Rolf Clement
Die Landesverteidigung bleibt zwar eine Aufgabe -
aber zum möglichen Einsatzgebiet wird die ganze Welt
Die Reform der Bundeswehr als größte
konzeptionelle Umorientierung seit dem NATO-Beitritt
Deutschlands
Die wohl tiefgreifendste Reform der Bundeswehr
hat Verteidigungsminister Peter Struck veranlasst. Die Struktur der
Bundeswehr soll auf die neue, erste Hauptaufgabe der Bundeswehr
ausgerichtet werden - auf Einsätze in den Regionen, in denen
mögliche Risiken für die Sicherheit Deutschlands und des
Bündnisses entstehen. Als Einsatzgebiet nannte Struck
ausdrücklich die ganze Welt. Damit, so die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stelle Struck die Sicherheitspolitik
Deutschlands auf eine völlig neue Grundlage. Es sei die
größte konzeptionelle Umorientierung der Bundeswehr seit
dem NATO-Beitritt Deutschlands.
Verteidigungsminister Struck geht davon aus,
dass die Landes- und Bündnisverteidigung zwar eine Aufgabe der
Bundeswehr bleibt, aber nach der gegenwärtigen Risikoanalyse
nicht zur wahrscheinlichen Option für Einsätze sei. Die
Union nimmt eine andere Gewichtung vor.
Um diesen - nach ihrer Einschätzung
wahrscheinlicheren - Aufgaben leichter gerecht werden zu
können, teilt Verteidigungsminister Struck auf Vorschlag von
Generalinspekteur Schneiderhan die Bundeswehr in drei Kategorien
ein:
1. Eingreifkräfte sollen - besonders im
Rahmen der NATO-Response-Force und der EU-Eingreiftruppe - zeitlich
begrenzte friedenserzwingende Einsätze bestreiten können.
Dazu können auch Operationen der Evakuierung in Kriegs- und
Krisengebieten gehören. Rund 35.000 Soldaten werden dafür
eingeplant.
2. Stabilisierungskräfte sollen
längerfristige friedenserhaltende Einsätze bestreiten
können. Dazu gehören Szenarien wie auf dem Balkan und in
Afghanistan. Zu den Aufgaben gehört es also, Konfliktparteien
zu trennen, Waffenstillstandsvereinbarungen überwachen, die
Bevölkerung schützen und die staatliche Autorität im
Einsatzland aufbauen und sichern. Auch die Abwehr örtlich
begrenzter Angriffe und die Durchsetzung von Embargomaßnahmen
gehören dazu. Rund 70.000 Soldaten soll diese Kategorie
umfassen. 14.000 Soldaten davon können gleichzeitig in bis zu
fünf Missionen eingesetzt werden.
3. Unterstützungskräfte sollen
sowohl von Deutschland aus wie auch von vorgeschobenen Orten im
Einsatzland aus die Einsätze logistisch unterstützen.
Dafür werden 137.500 Soldaten vorgesehen. Auch die
Ausbildungsorganisation fällt unter diese Kategorie. Diese
macht rund 40.000 Soldaten aus.
Wesentliches Strukturmerkmal der Bundeswehr
sind damit nicht mehr die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und
Marine. Sie bleiben zwar bestehen, dienen aber vorwiegend als
Truppensteller für die Einsatzkategorien. Die
streitkräftegemeinsame Organisation trägt der Tatsache
Rechnung, dass nahezu alle Einsätze der Bundeswehr von
Elementen aus mindestens zwei der Teilstreitkräfte bestritten
werden. Die Bundeswehr hat erste Schritte auf diesem Weg bereits
unternommen: Mit der Streitkräftebasis wurden schon die
Logistikverbände streitkraftübergreifend zusammengefasst.
Der Sanitätsdienst wurde ebenfalls in dieser Form organisiert.
Mit dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam, das
alle Einsätze führt, wurde ein Führungsinstrument
geschaffen.
Entscheidend für die Bundeswehr ist,
dass auf diese Weise geschlossene Einheiten und Verbände in
den Einsatz gehen. Sie müssen nicht mehr, wie bisher, aus
verschiedenen Truppenteilen zusammengestellt werden. Damit wird die
Einsatzeffektivität erhöht.
