Karlheinz Lau
Ein traumatisches Erlebnis
Das Thema Vertreibung bleibt virulent
Die bis heute wichtigste Dokumentation über
Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ist vom
Vertriebenenministerium der Bundesrepublik zwischen 1953 und 1962
herausgegeben worden. Das fünfbändige Werk wurde von
Theodor Schieder wissenschaftlich bearbeitet. Es sind oft
erschütternde Berichte von Augenzeugen über ihre
Erlebnisse, handelt es sich doch um eine Dokumentation der eigenen
Verluste und Leiden.
Seit 2000 wird dieser - offiziellen -
deutschen Publikation eine Dokumentation aus staatlichen polnischen
Archiven gegenübergestellt. Verantwortlich dafür sind der
Deutsche Hans Lemberg und der Pole Wlodzimierz Borodziej. Ziel
dieser Arbeit ist eine Gegenüberstellung der deutschen und der
polnischen Perspektive mit einer erneuten Reflexion über die
Vertreibungen (siehe auch "Das Parlament" vom 3. Mai
2004).
In Deutschland ist eine große Zahl von
Berichten und Erinnerungen über Flucht und Vertreibung
erschienen. Bekannte Namen wie Gräfin Dönhoff oder
Christian von Krockow sind zu nennen, aber auch zahlreiche weniger
bekannte Autoren wie die ostpreußische Pfarrersfamilie
Terpitz. Der Behauptung kann nicht zugestimmt werden, dass es ein
ausgeblendetes und vernachlässigtes Thema war. Sicher stand es
lange nicht im Vordergrund des Interesses; erst die Vorgänge
auf dem Balkan, Dokumentationen im Fernsehen und auch die aktuellen
Debatten um ein Zentrum gegen Vertreibungen haben eine breite
Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert.
Auch das Buch von Günter Grass über
den Untergang der "Wilhelm Gustloff" muss nicht als ein Durchbruch
für das Thema gelten, wie häufig behauptet wird,
allenfalls als eine Überraschung für Teile des linken
Spektrums. Erwähnt werden muss auch der von Klaus Bachmann und
Jerzy Kranz herausgegebene Band über die Vertreibungsdebatte
in Polen.
Das Buch von Liste ist der sehr
persönliche Bericht über die Flucht seiner Familie aus
Niederschlesien in die neue Heimat südlich von Magdeburg. Als
Bauern erhielten sie in der damaligen Ostzone Bodenreformland. Die
Familie war auf einem Pferdefuhrwerk 15 Monate, vom 26. Januar 1945
bis 1. April 1946, unterwegs. Die einzelnen Etappen werden auf
einer beigefügten Karte nachgezeichnet, was für das
Verständnis des Berichtes sehr hilfreich ist. Zahlreiche
Fotos, abgelichtete Dokumente und Kohlezeichnungen des Verfassers
illustrieren die Texte. Die Einteilung der jeweils kurzen Kapitel
folgt den einzelnen Quartierstationen.
Die Flucht vor der Front wurde am Ende zur
Vertreibung aus der Heimat. Nach Bekunden des Autors, Jahrgang
1934, waren diese Ereignisse immer wieder Gesprächsthemen in
der Familie, was Liste schließlich motivierte, aus seinen
persönlichen Erinnerungen nach 54 Jahren dieses Tagebuch
über die Flucht aus Schlesien und den Neuanfang in der SBZ zu
beginnen. Dabei überrascht das starke Erinnerungsvermögen
an viele Einzelheiten; ohne Austausch mit Verwandten und Freunden
wäre das kaum möglich gewesen. Er berichtet detailliert
über schreckliche Erlebnisse und Erfahrungen von
flüchtenden Menschenmassen inmitten einer gnadenlosen
Militärmaschinerie von Deutschen oder Sowjets, und das bei
bitterer Kälte.
Die Kapitulation beendete die tägliche
Angst vor dem Tod, bedeutete aber weiter Ungewissheit vor der
Zukunft. Eine Rückkehr nach Schlesien war seit Sperrung der
Neißebrücken für Deutsche durch Polen nicht mehr
möglich. Hundertfach sind diese Umstände in
unzähligen Berichten geschildert worden.
Der junge Liste war wie viele Altersgenossen
auch das Produkt der NS-Erziehung als Pimpf und Hitlerjunge. Die
Vorstellungen des Jungen kamen dann aber mehr und mehr ins Wanken
durch die konkreten Erfahrungen, die er auf dem Treck sammeln
musste. Das Buch bietet eine Geschichte der damals
alltäglichen Erfahrungen von unten, die der Autor aus der
Distanz von über 50 Jahren rekonstruiert. Aus dieser
späteren Perspektive hat er allgemein politische und
militärische Lageberichte hinzugefügt.
Interessant sind auch die Erfahrungen, die
die Flüchtlinge als Neubauern in der Magdeburger Börde
sammeln mussten. Allerdings wurde nicht so ganz deutlich, dass es
sich um die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands handelte. Auch
hätte man deutlichere Reflexionen zu der bis heute kontrovers
diskutierten Frage gewünscht, wie die Vertreibungen der
Deutschen bewertet werden müssen: waren sie ein Verbrechen an
unschuldigen Menschen, waren die Vertriebenen die letzten Opfer des
von Deutschland verantworteten Krieges, oder war der Verlust der
Ostgebiete die gerechte Strafe für die Verbrechen, die im
Namen Deutschlands an Polen, Russen und anderen Völkern
begangen wurden?
Unabhängig davon: das Buch muss als
Beispiel dafür gelten, dass Flucht und Vertreibung auch 60
Jahre später ein traumatisches Erlebnis für viele
Betroffene geblieben sind. Das ändert auch keine noch so
gelungene materielle Eingliederung, wie mancher Zeitgenosse
meint.
Hans-Joachim Liste
Unsere Flucht vor der Front.
Vertreibung und Neuanfang
Militzke Verlag, Leipzig 2004; 288 S., 18,-
Euro
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