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Hans-Peter Müller
Eine lange Tradition: der Irrglaube von der
eigenen Überlegenheit
Ethnozentrismus als Rassismus der
Gegenwart?
Das Andere denken!" Das ist leichter gesagt als getan. Wie
vieles andere auch, sind die Sozialwissenschaften ein Produkt der
Moderne, des Westens, Europas. Ist Vernunft universal oder
abhängig von Kultur und Sprachspiel? Sind alle Begriffe,
Theorien und Analysen letztlich "eurozentrisch", nur weil sie aus
Europa stammen? Und wenn schon, ist das eigentlich schlimm?
Gerhard Hauck, der diesen Fragekomplex in seinem Sammelband von
Aufsätzen aufnimmt, scheint das zu glauben. Eurozentrismus ist
eine Form des Ethnozentrismus. Nicht genug der Irrglaube, "dass die
eigene Lebensform allen anderen überlegen sei", tritt im Falle
des Eurozentrismus die Überzeugung, dass das westliche Modell
der Lebensführung qua wissenschaftlicher Vernunft
begründet besser sei und deshalb der Rest der Welt nach diesem
Modell umgeformt werden sollte. Kurz: Eurozentrismus ist die
zeitgenössische und subtile Form des Imperialismus - am
westlichen Modell der Marktwirtschaft beziehungsweise des
Weltmarktes soll die Welt genesen. Das ist eine starke und
interessante These, und man hätte anhand einer Studie
über die Wirtschaftswissenschaften, die neoliberale Ideologie,
Lehre und Forschung an den Economics-Departments in den USA und den
Rekrutierungsweisen von Weltbank und IMF etwa zeigen können,
wie ein ökonomistisches Weltbild geboren wurde, das den Westen
wie den Rest der Welt in der Folgezeit transformieren sollte.
Was hat das jedoch mit den Sozialwissenschaften zu tun, arm,
einflusslos und marginalisiert nicht nur an deutschen
Universitäten? Ohnmacht scheint nicht vor Schuld zu
schützen, denn die Soziologie hat mit den Axiomen und
Prämissen ihres Denkens einen Anteil am eurozentrischen
Superioritätshabitus. Um diesen Vorwurf zu untermauern, spannt
Hauck einen weiten Bogen auf, indem er Naturalismus und
Evolutionismus als zwei zentrale Ingredienzen des Eurozentrismus
identifiziert und kritisiert. Er reicht vom Positivismus in der
Soziologie von Comte bis Durkheim über rassistische
Denkfiguren in der Ethnologie, die aristokratische
Gesellschaftstheorie des Wilhelm Mühlmann, die
Modernisierungstheorie bis hin zur Frage "Universelle Vernunft"
oder "Inkommensurabilität der Sprachspiele", dem Naturalismus
der empirischen Sozialforschung und dem anti-evolutionistischen
Evolutionismus von Niklas Luhmann. Das ist in der Tat ein weites
Feld.
Was sich auf Anhieb vielleicht wie ein holzschnittartiges und
politisch korrektes Buch ausnimmt - "wohlfeil kritisch" - erweist
sich bei der Lektüre der einzelnen Aufsätze als
anregende, analytisch präzise und dezidiert kritische Studie.
Hauck ist ein Meister in der Art und Weise, wie er komplexe und
lang anhaltende Diskussionen auf die zentralen Fragen
zurechtstutzt, die entscheidenden Argumente systematisch versammelt
und dann zu einem pointierten Urteil kommt. Ein Beispiel zur
Illustration: In "Vom ‚faulen Neger' zum ‚Egoismus der
Gene'" weist er auf die Korrelation zwischen Gesellschafts- und
Denkformen in der Ethnologie der letzten 100 Jahre hin.
Die Wissenschaft, welche den Blick auf "die Anderen"
professionell auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist auch nicht vor
den Fallstricken des kolonialen Blicks gefeit. In der Phase des
kolonialen Hochkapitalismus herrschte die Vorstellung vor, dass der
"Neger" zu selbständiger und kontinuierlicher Arbeit nicht
fähig sei und deshalb der "Anleitung durch Weiße"
bedürfe, was Hauck an den Arbeiten von Eugen Fischer, Leo
Frobenius und Richard Thurnwald exemplifiziert. Nach dem Zweiten
Weltkrieg stand die "Entwicklung" der Dritten Welt auf der
Tagesordnung. Statt direktem Zwang setzte man auf Kapitalhilfe ohne
Verzicht auf den westlichen Führungsanspruch, was Hauck an den
Überlegungen von Bronislaw Malinowski zeigt.
Der Rassismus der Gegenwart schottet die Menschen aus der
Peripherie vor der Wohlfahrt der Menschen in den Kernregionen ab
und kleidet seinen Anti-Assimilationismus sogar in Kategorien des
kulturellen Pluralismus, also einer benevolenten Kultur der
Differenz und Alterität, was Hauck an der Soziobiologie eines
Eibl-Eibesfeldt diskutiert. Belesenheit, Souveränität im
Stoffumgang, unaufgeregte Sprache und verständlicher Stil
machen das Buch des Soziologen und Ethnologen zu einer Fundgrube
der Kritik am Westen. Der Eurozentrismus, roter Faden und
Kritikmaßstab zugleich, leitet die Analysen an, dominiert sie
aber nicht. Selbst wenn man diesen Vorwurf nicht
uneingeschränkt teilt, werden Fachleute wie Laien seine
Überlegungen mit Gewinn lesen. Hans-Peter Müller
Gerhard Hauck
Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes. Wider den
Eurozentrismus der Sozialwissenschaften.
Westfälisches Dampfboot, Münster 2003; 209 S.,
20,50 Euro
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