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Olaf Neumann
Wird Türkpop-Idol Tarkan der erster Weltstar
der Türkei?
Mit Provokationen und orientalischen Melodien
zum Aushängeschild
Das pfälzische Kreisstädtchen Alzey
ist ein Hort deutscher Beschaulichkeit. Neben einer Nervenklinik
wartet der Ort mit einem Antoniterkloster, historischem Museum,
Kleinstkunstbühne, Theater und zwei Kinos auf. Nachtleben?
Über das Autobahnkreuz Alzey gelangt man schnell nach
Kaiserslautern, Darmstadt oder Frankfurt. Mitten im "Herzen des
Weinparadieses Rheinhessen" erblickte Tarkan Tevetoglu am 17.
Oktober 1972 das Licht der Welt.
Da hatte er bereits fünf Geschwister.
Wie fast alle in Alzey besucht auch der junge Deutsch-Türke
das Gustav-Heinemann-Schulzentrum, nicht gerade eine Kaderschmiede
für Karrierekids. Zumal wenn man wie der 14-Jährige die
Schule ohne Abschluss verlässt. Doch der Vater hatte das
musikalische Talent seines Jüngsten längst erkannt. "Ich
mache einen Star aus dir", prophezeit er dem Teenager mit dem
auffälligen Ohrring und der modischen Kleidung bei der
Übersiedlung der Familie in die Türkei.
In der neuen alten Heimat ermöglicht er
dem Sohn ein Gesangsstudium an der Musikhochschule in
Karamürsel, anschließend verdient sich der
frischgebackene Künstler seine Sporen mit Coverversionen der
Gipsy Kings und des RAI-Stars Khaled in Bars, Clubs und bei
Hochzeiten. Sein Ziel: zurück nach Deutschland. Alles
ändert sich, als der Musikproduzent Mehmet Sögütoglu
auf das Nachwuchstalent aufmerksam wird. Auf einmal hat der
21-Jährige einen Vertrag mit Istanbul Plak, einer der
erfolgreichsten Plattenfirmen der Türkei, in der Tasche. Und
dann nimmt ihn auch noch die legendäre Pop-Queen Sezen Aksu
unter ihre Fittiche!
Der Aufstieg des soften Rebellen mit dem sexy
Hüftschwung und den eindeutigen Texten fällt in eine
Zeit, in der die stellenweise noch sehr konservative Türkei
den Pop entdeckt. Im Zuge der Privatisierung der Medien Anfang der
90er-Jahre bekommt sogar MTV einen Sendeplatz im türkischen
Fernsehen, allerdings bevorzugt der Musikkanal ganz klar junge
einheimische Künstler gegenüber den englischsprachigen.
Tarkan, der die Mechanismen des Pop schnell begriffen hat,
profitiert von dieser Entwicklung. Weil er in Deutschland
aufgewachsen ist, genießt er in der strengen Türkei mehr
Freiheiten.
Auch wenn seine Songs niemals politisch sind
und meist nur von den Freuden und Leiden der Liebe handeln, sind
sie unterschwellig eine Provokation, denn Sex gilt in der
türkischen Musik immer noch als Tabu. Vor allem aber
drücken seine Songs eine kulturelle Identität aus.
Kreischende Mädchen bei Pop-Konzerten - das hatte es bisher
noch nicht gegeben; aber nicht nur weibliche, auch schwule Fans
sind begeistert. Denn Tarkan präsentiert einen neuen Typ Mann:
Dieser schaut sich lieber Ausstellungen als Fußballspiele an,
rasiert sich die Brusthaare und pflegt sich mit teuren Produkten.
Männer, die ihre weibliche Seite ausleben, werden heute als
metrosexuell bezeichnet. Dabei geben sie keineswegs das
Klischeebild eines Homosexuellen ab. Ihre sexuellen
Präferenzen stehen außer Frage: Sie wollen Frauen. Schwul
leben, aber nicht schwul sein, lautet die Devise der neuen
Zeit.
In einer vorwiegend muslimischen Gesellschaft
ruft solch eine eigenwillige Körpersprache zwangsläufig
gespaltene Reaktionen hervor. Dennoch verkauft sich Tarkans
Debütalbum "Yine Sensiz" ("Wieder ohne Dich") 1993 700.000
Mal, nur ein halbes Jahr später geht der Nachfolger
"Acayipsin" ("Du bist umwerfend") zwei Millionen Mal über den
Ladentisch, 800.000 Fans besuchen 1995 die ausverkaufte
Stadientournee durch 26 türkische Städte. Bei der
anschließenden Stippvisite in Deutschland muss der
Zurückgekehrte überrascht feststellen, dass man seinen
eingängigen Orient-Pop auch hier zu schätzen
weiß.
Tarkan, der Medienliebling. Als erster
einheimischer Mann schafft er es auf die Titelseite der
türkischen Ausgabe des "Cosmopolitan", seine Liaison mit der
Herausgeberin Elif Dagdeviren sorgt gleichzeitig für
Zündstoff und widerlegt die Gerüchte über seine
angebliche Homosexualität. 1995 ist der Wirbel um seine Person
so groß geworden, dass der Sänger schließlich nach
New York flieht. Wohl auch, weil er keine Lust verspürt, sich
zum Militär einziehen zu lassen.
