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07/2002
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Streitgespräch

Dialog

Streitgespräch über die Wahlperiode

Rückblick auf spannende Jahre

Die 14. Wahlperiode des Bundestages geht zu Ende. Tiefe Einschnitte haben sie geprägt: Regierungswechsel, Umzug vom "Provisorium" Bonn in die alte und neue Hauptstadt Berlin, Konfrontation mit internationalen Krisen – Balkan, Terror, Afghanistan -, die Herausforderung der Arbeitslosigkeit, Spendenaffären mit ihren personellen Erschütterungen. Wie bewerten die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU die vierjährige Arbeit des Parlaments? Im Streitgespräch mit Blickpunkt Bundestag ziehen Peter Struck und Friedrich Merz eine kritische und kontroverse Bilanz.

Peter Struck
Friedrich Merz

Blickpunkt Bundestag: Herr Struck, welche Note geben Sie der Oppositionsarbeit von Herrn Merz im Bundestag?

Peter Struck: Ich muss leider "mangelhaft" sagen, weil die Opposition keine echten Alternativen vorgelegt hat, besonders in den strittigen Fragen der Innenpolitik und der Haushaltskonsolidierung. Die schlechte Note kann man dadurch leicht abmildern, dass die Union immerhin in bemerkenswerter Weise bereit war, die außenpolitische Verantwortung mitzutragen, die von unserem Land gefordert wurde.

Blickpunkt: Welche Zensuren haben umgekehrt Regierung und SPD-Fraktion verdient, Herr Merz?

Peter Struck und Friedrich Merz

Friedrich Merz: Ungenügend! Die Regierung war nicht fleißig genug und hat ihre Chancen verspielt. Daran kann auch der Vorsitzende der größten Regierungsfraktion wenig ändern, selbst wenn er es wollte.

Blickpunkt: Ziemlich strenge Urteile. Sind Sie damit zufrieden?

Struck: Natürlich nicht. Selbst wenn es zur Rolle der Opposition gehört, die Regierung zu kritisieren, liegt Herr Merz daneben. Wir haben in vier Jahren mehr bewegt als die CDU in ihren 16 Jahren. Soll ich beginnen, aufzuzählen?

Merz: Bloß nicht. Strucks Einschätzung uns gegenüber ist gewohnt unverschämt. Ich finde, die Union hat nach der nicht ganz einfachen Situation, nach 16 Jahren abgewählt worden zu sein, wieder hervorragend Fuß gefasst. Die CDU/CSU hat eine bemerkenswerte Kraft entwickelt, aus dem tiefen Tal wieder herauszukommen und heute mit hervorragenden Chancen in die Bundestagswahl zu gehen. Gerechterweise will ich hinzufügen, dass dies nicht nur an den eigenen Stärken, sondern auch an den Schwächen der Regierung liegt. Insgesamt bin ich mit der Arbeit und dem Ergebnis der Unionsfraktion mehr als zufrieden.

Blickpunkt: Haben Sie geahnt, Herr Struck, was auf Sie zukommt, als Sie 1998 SPD-Fraktionschef der ersten rot-grünen Regierungskoalition auf Bundesebene wurden?

Struck: Nein, natürlich nicht. Für eine Fraktion, die 16 Jahre lang in der Opposition war, ist es natürlich eine große Umstellung, wenn sie die Regierungsverantwortung zu übernehmen hat, vor allem angesichts der Erblast, die wir übernommen haben. Zudem konnte niemand damit rechnen, dass wir im außenpolitischen Bereich mit Entscheidungen konfrontiert wurden, die gerade für eine rot-grüne Koalition unendlich schwer waren.

Im Gespräch: Peter Struck ...

Im Gespräch: Peter Struck ...

Blickpunkt: Und wie war es bei Ihnen, Herr Merz, als vor gut zwei Jahren im Strudel des CDU-Spendenskandals die Fraktionsführung überraschend auf Sie zukam?

Merz: In der Rückbetrachtung wird diese Legislaturperiode sicherlich als eine der wechselvollsten beschrieben werden, die Deutschland seit 1949 erlebt hat. Regierungswechsel, Berlin-Umzug, Parteispenden-Krise, der damit verbundene sehr abrupte Generationenwechsel an der Fraktionsspitze bei uns – das war alles nicht leicht. Trotzdem haben wir die Sache gepackt. Noch vor einem Jahr hätte ich nicht gewagt, vorherzusagen, dass wir uns schon wieder auf einen Regierungswechsel in Deutschland zubewegen ...

Struck: ... Einspruch!

