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Marianna Butenschön
"Niemand ist vergessen, nichts ist
vergessen"
Vor 60 Jahren wurde die Leningrader Blockade
aufgehoben
Eine Führung im "Staatlichen
Memorial-Museum der Verteidigung und Blockade Leningrads" am
Soljanoj Pereulok 9 in St. Petersburg. Routiniert und freundlich
geleitet Jelena Schuschmann eine große Studentengruppe durch
den einzigen Ausstellungssaal, in dem die "Schlacht um Leningrad"
den zentralen Teil einnimmt. Noch im Vestibül hatte die
Museumsführerin die künftigen Kinderärzte gebeten,
ihre Handys auszuschalten, "damit sie uns nicht bei unserer Arbeit
störe". Der Gang durch diese Ausstellung ist tatsächlich
ein Stück Arbeit. Ein Stück Erinnerungsarbeit.
Erinnerung an einen Abschnitt der
Stadtgeschichte, von dem die jungen Petersburger kaum noch etwas
wissen. Denn ihre Großeltern, die vor 60 Jahren Kinder oder
Jugendliche waren, sprechen nicht gerne vom Grauen jener Zeit, und
die Eltern haben andere Sorgen. Fast 900 Tage hatten die Deutschen
die Stadt im Zweiten Weltkrieg belagert, um sie auszuhungern und
dem Erdboden gleichzumachen. So hatte Hitler es befohlen. Am 27.
Januar 1944 war der Alptraum zu Ende. Doch von den rund dreieinhalb
Millionen Menschen, die zu Beginn des Unternehmens Barbarossa am
22. Juni 1941 in Leningrad gelebt hatten, hörten nur 500.000
den Siegessalut in der Stadt. Mehr als eine Million Menschen waren
verhungert und erfroren oder durch Bombenangriffe und
Artilleriefeuer umgekommen.
Die Tragödie begann am 8. September mit
dem Fall der Festung Schlüsselburg am Ladoga-See. Damit war
der Belagerungsring geschlossen. Die Deutschen waren so schnell
vorgedrungen, weil Stalin alle Warnungen vor einem Angriff in den
Wind geschlagen und sein Land nicht auf einen Krieg vorbereitet
hatte. Auch Leningrad war nicht auf einen Angriff vorbereitet,
nicht auf eine Belagerung und erst recht nicht auf eine Hungersnot.
Die Heeresgruppe Nord hätte ihr Ziel noch schneller erreicht,
wäre sie nicht bei der Luga-Stellung aufgehalten worden. Dort
standen auch 170.000 Freiwillige, die einem Geheimbefehl zufolge
"mit Flinten, Jagdgewehren, Säbeln, Lanzen und Dolchen" an die
Front geschickt worden waren. "Das heißt, drei von zehn
Kämpfern hatten überhaupt keine Waffe", kommentiert
Jelena Schuschmann das erst jetzt bekannt gewordene Dokument. "Der
Politruk hatte ihnen gesagt: Waffen erbeutet ihr im
Gefecht."
Immerhin konnten bis zum 8. September etwa
250.000 Kinder evakuiert werden. Rund 100 Betriebe samt Belegschaft
wurden in den Osten verlegt, zwei Güterzüge mit
Kunstwerken aus der Ermitage gingen in den Ural ab. Das
berühmte Reiterstandbild Peters des Großen verschwand
unter Sandsäcken. Alpinisten verkleideten und übermalten
die vergoldeten Turmspitzen und die Kirchenkuppeln der ehemaligen
Zarenresidenz. "Und all das verschmolz mit dem grauen Petersburger
Himmel", erzählt Jelena Schuschmann den Studenten, "das gut
erkennbare Panorama unserer Stadt gab es nicht mehr. Nicht ein
einziges Denkmal wurde während der Schlacht um Leningrad
zerstört, weder durch die Luftwaffe noch durch die Artillerie
des Gegners".
Die Menschen wurden weniger gut
geschützt. Als Außenhandelskommissar Anastas Mikojan die
Lebensmittelzüge, die selbst am ersten Kriegstag noch
vertragsgemäß nach Deutschland abgingen, auf eigene Faust
nach Leningrad umleiten ließ, erhob der Leningrader Parteichef
Andrej Shdanow mit der Begründung bei Stalin Einspruch, die
Stadt hätte genug Lebensmittel. Das war eine Lüge. In den
Badajew-Lagern, die am 8. September beim ersten schweren
Bombenangriff getroffen wurden und tagelang brannten, befanden sich
nur Vorräte für eine Woche.
