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Stefan Laurin
300.000 Deutsche arbeiten schon unter einem
türkischen Chef
Die Businessmen vom Bosporus
Ob in Gelsenkirchen-Ückendorf,
Berlin-Kreuzberg oder im Frankfurter Gutleutviertel:
Türkisches Unternehmertum prägt ganze Stadtteile. Doch
längst gibt es türkische und türkischstämmige
Geschäftsleute, die mehr wollen, als Döner zu servieren
und preiswertes Gemüse zu verkaufen.
Esref Ünsal ist nicht zufrieden: "Die
Lohnnebenkosten sind zu hoch und gefährden unsere
Wettbewerbsfähigkeit. Wenn sich in dieser Beziehung nichts
ändert, sind wir nicht mehr wettbewerbsfähig, vor allem,
wenn am 1. Mai die EU erweitert wird." Der Standort Deutschland hat
für den Chef eines Düsseldorfer Bauunternehmens mit
Tochterfirmen in der Türkei nur eine Chance, wenn das Land
bereit ist, sich zu wandeln: "Wir müssen mehr arbeiten und
neuen Technologien gegenüber offener werden. Ich hoffe, dass
Deutschland das erkennt. Ansonsten wird der Wohlstand, an den wir
uns gewöhnt haben, nicht zu halten sein."
Der 60-jährige Diplomingenieur, der 1961
zum Studium nach Deutschland kam, ist Chef eines europäischen
Unternehmerverbandes. ATIAD e.V. vertritt die Interessen
türkischer und türkischstämmiger Unternehmen, und
die meisten von ihnen haben ihren Sitz in Deutschland: Von 80.000
Unternehmen innerhalb der Europäischen Union, die von
Türken geführt werden, sind 60.000 in Deutschland
tätig. Und zu den Problemen, über die sich alle
Unternehmer beklagen, kommen noch spezifische hinzu: "Wenn sie mit
einem türkisch klingenden Namen zu einer Bank gehen und
über die Finanzierung von Projekten reden wollen, können
Sie das vergessen." Nur ein Prozent aller türkischen
Unternehmer verfügen beim Start über die
Unterstützung einer Bank. Das hat zwar, so Ünsal, den
Vorteil, dass die Unternehmen nicht mit Schulden starten, bedeutet
aber auch, dass vielen wegen der eklatanten Unterkapitalisierung
schnell die Luft ausgeht. Der Kapitalmangel sei auch ein Grund
dafür, dass viele Türken sich in Branchen
selbstständig machen, die nur geringe Investitionen
benötigen: "Einen Döner-Imbiss oder eine Schneiderei zu
eröffnen", so Ünsal, "ist mit wenig Kapital einfacher,
als einen Handwerksbetrieb aufzubauen oder im produzierenden
Gewerbe Fuß zu fassen."
Für Recep Keskin gibt es noch weitere
Gründe für die Probleme türkischer
Selbstständiger: "Viele Türken sind schlecht qualifiziert
und gründen aus der Arbeitslosigkeit heraus. Die Quote der
türkischen Abiturienten und Studenten liegt weit unter der von
anderen Ausländergruppen wie beispielsweise der Griechen.
Darin spiegeln sich die Probleme des Bildungsstandortes Türkei
wieder." Wie könnten, fragt Keskin, Eltern ihren Kindern in
Deutschland bei den Schulaufgaben helfen, die in der Türkei
gerade einmal ein paar Jahre eine überfüllte Grundschule
besucht hätten?
Positivere Einstellung
Doch auch nach allen Problemen ist Recep
Keskin optimistisch, was die Perspektiven
türkischstämmiger Unternehmer in Deutschland betrifft:
"Langsam, aber sicher werden sie zu einem immer wichtigeren
Wirtschaftsfaktor und engagieren sich in immer mehr Branchen."
Längst gäbe es zahlreiche türkische Anwälte,
Designer und sogar Eisdielenbesitzer. "Wie alle
Südeuropäer haben auch Türken eine viel positivere
Einstellung zur Selbstständigkeit als die meisten Deutschen.
