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Keyvan Dahesch
Wenig ermutigende Bilanz des europäischen
Jahres der Menschen mit Behinderungen
Behinderte kämpfen noch immer gegen
Diskriminierung und für finanzielle Erleichterungen
Eine wenig ermutigende Bilanz des abgelaufenen, ihnen gewidmeten
europäischen Jahres 2003 (EJMB) zogen Menschen mit
Behinderungen bei einer Perspektiv-Tagung der Bundesregierung und
der nationalen Koordinierungsstelle EJMB in Berlin. Während
Belgien, Bulgarien, Holland und Spanien umfassende
Antidiskriminierungsgesetze beschlossen und England sein schon als
vorbildlich geltendes Gesetz verfeinert hätten, habe die
Bundesregierung das seit Jahren versprochene Regelwerk zur
Umsetzung des in Artikel 3 Grundgesetz garantierten
Benachteiligungsverbots von Menschen wegen ihrer Behinderung in das
Zivilrecht immer noch nicht auf den Weg gebracht, beklagten die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer unisono.
Sigrid Arnade muss oft um ihre Flugreisen kämpfen. Viele
Gesellschaften weisen die Rollstuhlfahrerin ab, weil sie keine
Begleitperson hat oder weil sie einen medizinischen Fragebogen, den
sie als unsinnig und diskriminierend ansieht, nicht ausfüllen
will. Einmal wurde die Journalistin erst mitgenommen, als sie am
Check-In um ein Telefon bat, um ihren Auftritt im Fernsehmagazin
"Panorama" abzusagen. "An Rollstuhlfahrer vermieten wir nicht",
bekam der rechts- und behindertenpolitische Sprecher der
Grünen-Landtagsfraktion in Wiesbaden, Andreas Jürgens,
bei einem bundesweiten Betreiber von Ferienwohnungen zu hören.
Einem Paar im Rollstuhl verweigerte ein Musical-Theater in Hamburg
Karten. Ohne Begleitung dürften sie nicht hinein, weil bei
einem Feuer sich niemand um sie kümmern könne. Mit ihrem
Blinden-Führhund durfte Susanne Römer in München
nicht ein Kino besuchen. Auch ihr Hinweis, dass dies beispielsweise
in England gang und gebe sei, konnte den Kinobesitzer nicht
umstimmen. Als die Vorsitzende des Forums Selbstbestimmter
Assistenz, Rollstuhlfahrerin Elke Bartz, eine Kreditkarte
beantragte, wurde sie belehrt, dass sie als Pflegebedürftige
bei einem Unfall - im Gegensatz zu nicht behinderten Karteninhabern
- keinen Anspruch auf Leistungen aus der automatischen
Unfallversicherung habe. Eine Gruppe geistig behinderter Menschen
und ihre Begleitung aus Ludwigsburg, die vom Urlaub in Barcelona
zurückfliegen wollte, wies der Pilot der Air France aus dem
Flieger, weil er sie ohne ärztliches Attest nicht mitnehmen
wollte.
Aus den zahlreich recherchierten Daten hat der
Behindertenverband "Netzwerk Artikel 3", in dem 70
Selbsthilfeorganisationen um die Verwirklichung des Satzes in
Artikel 3 Grundgesetz: "Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden" kämpfen, solche Diskriminierungen
dokumentiert und der SPD-Bundesjustizministerin Brigitte Zypries
übergeben. (Im Internet unter:
www.netzwerk-artikel-3.de/zag/009.php)
Die Belange behinderter Menschen könnten durch
Zielvereinbarungen zwischen ihren Verbänden und den
Luftverkehrsgesellschaften geregelt werden, heißt es im
Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) vom 1. Mai 2002. Doch da
sich die Unternehmen bislang um solche Vereinbarungen gedrückt
hätten, soll aus der Kann- eine Mussbestimmung werden. Obwohl
damit lediglich Empfehlungen der europäischen
Luftfahrtvereinigung von 2001 bindend gemacht werden würden,
blieben Bundestagsabgeordnete und das Verkehrsministerium die
Antwort schuldig.
Kritik bekam auch das Justizministerium ab, weil es die
EU-Antidiskriminierungsrichtlinie noch nicht in deutsches Recht
umgesetzt hat. Ob neben Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit
auch Behinderung als Diskriminierungsgrund im Gesetz genannt wird,
ist den Staaten überlassen. Ein Referatsleiter bemerkte denn
auch, behinderte Menschen trügen mit Schuld an der
Verzögerung der Umsetzung, "weil sie auch in das Gesetz
aufgenommen werden möchten". Diese von der Versammlung als
diskriminierend empfundene Äußerung bedauerte die
Sprecherin des Bundesjustizministeriums, Eva Schmierer, später
als "missverständlich".
Die Leiterin der Bahn-Kontaktstelle für Menschen mit
Behinderungen, Ellen Engel, kündigte an, ab sofort werde
Bahn-Personal ständig im Umgang mit den Schwierigkeiten
Behinderter bei Reisen geschult. Viel Verständnis, aber
ebenfalls keine Zusage erntete die Forderung, Informationen im
öffentlichen Verkehr sollten über Lautsprecher angesagt
und in gut erkennbarer Schrift angezeigt werden.
Erfahrungen gehandicapter Menschen will die Bundesregierung laut
ihrem Behindertenbeauftragten, dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karl
Hermann Haack, in einem neuen Kompetenzzentrum bündeln. Die
behinderten Menschen sollen bei der Gesetzgebung und in Gremien wie
dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen als Experten
in eigener Sache auf Augenhöhe darüber verhandeln. Haack
will auch erreichen, dass die Ministerien ihre Gesetzesvorhaben
künftig auf mögliche Auswirkungen für behinderte
Menschen überprüfen. "Sonst dürfen sie gar nicht ins
Parlament", betonte der Behindertenbeauftragte.
