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Jürgen Lodemann
Erinnerungen an die wilhelminische "Verbreitung
deutschen Wesens"
Die Deutsche Bahn will beim Bau der Bagdadbahn
kooperieren
Kürzlich versprach Bahnchef Mehdorn in Ankara, der
Türkei beim Wiederaufbau der berühmten Bagdadbahn helfen
zu wollen. Die legendäre Bagdadbahn zu reaktivieren, scheint
nicht nur eines der Signale zu sein für ein erweitertes
liberales Europa und für eine Brücke zur islamischen
Welt: Mit dieser Bahn verbinden sich auch Erinnerungen an den
Beginn der europäischen Übel im 20. Jahrhundert, diese
Bahn gehörte zu den frühen Ursachen des
Doppelweltkriegs.
Die Idee, eine Bahn zu bauen, die nicht nur wie der
"Orient-Express" bis nach Istanbul fuhr, sondern tief in den Orient
hinein, reicht zurück in die europäischen
Machtverteilungen des 19. Jahrhunderts, in das Aufstreben des
Wilhelminismus. In Deutschland jedenfalls wurden diese Pläne
von denkwürdigen Kommentaren begleitet. Das Auswärtige
Amt in Berlin bekundete, da ginge es nicht nur um die
Erschließung neuer "Absatzgebiete", sondern auch um "die
Verbreitung deutschen Wesens". Ein Siegmund Schneider erklärte
1904 in seinem Werk "Die deutsche Bagdadbahn": "Kaum 30 Jahre,
nachdem der Suezkanal Gottes Schöpfungswerk verbessert hat,
ist dies wiederum revolutionierend, die Wiedergewinnung des Weges
nach Indien durch den modernen Lokomotivbetrieb. Ob Türke oder
Christ, jeder fühlt instinktiv, dass das Bestehende im Oriente
nur wert ist, dass es zugrundegeht."
Anatolien sollte von deutschen Bauern zur blühenden
Landschaft kultiviert werden, gegen "alles Mohamedanische". Kaiser
Wilhelm II., der damals Jerusalem besuchte und sich als "Kaiser von
Palästina" feiern ließ, ging es auch um jene Bahn, die
über das Heilige Land und Bagdad hinaus bis nach Indien
reichte. Schon in ihm rumorten Ideen vom arischen Großreich.
Türkenbeherrscher Sultan Abdul Hamud erklärte, er sei
"mit dem deutschen Kaiser der Überzeugung, dass allein die
Religionen die Grundlagen des Gehorsams und damit des Glücks
der Völker sind".
Im September 1900 befahl der Kaiser den Bau. Geld und Logistik
organisierten Siemens und die Deutsche Bank, die Bauausführung
lag bei Philipp Holzmann. Franzosen, Engländer und Russen
beobachteten das Unternehmen mit Misstrauen, das Reich jedoch sah
sich als Weltmacht, die nicht nur zur See, sondern nun auch zu
Lande über sich hinaus wuchs. D.H. Lawrenz schildert
anschaulich, wie er als Spion den Brückenbau der Deutschen am
Euphrat beobachtet und verspottet.
Früh und wild wurde da geträumt, auch in einem
Lexikon, und schon von "Anschluss". Aber die "Lücke im Taurus"
hatte es in sich. Das war eine schwierige Passage und obendrein
machten nun die "Jungtürken" Probleme. Es wurde gestreikt
"für menschlichere Behandlung" der Arbeiter. "Wir stehen vor
Umwälzungen", schrieb ein Pfarrer in die Heimat. Der Mann
sollte Recht behalten: Es kam der Weltkrieg, der Bahnbau stagnierte
und erst 1940 fuhr ein Express durchgehend bis Bagdad. Die
französische Schlafwagengesellschaft "Wagon Lit" bot viel
gelobten Service, aber der neue Krieg beendete auch diese kurze
Blütezeit.
Wer heute die Strecke finden und fahren will, muss
Regionalzüge kombinieren. Ich habe das fürs Fernsehen
gefilmt und beschrieben*). Wer die Türkei jenseits von
Istanbul und Strand-Tourismus kennenlernen will, dem sei diese
Fahrt sehr empfohlen. Man durchquert eine faszinierende Landschaft,
nicht nur den Taurus, findet Reste uralter Kulturen - zum Beispiel
eine der ältesten menschlichen Siedlungen überhaupt,
Chatalhuejuek - und berührt im Inneren des anatolischen
Hochlands die Millionenstadt Konja, Wallfahrtsort und Zentrum eines
Islam der Weisheit und der Toleranz.
