiner modernen
Familienpolitik ersetzt wurden - und das bei einer
Fertilitätsrate von 1,24.
Familienbelange sind in der Verfassung der
tschechischen Republik festgehalten. Sie haben kein eigenes
Ministerium, sondern fallen mit einer eigenen Abteilung in die
Zuständigkeit des Arbeits- und Sozialministeriums, aber auch
des Finanz- und Justizministeriums. In Prag versteht man
Familienpolitik als Querschnittsaufgabe. Der Staat versucht,
Familien finanziell zu unterstützen. In diesem Jahr wurde das
Kindergeld von monatlich 85 Euro auf 119 Euro angehoben. Im
Parlament verhandelt man zurzeit weitergehende steuerliche
Förderungen der Familie. Schwangere Frauen gehen etwa sechs
Wochen vor der Entbindung in den Mutterschaftsurlaub, der insgesamt
37 Wochen dauert.
Die Mutterschaftshilfe kommt aus dem System
der Krankenversicherung mit einem Höchstsatz von 430 Euro pro
Monat. Nach Ablauf des Erziehungsurlaubs kann die Mutter, oder auch
der Vater, eine Zahlung von monatlich 120 Euro erhalten. Auch
für tschechische Mütter besteht eine Jobgarantie
während ihres Erziehungsurlaubs, hier halten die Traditionen
noch. Dafür haben viele der staatlichen Kindergärten
geschlossen und private und teurere aufgemacht. Insgesamt
praktiziert die Tschechische Republik eine moderne Familienpolitik,
aber es hapert wie in vielen Ländern im Übergang an den
finanziellen Ressourcen, sodass Familien und alleinerziehende
Mütter Gefahr laufen, in die Armut zu rutschen. Wie in vielen
postsozialistischen Ländern fehlt den Gerichten die
Fähigkeit und die Kraft, die gesetzlichen Rahmenbedingungen
durchzusetzen.
Ganz neu ist auch das "Ministerium für
Familie und soziale Solidarität" in Malta. Die Regierung
unterstützt finanziell Nichtregierungsorganisationen, die sich
um Familien kümmern und unterhält auch eigene
Wohlfahrtsagenturen. Die öffentlichen Kindergärten
für Kinder zwischen drei und fünf Jahren sind kostenlos,
kleinere Kinder gehen in private, kostenpflichtige Einrichtungen.
Eine Mutter bekommt um die Geburt herum 13 Wochen bezahlten und
eine Woche unbezahlten Urlaub. Für Angestellte im
öffentlichen Dienst kann der Arbeitsplatz ein Jahr vorgehalten
werden. Diese Zeit können sich die Eltern teilen. Im privaten
Sektor gibt es pro Kind nur eine unbezahlte Freizeit bis zu drei
Monaten. Abtreibung ist in Malta illegal.
Auch in Ungarn wurde ein neues "Ministerium
für Gesundheit, Soziales und Familienangelegenheiten"
gegründet; in Slowenien heißt es "Ministerium für
Arbeit, Familie und Sozialangelegenheiten"; in der Slowakei sind
auch Arbeit, Soziales und Familie zusammengefasst. In Litauen
taucht "Familie" in keinem Ministeriumstitel auf, ebenso in Zypern.
Familienpolitik differiert im alten Europa, das setzt sich im neuen
fort. Die Franzosen, die den höchsten Satz, nämlich 4,5
Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Familien ausgeben,
haben mit 1,71 Prozent eine relativ hohe und seit Jahren stabile
Geburtenrate.
Standards erstrebenswert
Auch wenn Zypriotinnen und Polinnen sich auf
die gleichen Grenzwerte von Blei im Trinkwasser berufen
können, dürfte es für die meisten von
größerem Interesse sein, wie gut es ihnen und ihrer
Familie geht, ob genügend Kindergartenplätze da sind oder
ob jedes Kind einen herben Karriereknick bedeutet. In Zukunft sind
ähnliche Standards in der Familienpolitik erstrebenswert. Noch
zukunftsweisender wäre es, wenn sich die europäischen
Regierungen den Zielen und dem Geist der UN-Konferenz für
Bevölkerung und Entwicklung in Kairo 1994 - dieses Jahr wird
"Kairo + 10" begangen - aktiv verpflichten würden. Denn der
innovative Ansatz von Kairo war, nicht nur reproduktive Gesundheit
und Rechte einzufordern, sondern auch sexuelle Gesundheit und
Rechte.
Um diese Menschenrechte erweitert ist
Familienpolitik mehr als Kindergeld und Kindergarten. Das Verbot
von Abtreibung hilft - wie an den Fertilitätsraten abzulesen
ist - jedenfalls nicht. Erst wenn Frauen und Männer die
Freiheit der Wahl haben und für ihre Entscheidung die
Unterstützung der Politik erhalten, werden sie wieder mehr
Kinder haben wollen.
Margit Miosga ist freie Journalistin und lebt
in Berlin.
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