Eine Tendenz zur Einschränkung der Menschenwürde bei
Behinderten beklagte die Vizechefin der Bundesvereinigung
Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Ingrid
Körner. Ihre geistig behinderte Tochter, gelernte
Gastronomiehelferin, schüttele "verständnislos ihren Kopf
und winkt mit ihren Steuer- und Sozialversicherungskarten, wenn bei
Diskussionen Wissenschaftler behinderten Menschen wie ihr das
Lebensrecht bestreiten". Betroffene hätten oft den Eindruck,
sie müssten sich für ihre Existenz rechtfertigen.
"Deshalb lehnen wir alles ab, was zur Selektion und Aussonderung
dieser Menschen beitragen könnte", betonte Körner, "dazu
gehören die Präimplantations- und
Pränataldiagnostik." Jeder habe das Recht, sich ein gesundes
Kind zu wünschen. "Aber die Betonung des Rechts auf gesunde
Kinder beeinträchtigt das Lebensrecht von Kindern mit
Behinderungen", sagte Körner.
Lob für die erweiterten Rechte behinderter Menschen, deren
Einhaltung ein Ombudsmann überwacht, bekam Schweden. Dort
schickt die Regierung die auf Pflege und Assistenz angewiesenen
Menschen nicht in Heime, sondern stellt ihnen monatlich ein
persönliches Budget zur Verfügung. Damit können sie
sich ihre Hilfskräfte selbst als Arbeitgeber aussuchen und
einstellen.
In Deutschland gibt es aber, wenn etwa die Angehörigen oder
eine selbst ausgesuchte und angelernte Person in Anspruch genommen
wird, von der Pflegeversicherung bis zu 60 Prozent weniger Geld als
bei der üblichen Pflege durch ambulante Anbieter. "Wir wollen
uns aber nicht vorschreiben lassen, wann wir duschen, essen und zur
Toilette gehen sollen", sagt der seit dem 16. Lebensjahr durch
einen Unfall querschnittsgelähmte Bremer Sozialrichter und
Leiter der nationalen Koordinierungsstelle des EJMB, Horst Frehe.
Das Forum Selbstbestimmter Assistenz (ForseA) kämpft in
Deutschland für das Arbeitgebermodell nach dem schwedischen
Modell. Dadurch würden rund 500.000 steuer- und
sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen.
Diesem Anliegen tragen die Koalitionsfraktionen im Bundestag mit
den geplanten Änderungen der Pflegeversicherung und dem
bereits beschlossenen Gesetz zur Einordnung der Sozialhilfe ins
Sozialgesetzbuch ("Zwölftes Buch") aber nur scheinbar
Rechnung. Pflegebedürftige sollen Gutscheine bekommen, die sie
nur bei ambulanten Pflegediensten einlösen können.
Außerdem fallen die besonderen Einkommensgrenzen in der
Sozialhilfe weg. Behinderte bekamen bislang auch bei einem eigenem
oder elterlichem Einkommen von bis zu 1.300 Euro im Monat Hilfen
und Hilfsmittel bezahlt. Jetzt wurde die Höchstgrenze
drastisch auf 690 Euro abgesenkt, ab der sie selber teilweise oder
ganz dafür aufkommen müssen.
Die Frage ist, ob die Kosten der notwendigen menschlichen und
technischen Hilfen weiterhin der Sozialhilfe aufgebürdet
werden sollen oder ob sie nicht als eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe von allen staatlichen Ebenen gleichmäßig getragen
werden - und zwar europaweit. Das Ausland bietet freilich nicht nur
positive Beispiele,. So haben sich in Deutschland etwa blinde
Menschen in vielen Berufen bewährt. Im Richteramt haben zwei
promovierte Juristen es sogar bis in die obersten Bundesgerichte
gebracht: Der ohne Augenlicht aufgewachsene Hans-Eugen Schulze war
von 1963 bis 1986 Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Der im
Krieg erblindete Erwin Brocke wurde 1982 zum Vizepräsidenten
des Bundessozialgerichtes in Kassel berufen. Zurzeit sind 60
Richterinnen und Richter ohne Sehkraft in allen Gerichtszweigen
tätig. Auch der von Geburt an blinde Autor dieses Beitrags ist
seit 26 Jahren ehrenamtlicher Richter am Sozialgericht in
Frankfurt.
In Österreich ist jedoch Blinden eine solche Tätigkeit
wegen "mangelnder körperlicher Eignung" untersagt. Daran hat
auch der Mitunterzeichner der Proklamation des EJMB,
Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, kein Jota
geändert. Aus demselben Grund wurden in Österreich einer
gehörlosen Frau die Ausbildung zur Gebärdensprachlehrerin
und einer durch einen Autounfall querschnittsgelähmten
Religionslehrerin die Ausbildung zur Sonderschullehrerin
verweigert. Und in der reichen Schweiz lehnte die Bevölkerung
bei einer Abstimmung im Mai 2003 mit großer Mehrheit sogar
gleiche Bürgerrechte für Menschen mit Behinderungen ab.
Begründung der Gegner: Behinderte bekämen sonst kein
Mitleid.
Auf der Agenda der Behinderten-Verbände steht jetzt vor
allem ein EU-weit geltender Schwerbehinderten-Ausweis. Und
prinzipiell wird statt ausgrenzender Fürsorge die
uneingeschränkte Teilhabe gefordert, statt abwertendem Mitleid
Verständnis und völlige Gleichstellung, statt
wohlmeinender Bevormundung das Recht auf Selbstbestimmung.
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