Merz: ... Der ist doch nur pflichtgemäß. Also: Ich habe diese Legislaturperiode als zum Teil unheimlich anstrengend, aber auch als sehr spannend miterlebt. Wenn man da an vorderster Front mit dabei sein kann, ist das eine großartige Erfahrung. Ich bin nach Rainer Barzel der jüngste Vorsitzende, den die CDU/CSU-Fraktion in ihrer Geschichte hatte. Und da Opposition immer das schwierigste und zweitschönste Geschäft in der Politik ist, gehe ich durchaus gehärtet aus dieser Legislaturperiode heraus.

Struck: Oppositionsarbeit ist nicht das Schwierigste! Opposition ist einfacher als Regieren. Das habe ich gelernt. Richtig ist, dass es eine spannende Legislaturperiode war. Einmal durch die innen- und außenpolitischen Herausforderungen, aber auch durch den Umzug und dadurch, dass wir nach nur vier Monaten ja einen SPD-Vorsitzenden und Finanzminister verloren haben. Das war schon happig. Trotzdem haben wir uns wirklich gut geschlagen, was gar nicht so einfach ist, wenn man fast 300 Abgeordnete unter einen Hut bekommen muss.

Blickpunkt: Ist die Auseinandersetzung zwischen Opposition und Regierungsfraktion härter geworden?

Merz: Eindeutig ja. Der Umgangston ist härter, die Umgangsformen sind schlechter geworden. Es hat eine ziemlich rigorose Durchsetzung der Mehrheit gegen die Minderheit gegeben. Herr Struck hat am Anfang der Legislaturperiode gesagt: "Wir brauchen die Opposition nicht" und musste dann feststellen, dass man sie doch braucht. Ich würde so etwas Arrogantes aus der Regierungsverantwortung heraus nie sagen.

Struck: Na, na. Ich gebe zu: Dieser Satz war hart und derb, aber er war ein Zitat Herbert Wehners. Außerdem war er nicht auf die Außenpolitik gemünzt, wo natürlich Gemeinsamkeit gesucht und gefunden werden muss, sondern auf die innenpolitische Auseinandersetzung, in der Sie sich selbst ja auch allzu oft verweigert haben. Richtig ist, dass insgesamt der Umgangston ruppiger geworden ist. Ich führe das darauf zurück, dass in Berlin ein Pflaster ist, auf dem sehr stark verkürzt und fokussiert wird. Das färbt auf das Klima im Parlament ab.

Blickpunkt: Welche Rolle spielen die Medien, die ja auch schneller, hektischer geworden sind?

Merz: Hier stimme ich Herrn Struck zu: Der Mediendruck ist in Berlin um ein Vielfaches größer geworden. Die schnelle, kurze Nachricht, die nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft wird, der Konkurrenzdruck der Medien untereinander, das Herumlungern von Kamerateams an jedem Sitzungssaal – all das hat nicht zur Seriosität beigetragen. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es kommen auch interne Gründe hinzu. In meiner Fraktion gibt es eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Arbeit des Bundestagspräsidenten. Als wir den Parlamentspräsidenten stellten, hatten wir immer das Problem, dass wir gesagt haben: Im Zweifel entscheidet der eher für die Gegenseite. Das ist anders geworden. Wir finden Herrn Thierse parteiisch. Auch dadurch sind Stil und Ton im Bundestag nicht besser geworden.

 ... und Friedrich Merz.

... und Friedrich Merz.

Struck: Ich möchte Bundestagspräsident Thierse ausdrücklich und aus Überzeugung in Schutz nehmen. Ich finde, er führt sein Amt hervorragend aus. Von Parteilichkeit kann überhaupt keine Rede sein. Rührt Ihr Eindruck, Herr Merz, möglicherweise daher, dass der Bundestagspräsident aus seinem Amt heraus auch über die Korrektheit der Parteienfinanzen zu wachen hat und die Union ja damit einige Probleme hatte?

Merz: Sie doch auch!

Blickpunkt: Sorgt auch die Spaßgesellschaft mit dafür, dass die Politik schwerer vermittelbar erscheint?

Struck: Ich denke schon. Wenn ein Kanzlerkandidat mit der Zahl 18 unter den Schuhsohlen herumläuft, geht ja nun wirklich einiges an Seriosität verloren. Mich irritiert dabei vor allem, dass dies ganz offenbar bei einem Teil des Publikums ankommt. Da müssen wir uns selbstkritisch fragen, woran das liegt. In der Politik sollte es auf Glaubwürdigkeit und nicht auf Tralala ankommen.

Merz: Die Spaßgesellschaft ist ja nicht ein Kind der Politik, sondern der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre. Mein Eindruck ist allerdings, dass der Zug bereits wieder zurückfährt. Damit bekommen jetzt diejenigen Schwierigkeiten, die allein mit der Spaßgesellschaft versucht haben, ihre Wähleranteile zu erhöhen. Mir wurde oft vorgehalten, ich sei zu ernst. Ich lasse mich aber nicht davon abbringen, dass Politik immer noch etwas mit Ernsthaftigkeit und Lösungskompetenz zu tun hat.