Gegen diese Transformation der Bundeswehr gab
es Widerstände in der Bundeswehr. Vor allem der Inspekteur des
Heeres, Generalleutnant Gert Gudera, hat sich gegen diese Reformen
gestellt. Er war nicht damit einverstanden, dass die Hauptlast der
neuen Reformen das Heer tragen sollte. Generalinspekteur Wolfgang
Schneiderhan, der diese neue Struktur entworfen hat, weist auf die
Synergieeffekte hin, die diese Struktur bietet: Die Bundeswehr hat
nicht mehr ausreichend Personal, um jede Struktur in jeder
Teilstreitkraft abzubilden. Dass das Heer auf den ersten Blick am
meisten betroffen ist, hat seinen Grund auch in der Größe
und der bisherigen Ausrichtung der Landstreitkräfte. Das Heer
ist die größte Teilstreitkraft, damit also immer
besonders stark betroffen. Zudem war das Heer in besonders
prägnanter Weise auf die Landesverteidigung ausgerichtet, ist
gegenwärtig aber auch Hauptträger der
Auslandseinsätze. Somit ist hier auch der Umsteuerungsbedarf
am größten.
In ihrem neuen Konzept bezeichnet die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit den Worten ihres
verteidigungspolitischen Sprechers, Christian Schmidt, die
Überlegungen des Generalinspekteurs als "im Grundsatz
nachvollziehbar". Allerdings müsse zu den
Auslandseinsätzen auch ein Element der Territorialverteidigung
treten. Diese müsse mit den Einsatzoptionen im Ausland eng
verzahnt werden. Es dürfe keine "Zwei-Klassen-Armee" geben. Zu
dieser Territorialverteidigung gehören verstärkter
Objektschutz, ABC-Abwehr und die Bekämpfung militärisch
gesteuerter Angriffsobjekte. Auslandseinsätze seien für
die Bevölkerung nur dann akzeptabel, wenn die Sicherheit zu
Hause gewährleistet sei. Hauptvorwurf der Union ist es, dass
die Planung an den finanziellen Gegebenheiten, nicht an den
benötigten Fähigkeiten ausgerichtet werde.
Die neue Struktur hat auch Auswirkungen auf
die Ausrüstung der Bundeswehr. Wo immer möglich sollen
gemeinsame Plattformen für Waffensysteme genutzt werden. So
sollen zum Beispiel die Aufklärungssysteme harmonisiert
werden. Zur Zeit verfügen die Teilstreitkräfte über
unterschiedliche, zum Teil auch nicht kompatible Systeme. Weitere
Beispiele ließen sich anführen.
Ein weiterer Grundsatz der Ausrüstung
ist, dass die Soldaten sich im Einsatz möglichst sicher
bewegen können. Die persönliche Ausrüstung der
Soldaten ist somit einer der Schwerpunkte.
Dritter Grundsatz ist, dass die Bundeswehr
auf ihre aktuellen Aufgaben hin ausgerüstet werden soll. Jene
Systeme, die eher für die alten Aufgaben geeignet waren,
werden nicht mehr erneuert. Leicht verlegbare Systeme haben Vorrang
vor schwererem Gerät. Das bedeutet auch, dass die Eingreif-
und Stabilisierungskräfte eher und schneller modernisiert
werden als die Unterstützungskräfte. Sie müssen sich
im Einsatz bewähren. Die Bundeswehr will diese Umsteuerung in
der Rüstungsplanung ohne Eingriffe in laufende Verträge
vollziehen.
Bei der Rüstungsplanung muss nach
Überzeugung von Generalinspekteur Schneiderhan die Bundeswehr
nicht mehr über alle Fähigkeiten verfügen. Bestimmte
Spezialfähigkeiten könne man sich bei den
Verbündeten besorgen. Auf der anderen Seite könne auch
die Bundeswehr bestimmte Fähigkeiten, in denen sie einen
Vorsprung hat, den Bündnispartnern anbieten. So ist die
Bundeswehr zum Beispiel beim ABC-Abwehr-Schutz zusammen mit der
tschechischen Armee führend in der NATO. Obwohl die
Bundesrepublik sich am Irak-Krieg nicht beteiligt hat, standen
deutsche ABC-Abwehrtruppen während des Krieges in Kuwait, um
dort Angriffe auf die Koalitionstruppen bekämpfen zu
können. Die ABC-Truppe dort wurde während des Krieges
sogar verstärkt. Diese Form der Zusammenarbeit wird sich
verstärken, wenn sich der Trend, dass nicht alle alles haben
müssen, in den NATO-Staaten durchsetzt.
Ein weiteres Beispiel: Die Bundeswehr hat
besondere Fähigkeiten beim Minensuchen. So wurden deutsche
Minensucher nach dem Golfkrieg 1991, der der Befreiung Kuwaits
diente, im Persischen Golf eingesetzt. Auch bei der Aufklärung
und Bekämpfung gegnerischer Luftabwehr ist die Bundeswehr
führend. Die dafür vorgesehenen so genannten ECR-Tornados
wurden während des Kosovo-Krieges auch von der US-Luftwaffe
angefordert. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Minister Struck hofft, damit die
Rüstungsplanung mit dem Etat in Einklang zu bringen. Die
Lücke zwischen der bisherigen Planung und den in der
Finanzplanung vorgesehenen Mittel betrug bis 2012 rund 26
Milliarden Euro. Durch die neue Planung soll dies nunmehr abgebaut
werden.