Die Bahn fährt über eine einmalige historische
Strecke. Kreuzritter, nachdem sie Byzanz erobert hatten, zogen dort
entlang. Die Strecke beginnt in Istanbul auf der asiatischen Seite,
im Bahnhof Haidarpasha und nutzt zunächst die Linie, die
Istanbul mit Ankara verbindet. Mit wechselndem Panaromablick folgt
der Zug der Küste des Marmarameers, die Strecke ist hier
doppelspurig, elektrifiziert und führt schon jetzt von Ort zu
Ort an antike Stätten: zu den Grabmalen Belizars oder
Hannibals, berührt Hereke, wo Konstantin der Große starb,
und das antike Nikodemia, heute Izmit.
In Izmit fährt die Bahn auf einem belebten Boulevard
über einen kaum abgesicherten mittleren Grünstreifen.
Hinter Izmit aber verlässt sie die Strecke nach Ankara und
steigt einspurig bergauf durchs breite Tal des wasserreichen
Sakkariastroms. Bei Eskeshehir kommt der Zug in gut 1.000 Metern
Höhe auf die weite Hochfläche Anatoliens, wo ebenfalls
für Modernisierungen genügend Platz wäre in einem -
auch ohne deutsches Bauernwesen - blühenden, ertragreichen und
schönen Agrarland. Der zweite europäische Kreuzzug,
(1147-1149) scheiterte hier.
Heutzutage kann es durchaus sein, dass der Diesel die steile
Strecke nach Eskeshehir nicht schafft, weil die Schienen feucht
sind und rutschig oder zu viele Tonnen hinten angehängt
wurden, wenn wieder einmal militärisches Gerät ins
Kurdische transportiert werden soll.
Um so angenehmer nun aber die Weite und Schönheit der
anatolischen Ebene. Hier sind die Bahnhofshäuschen
"ordentlich" deutsch gemauert, just so wie auf der
Schwarzwaldstrecke zwischen Offenburg und Konstanz. Die Bahn
passiert in rund 1.000 Metern Höhe pittoreske Felsenwohnungen,
so wie sie Karl May in seinem Kara-Ben-Nemsi-Buch "Von Bagdad nach
Stambul" beschrieb. Mag sein, der Autor hatte seine Kenntnisse von
jenen, die als Ingenieure die Trasse schon bereist und vermessen
hatten.
Auf der Hochebene kommt man zur alten Handelsstadt Afyon mit
seiner mittelalterlichen Altstadt am felsigen Burgberg. Afyon ist
Zentrum des Anbaus von Mohn und "Afyon" heißt denn auch
"Opium". Alsdann folgt zum Beispiel die Station "Cay" ("Tee") mit
einem Bahnhof, dessen Inneneinrichtung noch aus wilhelminischen
Zeiten stammt und wo freundliche Beamte mahnen, man solle hier
nicht versäumen, Marco Polos Straße zu besuchen, Reste
der alten Seidenstraße. Die sind in der Tat eindrucksvoll.
Eine bogenreiche Brücke aus großen schwarzen und
weißen Marmorblöcken führt über ein sumpfiges
Gelände, die marmornen Steine zeigen immer wieder antike
Gravuren, auch Kreuze. Hier wurden offensichtlich
frühchristliche Baureste genutzt, um eine Handelsstraße
zu befestigen. Darüber klagte vor 1914 auch die Bauverwaltung
der Bagdadbahn: Die türkischen Bauern, aufgefordert, Material
für den Trassenbau zu liefern, brachten immer mal wieder Reste
aus "antiken Ruinen". Viele Schichten Geschichte berührt diese
Bahn und zeugt doch auch vom Modernisierungswillen des
Türkeigründers Atatürk, der erklärte:
"Eisenbahnen garantieren den Weg in die Zivilisation." An einem
grünen Hügel sieht man eine Schrift, ausgelegt mit
weißen Steinen ins Grüne: "Oku Okut", frei
übersetzt: "Lernt und lehrt lesen."
Bei einem Halt auf freier Strecke mischt sich auf unserem
Tonband das Hupen der Lok mit dem Gesang der Nachtigallen. Hier
oben, so höre ich von den mitteilsamen Fahrgästen, habe
sich nach der Sintflut Noah niedergelassen und habe Konja
gegründet. In Konja lockt das Kloster der tanzenden Derwische.
Von Atatürk als Museum gedacht, ist es heute der Wallfahrtsort
eines Islam der Freundschaft und der Weisheit, gegründet im
13. Jahrhundert vom Liebesmystiker Mevlana: "Links und rechts von
uns hat die Trennung Fallen gestellt. Du Mensch, du bist das Buch
Gottes. Was du suchst, liegt in dir. Ob du Jude bist oder
Muselmane, ob Brahmane oder Christ, unsere Tür ist offen
für alle."