Blickpunkt: Hat der Standort Berlin die Politik verändert? Immerhin hieß es, Berlin sei dichter dran an den Brennpunkten der Gesellschaft, liege zudem an der Nahtstelle von Ost und West.

Struck: Ich finde ja. Wenn ich mit dem Motorrad durch Kreuzberg und Friedrichshain oder durch Brandenburg fahre – das ist schon etwas anders als in Bonn und Umgebung. Hier werden Ost-West-Probleme sehr konkret sichtbar. Der Kosmos der Millionenstadt Berlin mit seinen vielfältigen Problemen, aber auch Angeboten wirkt auf jeden Abgeordneten.

Merz: Das ist auch mein Eindruck. Die sozialen Spannungen sind in Berlin viel hautnäher zu spüren; dagegen war Bonn ein nettes Idyll am Rhein. Allerdings glaube ich, dass das Eintauchen in die Stadt Berlin und das Umland nicht so stark stattgefunden hat, wie wir das beim Wechsel von Bonn nach Berlin gewünscht haben. Bei mir persönlich ist es jedenfalls so: Meinen Vorsatz, mindestens einmal im Monat ins Theater oder Konzert zu gehen, habe ich schon aus Arbeitsüberlastung nicht durchgehalten.

Blickpunkt: Im 14. Bundestag besitzt die PDS erstmals Fraktionsstatus. Ist damit die Zeit der PDS als politisches Schmuddelkind endgültig vorbei?

Merz: Leider hat die SPD nachhaltig dazu beigetragen, die PDS aus dieser Ecke herauszuholen und in Deutschland wieder politisch salonfähig zu machen. Die SPD hat damit den antitotalitären Konsens der politischen Parteien in Deutschland aufgekündigt und für eine Partei ein Stück Normalität erzeugt, die nun wirklich außerhalb des Spektrums unserer bisherigen demokratischen Ordnung stand. Das bedaure ich außerordentlich.

Struck: Sie spielen auf die rot-rote Koalition in Berlin an. Die wurde ja nur dadurch erforderlich, weil die CDU in Berlin total abgewirtschaftet hatte und eine andere Konstellation sich als nicht realisierbar erwies. Im Übrigen halten wir im Bundestag Distanz zur PDS. Sie ist nicht nur außenpolitisch, sondern auch in vielen innenpolitischen Fragen unseriös.

Blickpunkt: Die Generation der Nachkriegspolitiker mit gemeinsamen Erfahrungen ist weitgehend abgetreten; im nächsten Bundestag werden noch mehr neue und jüngere Abgeordnete sitzen. Wird dadurch der Zusammenhalt in Ihren Fraktionen schwieriger?

Struck: Wenn 78 von 293 Kollegen ausscheiden, darunter viele sehr erfahrene, ist das natürlich ein großer Anteil. Aber ich bin sicher, dass nach einer gewissen Einarbeitungszeit auch die neuen Kollegen rasch zueinander finden und ihre Stärken ausspielen können. Insofern ist der Wechsel auch immer eine Chance.

Merz: Auch bei uns wird es viele neue Gesichter geben. Ungefähr ein Drittel wird neu sein in der Fraktion. Das ist kein Problem, aber sicher eine tiefgreifende Veränderung. Weniger quantitativ als dadurch, dass ein großer Teil unserer früheren Regierungsmannschaft und fast die gesamte Nachkriegsgeneration ausscheidet. Das wird aber nicht den Zusammenhalt der Fraktion gefährden; nur die Erfahrungshorizonte werden sich verändern.

Blickpunkt: Chef einer großen Fraktion – welchen Stellenwert hat dies für Sie in der Hierarchie von Parlament und Regierung?

Struck: Ich würde immer und ganz unbescheiden sagen: Der Vorsitzende einer Regierungsfraktion hat mehr zu sagen als fast alle Minister.

Merz: Im Parlament ist der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion der Herausforderer des Bundeskanzlers. Zudem führen die Chefs der großen Fraktionen mit ihren vielen Mitarbeitern so etwas wie ein mittelständisches Unternehmen. Vorsitzender einer großen Parlamentsfraktion – das ist eine politische Führungsaufgabe ersten Ranges. Wer die erfolgreich bewältigt, gehört – in aller Bescheidenheit – zur Führungselite dieses Landes.

Blickpunkt: Mit welchem Job würden Sie da noch tauschen?

Struck: Mit keinem!

Merz: Warum soll ich mir darüber jetzt Gedanken machen? Ich konzentriere mich immer auf die Aufgabe, die ich habe.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0207/0207012a
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