Lieber studiert er in Manhattan am Brauch
College und arbeitet an seinem dritten Album, das 1997 unter dem
Titel "Olurum Sana" ("Ich bin verrückt nach Dir") erscheint,
sich 3,5 Millionen Mal verkauft und von einer umfangreichen
Europatournee mit Gastspielen im Londoner Hippodrome, im Pariser
Bataclan und in der Arena Berlin flankiert wird. Da es in der
Türkei unter Strafe steht, sich vor dem Militärdienst zu
drücken, kann der Star nun dort nicht mehr
auftreten.
Umso größer die Nachfrage in
Deutschland, wo die Türken der zweiten Generation ein neues
Selbstbewusstsein entwickelt haben. Ihnen bietet Tarkan ein
begehrtes Identifikationsmodell zwischen Tradition und Moderne,
seine sinnliche Musik hilft, das deutsch-türkische
Verhältnis zu entkrampfen. Das Knutsch-Lied "Simarik" ("Ein
Kuss") mit seinen eindeutigen sexuellen Anspielungen wird 1999 zum
erfolgreichsten türkischsprachigen Song aller Zeiten. Die
englische Version des Songs aus der Feder von Sezen Aksu verhilft
gleichzeitig auch der australischen Sängerin Holly Valance zum
internationalen Durchbruch.
Ein Jahr später beherrscht Tarkan schon
wieder die Schlagzeilen in der Türkei. Diesmal allerdings aus
einem ganz anderen Grund: Er soll endlich seinen Wehrdienst
leisten, aus Sicht vieler Türken eine "überfällige
Schuld". Nachdem er sich zuerst weigert, kommt ihm schließlich
eine überraschende Änderung des Militärgesetzes
zugute. Der Künstler kann den Dienst an der Waffe von 18 auf
einen Monat verkürzen, das kostet ihn umgerechnet 7.500 Euro.
Trotz seiner freiwilligen Rückkehr wird er vorübergehend
wegen Desertation festgenommen.
Die Verwandlung in einen Soldaten wird
schließlich zu seinem bisher größten Tabubruch. Der
Sänger lässt sich den militärischen Kurzhaarschnitt
während eines Konzertes vor versammeltem Publikum verpassen,
tauscht seine auffallend bunten Bühnenklamotten gegen eine Art
Uniform ein und führt so einen ungehemmten Tanz auf. Ein
Schock für die Reaktionäre im Publikum. Sieht so die
Imagekampagne eines Pop-Rebellen aus? "Ich denke nicht, dass es
meine Mission ist, Tabus zu brechen. Das ist einfach nur meine
Art", sagt der ambitionierte Barde mit der Bilderbuchkarriere in
einem Interview mit der taz. Zudem geht er mit politischem
Engagement äußerst vorsichtig um. Denn das kann unter
Umständen die Karriere kosten. Sein Kollege Zülfü
Livaneli weiß davon ein Lied zu singen. Zur Versöhnung
feuert Tarkan dann 2002 das erfolgreiche "Halbmond-Team" mit seinem
WM-Song "We Will Be United For You" an. Einige Zeit zuvor hat er
eine beträchtliche Summe an die Opfer der Erdbebenkatastrophe
in Izmit gespendet.
In der Zwischenzeit hat auch der Musikkonzern
Universal das Potenzial des Popidols entdeckt und
veröffentlicht ein Album für den internationalen Markt
mit seinen besten Songs in türkischer Sprache. Die Amerikaner
sehen in dem Sänger, der das Spiel mit Identitäten und
provokanten Aktionen perfekt beherrscht, einen neuen Ricky Martin.
Mit seinem individuellen Look, eine Mischung aus 70er-Jahre-Rock-
star und modernem Hipster, trifft Tarkan scheinbar den Nerv der
Zeit. Als Model in der Pepsi-Werbung hat er Michael Jackson, Ricky
Martin, Madonna und Robbie Williams bereits
abgelöst.
Auch Ahmet Ertegun, der
türkischstämmige Gründer der berühmten
US-Plattenfirma Atlantic Records (Led Zeppelin, Rolling Stones,
AC/DC, Abba, Kid Rock, Craig David, The Darkness), prophezeit
seinem Landsmann eine Weltkarriere. Deshalb hat er sich die Rechte
an allen zukünftigen englischsprachigen Alben gesichert. Sein
Schützling hat die seltene Gabe, ethnische Grenzen zu
überschreiten. Er bringt orientalische Melodien, Instrumente
und Harmonien mit Pop-Rhythmen in Einklang und zaubert daraus eine
Musik, die auch Leute berührt, die kein Wort Türkisch
sprechen. Als ob die Welt nur darauf gewartet hätte,
führt seine bisher letzte CD "Dudu" ("Frau") 2003 die
Hitlisten in Venezuela, Puerto Rico und Mexiko an, auch in Amerika
und Japan steigt die Nachfrage kontinuierlich. Noch in diesem Jahr
will der Kosmopolit mit dem mediterranen Charme sein erstes Album
in englischer Sprache herausbringen. Damit ist Tarkan Tevetoglu auf
dem besten Weg, auf der ganzen Welt die Türen für
Popmusik aus der Türkei zu öffnen. Der Halbmond ist
aufgegangen.
Olaf Neumann ist freier Musikjournalist und
lebt in Hannover.
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