Aus der Rüstungsindustrie wurde lobend
hervorgehoben, dass man nun Planungssicherheit habe. Die jetzige
Planung sei angesichts der Finanzausstattung der Bundeswehr
realistischer. Zwar sei die Bundeswehr immer noch unterfinanziert,
aber die Planungen seien jetzt verlässlich. Die Union
kündigte an, den Verteidigungshaushalt bei
Regierungsübernahme in mehreren Schritten um drei Milliarden
Euro zu erhöhen.
Der Auftrag, den Minister Struck dem
Generalinspekteur gab, lautete: Versöhnen Sie die Planung mit
dem Etat. Minister Struck hatte deswegen schon vorher entschieden,
dass die Personalstärke der Bundeswehr auf 250.000 Soldaten
begrenzt wird. Die anderen Maßnahmen sollen die Orientierung
an der Finanzplanung verstärken. Dieser Reduzierung der
Personalstärke geht der Union zu weit. Sie plädiert
für eine Truppe von rund 270.000 Soldaten.
Verteidigungsminister Struck kündigte
eine tiefgreifende Reform der Stationierung der Bundeswehr an. Rund
200 Standorte müssten mit der Schließung rechnen. Dabei
seien strukturpolitische Argumente nicht mehr zu
berücksichtigen. Lediglich militärische und
betriebswirtschaftliche Gründe seien gültige Kriterien.
Bis zum Jahresende soll die neue Stationierungsplanung vorgestellt
werden. Die Union plädiert dagegen für eine glaubhafte
Präsenz in der Fläche, kurze Wege und viele Standorte.
Das stärke auch das Sicherheitsempfinden der Bürger. Der
Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Gertz, der den Kurs Strucks
unterstützt, wies darauf hin, dass eine weitere
Schließung von Standorten auch die Versetzungshäufigkeit
der Soldaten reduziere.
Struck und Schneiderhan wollen an der
Wehrpflicht festhalten. Der bisherige Mix aus Zeit- und
Berufssoldaten und Grundwehrdienstleistenden habe sich bewährt
und sei auch die richtige Wehrform für die Zukunft. Rund
195.000 Zeit- und Berufssoldaten und rund 50.000
Grundwehrdienstleistende sollen die Struktur der Bundeswehr
ausmachen.
Die SPD, so kündigte Struck an, werde
nach einem Kongress zu diesem Thema im Herbst 2004 auf dem
Parteitag 2005 entscheiden, ob sie an der Wehrpflicht
festhält. Struck äußerte sich zuversichtlich, dass
er eine Mehrheit für diese Position bekommen wird. Allerdings
müsse die Bundeswehr für den Fall vorsorgen, dass die
Wehrpflicht politisch keine Zustimmung mehr erfahre. Deswegen
müsse die Struktur so ausgelegt werden, dass eine Abschaffung
der Wehrpflicht mit nur einigen überschaubaren strukturellen
Veränderungen möglich wird.
Die Union forderte eine Neubelebung der
Wehrpflicht. Die FDP forderte deren Abschaffung. Die Grünen
sehen in der Planung Strucks einen Schritt hin zu deren
Abschaffung.
Struck kündigte eine Reform der
Grundausbildung in der Bundeswehr an. Sie werde sich stärker
an einsatzorientierten Herausforderungen orientieren müssen.
Grundwehrdienstleistende leisteten heute schon wichtige
Beiträge zu den Auslandseinsätze der Bundeswehr.
Zahlreiche "freiwillig länger dienende
Grundwehrdienstleistende" sind im Ausland im Einsatz. Nachgedacht
wird auch darüber, ob Grundwehrdienstleistende auf
freiwilliger Basis in den Auslandseinsatz mitgenommen werden
können. Vor allem bei der Marine, wo Grundwehrdienstleistende
auf Schiffen und Booten eingesetzt werden, müssen eingespielte
Mannschaften auseinandergerissen werden, wenn ein Einsatzbefehl
kommt. Darunter leiden oft auch die Grundwehrdienstleistenden, die
gerade dann bei ihren Kameraden bleiben wollen.