"Die Badájew-Lager waren an der Kiewer
Straße. Ich erinnere mich, wie dort schwarzer verbrannter
Zucker in Strömen floss, und wie die Menschen diesen Dreck
einsammelten. Aber das Wasser wurde dann gefiltert, und es
schmeckte sehr gut, weil es süß war." (Ludmila
Krippendorf, Rentnerin).
Die Bombenangriffe erfolgten nun immer zur
gleichen Stunde, während die Artillerie Tag und Nacht in die
Stadt schoss. "Aber ich möchte Ihnen sagen, dass die
Bombenangriffe und die Beschießung bei weitem nicht das
Schlimmste waren", fährt Jelena Schuschmann fort, "viel
schlimmer war es, Tag für Tag in der Stadt zu leben und mit
dem Alltag fertig zu werden". Da das Wasserwerk getroffen war,
fielen Wasserleitung und Kanalisation aus. Wasser mussten die
Menschen mit Eimern aus der Newa und den zahlreichen Kanälen
des "Venedig des Nordens" holen. Abfälle und Fäkalien
wurden neben den Häusern abgelegt, bald türmte sich der
Unrat bis unter die Dächer. Außerdem gab es keinen Strom
mehr, weil das Wasserkraftwerk am Wolchow, das Leningrad mit
Elektrizität versorgte, jenseits der Front lag. Die Stadt
versank in Dunkelheit. Als es Ende Oktober keine Kerzen mehr gab,
halfen die Eingeschlossenen sich mit kleinen Ölfunzeln. Doch
viele Leningrader hatten nicht einmal das.
Zur Dunkelheit kam die Kälte. Schon im
November sanken die Temperaturen auf 20 Grad unter Null,
später auf minus 40 Grad. 90 Prozent Häuser hatten keine
Fensterscheiben mehr, weil das Glas die Druckwellen der
Bombenexplosionen nicht ausgehalten hatte. Die Fenster wurden mit
Teppichen, Decken, Gemälden und allem, was zur Hand war, dicht
gemacht. Mitten im Ausstellungssaal ist ein Blockadezimmer
nachgebildet. In der Mitte steht eine "Burschuika", ein
selbstgemachter kleiner Ofen, um den sich das Familienleben
konzentrierte. "Einen Ofen zu bauen, ist für den Russen keine
Kunst", sagt Jelena Schuschmann. "Aber woher bekam man in unserer
steinernen Stadt Brennholz? Nur aus der eigenen Wohnung!" Die
Menschen verheizten Parkettböden und Treppengeländer und
bald auch Möbel, Karten und Bücher, um für ein paar
Stunden etwas Wärme zu spüren...
Schon Ende Juni waren die 80.000
Radiogeräte, die es damals in Leningrad gab, konfisziert
worden, im Herbst wurden auch die Telephone abgeschaltet. Die
einzige Verbindung zur Außenwelt, die den Eingeschlossenen
blieb, war der Leningrader Rundfunk. Auf dem Tisch des
Blockadezimmers steht ein kleiner schwarzer Teller, ein
"Reproduktor", der den Empfänger ersetzte. Während der
Sendepausen schlug ein Metronom, genannt das "Herz
Leningrads".
"Wahrscheinlich war das lange Warten auf den
Tod das stärkste Gefühl, das viele Leningrader empfanden.
Aber wenn das Radio zu sprechen begann, trat an seine Stelle eine
leise Hoffnung auf Leben. Vielleicht überlebe ich? Vielleicht
kommt jemand und hilft mir, wie dem Nachbarn geholfen wurde?
Vielleicht ist alles nicht ganz so schlimm, und morgen wird es
besser?" (Lew Marchasjow, Journalist).
In einer Vitrine liegt ein kleines Stück
Brot. Es wiegt 125 Gramm. Das war die Ration, die am 20. November
1941 für die Mehrheit der Leningrader festgelegt wurde. Doch
das "Brot" bestand aus Zellulose, Tapetenstaub und anderen
Surrogaten, an manchen Tagen mussten die Menschen stundenlang
danach anstehen. "Sie müssen sich vorstellen, dass
Lebensmittelkarten zwar regelmäßig ausgegeben wurden,
aber das bedeutete nicht, dass sie auch immer eingelöst werden
konnten", erklärt Jelena Schuschmann den Studenten. Als die
Minimalration Brot am 25. Dezember um 50 Gramm erhöht wurde,
umarmten sich wildfremde Menschen auf der Straße, obwohl auch
200 Gramm eine Hungerration waren. "Die Sterblichkeit in der Stadt
hatte schon alle vorstellbaren und nicht vorstellbaren Grenzen
überschritten. Die Dystrophie ist eine schreckliche Krankheit,
die damals schon vergessen war. Sie hat die Menschen
buchstäblich umgemäht."