Südlich Konja ist links ein unscheinbarer grüner
Hügel, und wie wohl alle sanften Hügel in dieser Ebene
birgt auch er eine alte Siedlung, in diesem Fall die älteste,
Chatalhuejuek, wo man die berühmte "Urmutter" fand, mit
großen Brüsten und schweren Hüften. Ab Eregli nimmt
die Bahn entschlossen Kurs nach Süden, in den alpenhohen
Taurus hinein. Die Strecke wird nun abenteuerlich, "die Wände
der engen Schlucht stiegen steil an" (Karl May). In einem Seitental
ertrank hier am 10. Juni 1190 beim Baden Kreuzfahrer Friedrich I.,
genannt Rotbart oder Barbarossa, und oben in den Bergen, erreichbar
nur über die Bahn, finden wir eine 104-Jährige, die noch
Erinnerungen an die Bahnbauer hat. Sie und ein anderer Alter
erzählen, wie hier das 20 Kilometer lange Tunnelsystem
entstand, wie da von beiden Seiten eine deutsche Ingenieurin und
ein Ingenieur aufeinander zu hacken und arbeiten ließen und
dass die beiden sich erst heiraten wollten, wenn sie einander im
Berg exakt getroffen hätten. Sieben Jahre habe das gedauert.
Und auch von Anton, dem Maschinisten, erzählen sie, der als
erster über die riesige Brücke gefahren sei, weil sein
türkische Kollege sich geweigert habe. Anton dagegen habe auf
die Einweihungsfahrt sogar seine Familie mitgenommen. Von dieser
Brücke sei beim Bau ein Deutscher abgestürzt und habe
noch im Todessturz "Aufgepasst" geschrien, "Warda!". Seitdem
heißt dieses imposante Bauwerk "Warda-Brücke".
In einsamer Taurushöhe finden wir Ruinen von
Steinhäusern. Ein Krankenhaus hätten die Deutschen sich
gebaut, höre ich, auch ein Restaurant und ein Kino. "Nur die
Deutschen durften da hinein", die hätten gelebt "wie im
Paradies", erzählt man uns.
Vom Taurus führt die Strecke hinunter zur Großstadt
Adana. Die Bahn hält hier immer einen Abstand von 50
Kilometern zum Mittelmeer - geschützt vor den
Schiffsgeschützen der englischen Flotte. Hinter Adana geht es
durch ein gut bewässertes Tiefland, Baumwollfelder, viele
Burgen stehen hier. Gebaut für die Kreuzritter? Oft haben sie
nicht einmal Namen und niemand hier weiß mehr, warum hier all
diese Burgen stehen. Dann wieder ein schwieriger Anstieg, diesmal
nach Ost-Anatolien. Per Bahn fährt man in drei Tagen von
Istanbul bis an die irakische Grenze. Ein Bus schafft die Strecke
in zehn Stunden, ist aber auch zehnmal so teuer.
In Gazianthep ein labyrinthischer Bazar. Der Millionär
Sabanci erklärt uns, warum er nie mehr Bahn fahre und die Bahn
nie mehr als Transportweg nutzen werde: Die biete keinen Service,
und drei Tage, das sei einfach zu langsam. Hinter Gazianthep
Wüstenlandschaft, immer biblischer und immer kurdischer wird
das hier. Unter Lehmkuppeldächern kühle Wohnungen, und
dann, am breiten Euphrat, wo man die ältesten Schriftzeichen
fand, ein 3.000 Jahre alter Wachhügel über der
versunkenen Hauptstadt der Hethiter. Die Bahn quert unter dem
Hügel den Strom und fährt, von nun an militärisch
bewacht, an den Grenzen Syriens und Iraks entlang, bis Urfa.
Früher ging es schon über Aleppo nach Syrien, aber die
Unruhen, die Kurden, die Politik.
Als moderne Schnellbahn mit regionalem Ausbau würden nicht
nur Tourismus und Ökonomien blühen, sondern sie wäre
eine wunderbare Hilfe bei der Annäherung der Türkei an
den Westen, so wie Atatürk sie erstrebte und wie das ein von
Karl May gerügter "Pharisäerhochmut" blockiert hat, jene
"Trennung", die uns laut Mevlana "Fallen stellt". Jürgen
Lodemann
* Den 60-Minuten-Film "Die Bagdadbahn" (1987) gibt es als
VHS-Video beim SDR Baden-Baden/Stuttgart, das gleichnamige Tagebuch
der Filmreise, mit Karte und Fotos, bei der edition isele,
Eggingen, beides vom Autor des Artikels.
Jürgen Lodemann ist Schriftsteller und zurzeit Writer in
Residence an der University of Florida.
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