Struck plant die Einführung einer
sogenannten Auswahlwehrpflicht. Diese schon von der
Zukunftskommission unter Richard von Weizsäcker vorgeschlagene
Reform der Wehrform bedeutet, dass nicht mehr alle Wehrpflichtigen
auch eingezogen werden. Schon in diesem Jahr sinkt die Zahl der
Grundwehrdienstleistenden. Das führte dazu, dass das
Verwaltungsgericht Köln wegen fehlender Dienstgerechtigkeit
einen Einberufungsbescheid für nichtig erklärt hat. Dies,
so Unions-Sprecher Schmidt, sei ein Warnschuss. Durch einige
Entscheidungen der letzten Zeit, etwa die Veränderung der
Einberufungskriterien, habe Struck falsche Signale gesetzt. Auch
von anderen wird die Verfassungsmäßigkeit der
Auswahlwehrpflicht angezweifelt.
In der Diskussion um die Wehrform spielte
auch die Zukunft des Zivildienstes eine Rolle. Struck wies nochmals
auf die gesetzliche Lage hin: Alle jungen Männer ab 18 Jahre
unterliegen nach dem Grundgesetz der Wehrpflicht. Der Zivildienst
ist nach dem Grundgesetz der Ersatzdienst. Deswegen können
Veränderungen nur über die Wehrpflicht eingeleitet
werden. Die vom Jugendministerium inspirierte Diskussion um eine
Abschaffung des Zivildienstes zäumt der Pferd von hinten auf:
"Gekocht wird bei der Wehrpflicht."
Eine bei Jugendministerin Renate Schmidt
angesiedelte Expertenkommission, die sich mit der Zukunft des
Zivildienstes beschäftigt hat, schlägt eine
Verkürzung des Zivildienstes auf neun Monate vor. Damit
wäre das Verfassungsgebot der "lästigen Alternative"
nicht mehr erfüllt, da beide Dienste gleich lang dauerten. Wie
auch beim Wehrdienst sollte eine freiwillige Verlängerung des
Zivildienstes ermöglicht werden.
Wie auch beim Wehrdienst wird auch beim
Zivildienst nun darüber nachgedacht, ob zivile
Fähigkeiten besser genutzt und im Zivildienst erworbene
Fähigkeiten zertifiziert werden können. Praktika vor und
nach dem Zivildienst und eine weitere Beschäftigung auf der
Basis geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse
sollen geprüft werden. Die Kommission geht aber noch weiter:
Ein Bonussystem bei der Studien- und Ausbildungsplatzvergabe sollen
eingeführt werden.
Wie auch bei der Bundeswehr soll es auch im
Zivildienst einen Auswahldienst geben. Wenn die Wehrpflicht
abgeschafft werden sollte, müsste ein Freiwilligendienst
eingerichtet werden, der Frauen und Männern aller
Altersgruppen offen steht. Auch die Einsatzgebiete sollen erweitert
werden: Neben den klassischen Bereichen Soziales, Umweltschutz und
Entwicklungszusammenarbeit sollen auch Kinderbetreuung, Schule und
Migration aufgenommen werden.
Die CDU/CSU forderte eine schnelle Beratung
des Umbaus der Bundeswehr im Parlament. Es sei nicht hinnehmbar,
dass diese so weitgehende Transformation der Bundeswehr erst der
Öffentlichkeit, dann erst dem Parlament vorgestellt werde. Die
Ankündigung von Minister Struck, im Mai eine Bundestagsdebatte
herbeizuführen, sei zu spät. Deshalb hat sie einen Antrag
unter dem Titel "Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer
verlässlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Deutschlands" in den Bundestag eingebracht. Sie fordert, die
Bundesregierung müsse zudem ein Gesamtkonzept für die
Sicherheit Deutschlands vorlegen, an dem auch andere Ressorts
beteiligt werden sollten. Ein neues Weißbuch sei dringend
nötig. Im Rahmen dieses Gesamtkonzepts müssten die
Kräfte für die äußere und innere Sicherheit eng
miteinander verzahnt werden. Die zivil-militärische
Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden müsse
gestärkt werden. Minister Struck hatte ein Weißbuch
für 2005 angekündigt, wenn die Bundeswehr ihren 50.
Gründungstag begeht.
Für die FDP erklärte der
Abgeordnete Nolting, Strucks Reform sei nur ein "kleiner Schritt in
die richtige Richtung". Es bestehe immer noch eine Diskrepanz
zwischen Auftrag, Ausrüstung und Finanzen.
Nach den Planungen des
Verteidigungsministeriums soll die Transformation der deutschen
Streitkräfte bis 2010 umgesetzt werden. Zunächst soll die
von Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) im Jahr 2000
vorgestellte Planung bis 2006 weiter umgesetzt werden. Die beiden
Planungen sollen nun schrittweise miteinander verzahnt werden. Nach
diesen Grundsatzentscheidungen müsse nun die Feinausplanung
beginnen.
Zurück zur Übersicht
|