Neben dem Brot liegt eine Seite aus dem
Tagebuch des damals zehnjährigen Walera Suchow: "2. Dezember
1941: Die Katze gefangen und geschlachtet. 3. Dezember 1941: Die
Katze gekocht und gegessen, sehr schmackhaft." Die 16-jährige
Walja Tschjotko dachte sich ein Menü für die Zeit nach
dem Hunger aus, falls sie am Leben bliebe: "Erster Gang:
Kartoffel-, Haferflocken-, Graupen- oder Kohlsuppe. Zweiter Gang:
Brei mit Butter, Hafer-, Buchweizen-, Reis- oder Grießbrei.
Danach nur noch Kotelett oder Würstchen mit Püree. Aber
davon träume ich nicht einmal, weil wir das nicht erleben
werden." Walja starb im Februar 1942.
Nur wer Geld oder Wertsachen zum Tauschen
hatte, konnte auf dem Schwarzen Markt zusätzliche Lebensmittel
erwerben. Aber wenn der Rundfunk die Leningrader aufforderte, kein
Fleisch zu kaufen, wussten alle, dass Menschenfleisch angeboten
wurde. Bis Mai 1942 wurden 1.500 Strafverfahren gegen
Menschenfresser eingeleitet und 500 Todesurteile verhängt.
"Aber die meisten unser Landsleute haben sich bemüht, ihre
Würde und ihr menschliches Antlitz zu bewahren", sagt Jelena
Schuschmann."
"Einige sagen: ‚Man hätte sich den
Deutschen ergeben müssen.' Nein. Wir haben die Stadt doch
erhalten! Der Winterpalast, die Peter-Pauls-Festung, alle unsere
Museen blieben erhalten." (Olga Bogdanowa, Abteilungsleiterin in
der Ermitage).
Im Frühling 1942 drohte Seuchengefahr.
Im März gab der tauende Straßenschnee 12.000 Leichen
frei, und auch die gefrorenen Abfall- und Fäkalienberge an den
Häusern tauten. Die Stadt musste aufgeräumt und
gesäubert werden, die Menschen machten sich an die Arbeit,
obwohl sie keine Kraft mehr hatten. Doch am 15. April nahm die
Straßenbahn den Betrieb wieder auf und verursachte ein
Geräusch, das die Leningrader lange nicht gehört hatten.
Ein Wunder! Jelena Schuschmann zeigt auf ein Foto. Eine
Menschenmenge folgt der Bahn, streichelt und küsst
sie.
Dampfbäder und Frisörsalons
öffneten, die Post wurde wieder ausgetragen, und im Mai fand
das erste Fußballspiel statt. Im Sommer verwandelten sich die
großen Plätze der Stadt in Kartoffel-, Kohl- und
Karottenfelder. Selbst im Hängenden Garten der Ermitage, den
einst Katharina die Große hatte anlegen lassen, wuchs nun
Gemüse. Am 9. August 1942 aber fand im Großen Saal der
Philharmonie die Leningrader Erstaufführung der 7. Sinfonie
von Dmitri Schostakowitsch statt, die er in der Evakuierung beendet
und die "Leningrader Symphonie" genannt hatte. Das Konzert wurde
über Lautsprecher in die Stadt und über Kurzwelle in die
ganze Welt übertragen...
Schon im Januar 1942 hatte der
Militärrat der Leningrader Front beschlossen, einen Teil der
Bevölkerung über den Ladoga-See zu evakuieren. Es ist
eine bittere Ironie des Schicksal, dass die ungeheure Kälte
des ersten Blockadewinters, der so viele Menschen zum Opfer
gefallen waren, die Stadt letztlich rettete. Zum ersten Mal seit
Menschengedenken war der Ladoga-See so fest zugefroren, dass LKW
ihn befahren konnten. Nachdem im Mai Schiffe der Ladoga-Flotille
den Transport übernahmen hatten, erhielt die Eisfahrbahn den
Namen "Straße des Lebens". Bis Ende 1942 konnten mehr als eine
Million Leningrader evakuiert sowie Lebensmittel, Treibstoff und
Munition in die Stadt geschafft werden. Das Leben für die
Eingeschlossenen wurde etwas leichter. Es gab genug zu essen und zu
heizen, obwohl Bombenangriffe und Artilleriefeuer weitere Opfer
forderten.
