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Das Parlament
Nr. 39 / 20.09.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Peter Pragal

Der Keller war voll mit ostdeutschen Flüchtlingen

Im Herbst 1984 wird die bundesdeutsche Botschaft in Budapest zur Anlaufstelle für DDR-Bürger

Axel Hartmann stellte sich ahnungslos. Ob die deutsche Botschaft in Budapest Flüchtlinge aus der DDR beherberge, wollte ich bei einem Ungarn-Besuch im Herbst 1984 wissen. Hartmann, der damals die Rechts- und Konsularabteilung der Mission leitete, sah mich erstaunt an. "Die haben wir hier nicht", sagte der Diplomat. Das war gelogen. Denn in Wahrheit war das Haus mit Flüchtlingen überfüllt. "Der Keller war voll von Menschen," sagt Hartmann heute. Aber das sollte ich als damaliger Osteuropa-Korrespondent des "Stern" nicht wissen.

Budapest war ein Geheimtipp für Menschen, die vor 20 Jahren dem SED-Staat entfliehen wollten. Im Sommer hatte die Ständige Bonner Vertretung in Ost-Berlin vor dem Ansturm der Zuflucht Suchenden kapituliert und den Besucherverkehr eingestellt. Vorübergehend, wie es hieß. Auch die bundesdeutsche Mission in Prag war überlaufen und wurde zeitweise geschlossen. Die Medien zeigten spektakuläre Bilder. Und animierten damit noch mehr DDR-Bürger zum Versuch, als Botschaftsflüchtlinge ihre Ausreise aus dem Arbeiter- und Bauernstaat zu erzwingen.

Die bundesdeutsche Mission in Budapest blieb zunächst von Schlagzeilen verschont. "Wir haben es geschafft, die Botschaft offen zu halten", sagt Axel Hartmann, heute Dienststellenleiter der Thüringer Landesvertretung in Berlin. Dabei war die Situation nicht minder brisant als in Prag oder in Ost-Berlin. Die Villa, in der die bundesdeutschen Diplomaten arbeiteten, war als Massenquartier für Zufluchtbewerber ungeeignet. "Mehr als 20 Personen waren kaum unterzubringen," erinnert sich Hartmann. Nicht wenige der Asyl Suchenden weigerten sich, das Haus zu verlassen. Manche von ihnen blieben bis zu drei Monaten. Und wenn sie gingen, kamen Neue nach. Aber abgewiesen oder einfach weggeschickt wurde niemand.

"Die DDR-Bürger wurden als Gäste der Botschaft betrachtet und auch so behandelt", las Hartmann später in einer Akte, die die Stasi über ihn geführt hat. "Es erfolgte eine bevorzugte und kostenlose Versorgung der DDR-Bürger mit Nahrungs- und Genussmitteln." Mehr noch: Den DDR-Bürgern sei auch ermöglicht worden, mit Verwandten und Bekannten in der Bundesrepublik zu telefonieren. Und wenn Asyl Suchende ihr Gepäck vor dem Besuch der Botschaft etwa in einem Schließfach am Bahnhof aufbewahrt hatten, wurde es von Missionsbediensteten abgeholt.

Noch mehr als diese angeblich rechtwidrige Praktiken missfiel dem MfS, wie die Botschaftsflüchtlinge von Hartmann und anderen westdeutschen Diplomaten beraten wurden. "Zur aktiven Unterstützung ihrer Übersiedlungsversuche wurden den DDR-Bürgern verschiedene Alternativen zur Lösung ihres Problems angeboten, wobei grundsätzlich die Gewährung eines besonderen Schutzes und der sicheren Obhut in der Botschaft betont wurde, " heißt es in der Stasi-Akte.

Gewiss, die deutschen Diplomaten machten den Asyl Suchenden schon klar, dass es einen direkten, in den Westen führenden Weg aus Ungarn nicht gebe. Aber es wurde auch kein Flüchtling aufgefordert, in die DDR zurückzukehren und dort einen Ausreiseantrag zu stellen. Vielmehr wurde über einen Freikauf der Flüchtlinge verhandelt, als diese noch in der Botschaft waren. Erst wenn eine Zusage aus Ost-Berlin vorlag, kehrten sie für einige Monate in ihre Wohnorte in der DDR zurück und warteten auf ihre Ausreise.

Eines Tages kam eine jüngere DDR-Bürgerin mit ihren beiden Kindern zu Hartmann in die Botschaft, um sich zwecks Übersiedlung beraten zu lassen. Als er sie nach dem Gespräch verabschieden wollte, sagte sie: "Es gibt da vielleicht noch ein Problem. Mein Schwiegervater ist Mitglied des Zentralkomitees der SED." "Mir fiel der Unterkiefer herunter", erzählt Hartmann. "So etwas hatten wir noch nicht." Er bat sie wieder ins Zimmer und riet ihr, in der Botschaft zu bleiben. "Wenn Sie jetzt in die DDR zurückgehen, wird man Sie vielleicht irgendwann ausreisen lassen, nicht aber Ihre Kinder." Das habe sie eingesehen.