Für viele von ihnen ist es ein Traum, der eigene Chef zu sein
und ein Unternehmen aufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind
sie auch bereit, für viele Jahre auf vieles zu verzichten,
Risiken einzugehen und sehr hart zu arbeiten. Das sind
Eigenschaften, die Deutschland braucht, um wirtschaftlich wieder
nach vorne zu kommen, und die die Deutschen von uns
Südeuropäern übernehmen sollten." Keskin selbst ist
Inhaber des Betonfertigteilwerks Mark. In das Unternehmen mit
Stammsitz in Gevelsberg ist der Bauingenieur, der auch eine
Professur an der Hochschule Anhalt in Dessau hat, Ende der
80er-Jahre eingestiegen.
Aus einem Kleinbetrieb mit sechs Mitarbeitern
ist mittlerweile ein mittelständisches Unternehmen mit mehr
als 150 Mitarbeitern und einem Zweigwerk in sachsen-anhaltinischen
Gommern geworden. "Ich kam Mitte der 90er nach Gommern, um dort zu
investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Das schützte
mich allerdings nicht vor der massiven Ausländerfeindlichkeit,
die ich nirgendwo so deutlich gespürt habe wie in den neuen
Ländern." Dort hätte man sich zwar über sein Geld
gefreut, ihn aber auch spüren lassen, dass man einen
Türken als Chef nicht akzeptieren würde. Mittlerweile hat
sich Keskin weitgehend aus Gommern zurückgezogen. Auch Esref
Ünsal bestätigt, dass der Osten nicht nur für
türkische Unternehmer ein schwieriges Terrain ist: "Niemand
investiert, wo es für ihn gefährlich sein kann, abends
auf die Straße zu gehen." Ausländerfeindlichkeit
gäbe es zwar immer wieder und sie wäre auch in
Westdeutschland ein Problem. Aber: "In den neuen Ländern ist
sie deutlich stärker."
Immerhin 300.000 Deutsche arbeiten
mittlerweile für Unternehmen, deren Chef Türke ist, und
ihre Zahl könnte noch deutlich steigen. "Wir schätzen",
so Ünsal, "dass die Zahl der deutschen Beschäftigten bis
2010 auf eine halbe Million steigen kann, wenn sich das
wirtschaftliche Klima nicht eklatant verschlechtert." Auch eine
europäische Perspektive gehört zu den Grundlagen, die
für die Zukunft türkischer Unternehmer wichtig sind.
"Viele Deutsche lassen sich einreden, dass nur ungebildete Bauern
aus Anatolien kommen, wenn die Türkei in die EU aufgenommen
wird, und die dann nichts Besseres zu tun haben, als die deutschen
Sozialsysteme zum Zusammenbruch zu bringen," beschreibt Esref
Ünsal die Sicht vieler Deutscher. "Wenn die Türkei der EU
beitritt, wird es noch lange dauern, bis die Türken in den
vollen Genuss der Freizügigkeit kommen. Aber von Anfang an
werden sich türkische Unternehmer in Deutschland engagieren.
Davon werden Deutschland und die Türkei gleichermaßen
profitieren." Im Augenblick sei es auch für türkische
Unternehmer problematisch, sich in Deutschland zu engagieren: "Ich
kenne Fälle, wo ein türkisches Unternehmen in Deutschland
investierte, die Manager aber kein Visum bekamen, um sich ihren
Betrieb anzuschauen."
"Die Türkei würde der EU dabei
helfen, den gesamten mittelasiatischen und nahöstlichen Markt
zu erobern. Das sind Chancen, die sich Europa nicht entgehen lassen
darf." Sollte sich jedoch herausstellen, dass die Türkei keine
Chance hätte, in die EU aufgenommen zu werden, würde dies
das unternehmerische Engagement vieler Türken massiv
dämpfen. Esref Ünsal: "Man gründet kein Unternehmen
an einem Ort, an dem man nicht gewollt ist."
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