Und wieder ist Winter.
Schneetreiben.
Der Feind steht immer noch vor den Toren
der
Stadt Aber ich rufe dich ins neue
Haus,
Begrüßen wir das Neue Jahr mit
einem Fest...
Atmen wir Wärme in das Haus,
das
der Tod besetzt hielt und Dunkelheit
umschloß.
Hier wird Leben sein!
(Die Dichterin Olga Bergholz, Neujahr
1943).
Am 18. Januar 1943 gelang den Russen die
Rückeroberung von Schlüsselburg. Drei Wochen später
verkehrten wieder Züge zwischen Leningrad und dem Hinterland.
Die Stadt bereitete sich auf den Befreiungsschlag vor, die
Rüstungsbetriebe arbeiteten auf Hochtouren. "Wissen Sie, meine
Damen, was die Leningrader Parfümeriefabrik im Jahre 1943
produzierte?", wendet sich Jelena Schuschmann an die Studentinnen.
"Maschinengewehrgurte, und die Schallplattenfabrik stellte Granaten
her." Die jungen Damen stellen keine Fragen...
Die Museumsführung endet mit dem
Siegessalut vom 27. Januar 1944. Jüngere deutsche Historiker
würden Jelena Schuschmann in ihrer Ansicht, die Deutschen
hätten die Eroberung Leningrads im September 1941 aus
Schwäche auf das Frühjahr 1942 verschoben, allerdings
nicht folgen. Nicht der heroische Abwehrkampf der Truppen der
Leningrader Front hatte die 18. Armee dazu gebracht, sich
einzugraben, sondern ein Führerbefehl. Spätestens Ende
September 1941 stand fest, dass die Stadt nicht gestürmt,
sondern ausgehungert werden sollte. Am 7. Oktober 1941 hatte Hitler
befohlen, eine Kapitulation nicht anzunehmen.
"Die Überlebenden sprechen nicht gern
über die Blockade. Davon erzählen nur diejenigen gern,
die das nicht erlebt haben. Aber im Buch des Großen
Vaterländischen Krieges ist diese Seite, die der Leningrader
Blockade gewidmet ist, eine ganz besondere. Meiner Ansicht nach ist
sie die schrecklichste. Wir können Filme zeigen und
Bücher schreiben, aber all das darzustellen, ist vollkommen
unmöglich."
(Irina Kurejewa, Leiterin des Schulzentrums
der Ermitage)
Schon am 30. April 1944 wurde im
Museumsviertel beim Sommergarten die erste Ausstellung über
die Blockade eröffnet. Auf 3.000 Quadratmetern waren 60.000
Exponate zu sehen, Kriegsgerät, Photos, Plakate, Dokumente,
persönliche Sachen der Soldaten. Doch im Mittelpunkt der
Ausstellung stand die "Straße des Lebens", die Schrecken der
Hungersnot wurden nur angedeutet. Viele Besucher wunderten sich.
1946 wurde aus der Ausstellung das "Staatliche Museum der
Vereidigung und Blockade Leningrads", das 37 Säle in
verschiedenen Gebäuden besaß und alljährlich
anderthalb Millionen Besucher empfing. Doch das sollte nicht so
bleiben. Denn die "Leningrader Affäre" von 1949/50 stand vor
der Tür.
In Moskau hatte der Kampf um die Nachfolge
des alternden Stalin begonnen. Der Georgier mochte die Stadt nicht,
und seine Moskauer Gefolgsleute sahen in den Leningrader
Parteiführern der Blockadezeit ernstzunehmende Rivalen. Nach
einem Geheimprozess wurden sie erschossen, und die Stadt erlebte
eine neue Terrorwelle. Die Archive wurden gesäubert,
Bücher und Filme über die Blockade bis zur
Unkenntlichkeit umgeschrieben und zensiert. Der größere
Teil der Rundfunkreportagen aus der Blockadezeit wurde vernichtet,
das populäre Museum am Soljanoj Pereulok
geschlossen.