Hartmann meldete den Fall nach Bonn. Zwei Wochen später ging bei ihm das Telefon. Am Apparat war DDR-Anwalt Wolfgang Vogel. "Hartmann, sind Sie verrückt geworden. Werfen Sie die Frau raus. Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier los ist." Der Schwiegervater war Herbert Ziegenhahn, SED-Bezirks-chef in Gera. Die junge Frau, die in Scheidung lebte, blieb mit ihren Kindern in der Botschaft. Bis auch dieser Fall diskret gelöst wurde. "Es hat ein bisschen länger gedauert als in anderen Fällen", sagt Hartmann. "Aber es ist gelungen."

Diplomaten unterliegen bei ihrer Arbeit Weisungen. Manche halten sich strikt daran, andere legen sie großzügig aus. Hartmann gehörte zu Letzteren. "In mehreren Fällen stellte er persönliche Beziehungen zu (ausreisewilligen) DDR-Bürgern her, empfing sie gemeinsam mit seiner Frau in der Privatwohnung und unterhielt zu ihnen auch noch Verbindung nach ihrer Rückkehr in die DDR", registrierte die Stasi.

"Es kam vor", so ist in den MfS-Unterlagen weiter zu lesen, "dass er für DDR-Bürger, die in die BRD übersiedeln wollten, BRD-Pässe beschaffte, wobei er sie jedoch warnte, dass dieses Dokument nicht zur Ausreise aus der Ungarischen Volksrepublik berechtigt." Das stimme nur zum Teil, sagt Hartmann. "Richtig ist, dass ich Leuten geraten habe, sich durch Freunde in der Bundsrepublik Pässe ausstellen zu lassen."

Manchmal ging es dann so weiter: Die Pässe wurden von Bundesbürgern nach Ungarn gebracht und dort von den neuen, ostdeutschen Inhabern bei einem Treffen unterschrieben. Dann gingen die Dokumente wieder in den Westen. Bei der ungarischen Botschaft wurde ein Touristen-Visum beantragt. War das im Pass eingetragen, fehlte nur noch der Einreisestempel. "Den gab es in Ungarn zu kaufen", sagt Hartmann. Man brauchte nur einen Insidertipp. Und den hatten manche Diplomaten.

"Nicht alles, was die Stasi aufgeschrieben hat, ist falsch," sagt Hartmann. Wie etwa die Geschichte mit der Fluchthilfe. Die wurde in Ungarn nicht so streng bestraft wie in anderen Ostblock-Ländern. Auf dieses Delikt standen höchstens sechs Monate Freiheitsstrafe, wenn es ideelle Hilfe war. Floss dabei Geld, ging die Strafe selten über zwei Jahre hinaus. "Es liegen Informationen vor," meldete ein MfS-Mitarbeiter, "dass Hartmann Schleusungen von DDR-Bürgern in türkischen Fleischtransportern vermittelt." Stimmt das? "Ich habe im Rahmen meiner Möglichkeiten Tipps gegeben," sagt er.

Im Herbst 1984 geriet auch die deutsche Botschaft in Budapest ins Licht der Öffentlichkeit. Eine große Boulevard-Zeitung berichtete, dass vier verzweifelte DDR-Flüchtlinge, ein Zahnarzt, seine Frau und zwei Kinder, in der Mission Zuflucht gesucht hätten. Eine abgesprochene Aktion, vermutet Hartmann. Das Haus war bereits mit mehr als einem Dutzend anderer Hilfe Suchender voll. "Wir gehen hier nicht mehr raus," sagten die Neuen. Eine auch nur befristete Rückkehr in die DDR lehnten sie ab.

Durch die Indiskretion geriet die Botschaft in eine heikle Lage. Immer mehr Flüchtlinge glaubten, durch Beharrlichkeit eine unmittelbare Ausreise in den Wes-ten ertrotzen zu können. Kurz darauf erhielten die Diplomaten unerwartet publizistische Unterstützung. ZDF-Korrespondent Hans-Jürgen Wiesner, mit den Praktiken des Freikaufs vertraut, stellte sich vor die Mission und sagte, hinter den Mauern spiele sich eine Tragödie ab. Da säßen Leute, die meinten, sie könnten von hier aus direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Das aber sei ein Irrglauben. Je schneller das die Leute begriffen, desto besser sei es für sie selbst.

Das deutsche Fernsehen war in Ungarn nicht zu empfangen. Satellitenschüsseln gab es noch nicht. Vom Bundespresseamt ließ sich Hartmann eine Kassette mit Wiesners Kommentar schicken. Den mischte er unter andere Streifen, die den Botschaftsflüchtlingen im Aufenthaltsraum zur Unterhaltung vorgeführt wurden. "Auf einmal wurde es ganz still", sagt Hartmann. Zwei Tage später seien die ersten Zufluchtbewerber gekommen und hätten erklärt: Wir fahren wieder zurück.

Fünf Jahre ging das so weiter. Die DDR bestimmte, wie viel die Bundesrepublik für jeden Ausreisekandidaten als Preis seiner Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu zahlen habe. Hartmann war inzwischen nach Bonn gewechselt, saß im Ministerbüro vom Chef des Kanzleramtes. An einem Tag im Mai 1989 sah er im Fernsehen, wie der ungarische und der österreichische Außenminister in einem symbolischen Akt mit Scheren den Eisernen Vorhang durchschnitten. "Das gibt Arbeit", hat Hartmann damals gedacht. "Wenn das die DDR-Leute sehen, beginnen die zu laufen."

Peter Pragal

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