Doch außer dem Machtkampf im Kreml gab
es noch einen Grund für die "Blockade der Blockade". Stalin
war nicht daran gelegen, dass das wahre Ausmaß der Leningrader
Tragödie bekannt wurde. Schon während des Nürnberger
Prozesses hatte der sowjetische Vertreter eine falsche Opferzahl
genannt: Rund 632.000 Menschen. Die Zahl wurde erst 1952 in der
Sowjetunion veröffentlicht, andere Zahlen durften Jahrzehnte
lang nicht genannt werden. "Es wurde uns sogar verboten, sich mit
den Opferzahlen zu beschäftigen", sagt der Historiker Walentin
Kowaltschuk.
Der berühmte Satz von Olga Bergholz
"Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen", der auf der
Granitmauer hinter der Statue der Mutter Heimat auf dem
Piskarjowskoje-Friedhof eingemeißelt ist, muss vielen
Überlebenden daher lange wie Hohn in den Ohren geklungen
haben. Wieviel vergessen werden sollte, erlebten die Schriftsteller
Daniil Granin und Ales Adamowitsch noch in den frühen
80er-Jahren, als sie ihr "Blockadebuch", dokumentarische Prosa auf
der Basis von Augenzeugenberichten, veröffentlichen wollten.
Sie mussten 65 Passagen streichen, das Kapitel über die
"Leningrader Affäre" durfte nicht erscheinen.
Erst nach dem Ende der UdSSR konnte Walentin
Kowaltschuk sich wieder den Opferzahlen zuwenden. Er geht von
"mindestens 750.000 Toten in der Stadt" aus, nennt diese Rechnung
jedoch unvollständig. Unzählige Leningrader seien auf der
"Straße des Lebens" und in den Evakuierungsorten umgekommen,
900.000 Rotarmisten seien gefallen, eine unbekannte Zahl von
Soldaten sei ihren Verwundungen erlegen. Die Gesamtverluste
belaufen sich nach Meinung Kowaltschuks auf zwei Millionen
Menschen.
In der Sowjetzeit sind rund 400 Monographien
und Dokumentenbände sowie mehr als 1.000 kürzere
Beiträge über die Blockade erschienen, in denen die
Tragödie ausschließlich als Heldenepos dargestellt wurde.
Die Zensur gestattete nur die patriotisch-heroische Darstellung des
Sowjetmenschen. Kannibalismus, Plünderung, Denunziantentum,
sogenannte "negativen Erscheinungen", fehlten in diesen
Darstellungen. Von antisowjetischen, defätistischen und
religiösen Strömungen, besonders im ersten
Blockadewinter, war ebenfalls nicht die Rede. Auch der Terror des
NKWD, der Spione jagte, folterte, hinrichtete und ganze
Bevölkerungsgruppen, vor allem Finnen, Deutsche und Balten,
deportierte, blieb ausgespart. Seit den 90er-Jahren sind diese
Aspekte nicht mehr tabu. 2003 ist das "Blockadebuch" endlich
unzensiert erschienen.
Knapp 300.000 "Blokadniki" leben noch in St.
Petersburg. Viele von ihnen haben nicht vergessen und auch nicht
verziehen. Der junge Historiker Nikita Lomagin, Autor eines
zweibändigen Werkes über die "Unbekannte Blockade", kennt
ihre mentalen Probleme: "Für die Russen ist das noch erlebte
Geschichte, "vieles schmerzt bis heute. Es ist zu früh, dass
wir die Blockade genauso leidenschaftslos betrachten können
wie etwa den Ersten Weltkrieg oder die Ereignisse des Jahres 1917.
Das Thema ist noch immer politisiert."
Es ist auch deshalb politisiert, weil die
russische Führung bis heute nicht die Frage beantwortet, warum
die Sowjetunion nicht auf den Krieg vorbereitet war und warum die
Verluste so hoch waren. Die Antwort würde Russlands
Selbstverständnis als Siegernation erschüttern. Auch die
Folgen der Blockade sind bisher nicht erforscht. In der ausgehenden
Sowjetzeit hat Daniil Granin Leningrad einmal "eine Große
Stadt mit Provinzschicksal" genannt. Die Provinzialisierung der
Metropole ist vielleicht die weitreichendste Folge der Blockade,
die sie noch nicht überwunden hat.
Das Blockademuseum wurde erst am 8. September
1989 neu eröffnet. Es hat nur einen Bruchteil seiner Exponate
zurückerhalten. Seine Mitarbeiter suchen weiter nach den
verschwunden Sachen und freuen sich über jedes
Erinnerungsstück, das Überlebende dem Museum
überlassen.
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