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Detlev Lücke
Der Wind zum Erfolg - die Grünen erneuern
ihre Energie
Die Grünen ziehen auf ihrer Kieler
Bundesdelegiertenkonferenz Bilanz und markieren den Weg bis 2006 /
Von Detlev Lücke
Mit großem Selbstbewusstsein haben die
Grünen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz am 2. und 3.
Oktober in der Kieler Ostseehalle ihre Arbeit in der bisherigen
Legislaturperiode bewertet und daraus Schlussfolgerungen für
die Bundestagswahlen im Herbst 2006 gezogen. Ergebnis war ein
klares Bekenntnis zur rot-grünen Koalition und eine ebenso
eindeutige Absage an eine eventuelle Zusammenarbeit mit CDU und CSU
auf Bundes- oder Länderebene. Für diesen Lagerwahlkampf
machten Redner auf dem Parteitag die Christdemokraten
verantwortlich, die mit ihrem Programm den Sozialstaat abschaffen
wollten.
Den Weg zum Wahlerfolg in zwei Jahren will
die Partei über die Fortsetzung der rot-grünen
Koalitionen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen erringen,
wo im Februar beziehungsweise Mai 2005 gewählt wird. Dieses
Ziel nahmen sowohl die grünen Bundesminister Künast,
Trittin und Fischer wie auch Parteichef Reinhard Bütikofer ins
Visier. In einer emotionalen Rede forderte Außenminister
Joschka Fischer: "Wir dürfen dieses Land nicht einer falschen
Politik überlassen, die kaputt macht, was wir an Reformen
gemacht haben." Der Sozialstaat sei ein Begriff der Zukunft und
keine Vergangenheitsbeschreibung. Die CDU wolle ihn
zertrümmern. "Die anderen werden Reformen mit der
Kettensäge machen", rief er unter dem Beifall der Delegierten
aus. Bündnis 90/Die Grünen seien eine gesamtdeutsche
Partei und sollten dem Aufteilen in Ossis und Wessis offensiv
entgegentreten.
Als Symbol des Parteitages leuchtete ein
großes, grünes Ampelmännchen in die herbstkühle
Ostseehalle und vermittelte entsprechende Aufbruchstimmung, im
Gegensatz zu dem absaufenden Grünmännchen, das
unlängst die Titelseite des "Spiegel" zierte, der sich, wenn
es um Deutschlands Osten geht, gern vom Sturmgeschütz der
Demokratie in eine Stimmungskanone verwandelt. Kurioserweise sprach
zur Eröffnung Kiels Oberbürgermeisterin Angelika
Vollquartz, die einem schwarz-grünen Bündnis vorsteht.
Sie pries diese Konstellation als Symbol "für eine neue
Beweglichkeit" und verband sie mit dem Bekenntnis, Querdenker seien
gefragt. Die scheinen aber in Bezug auf derartige Wege weder in der
eigenen Partei noch bei den Grünen momentan große
Konjunktur zu haben. Kiel übte sich im demonstrativen
Schulterschluss mit der SPD, und die Wahlergebnisse der
jüngsten Zeit scheinen dieser Haltung mehr als Recht zu geben.
Parteichef Bütikofer erinnerte denn auch in seinem
Rechenschaftsbericht daran, dass man wieder in die Landtage von
Sachsen und dem Saarland hineingewählt worden sei. Er
bezeichnete es als "einen strategischen Durchbruch" in zwei Jahren
grüner Erfolge. Seine Frage, wie das bessere Land aussehen
solle, von dem alle überzeugt seien, dass es geschaffen werden
könne, beantwortete er selbst mit dem Hinweis, es gehe darum,
den richtigen Weg zwischen Strukturkonservativismus und radikaler
Marktwirtschaft zu finden. Das bedeute mehr Gerechtigkeit "auf dem
Boden von Reformen, nicht bei Vermeidung der Reformen". Die
Bürgerversicherung, ein grünes Spezialprojekt, sei
inzwischen ein Programm für viele und eine Alternative zum
neoliberalen Weg nach rechts.
Bütikofer beschrieb damit den nicht
immer krisenfreien Weg der beiden Koalitionspartner, von denen die
SPD sich Umweltfragen öffnen musste und die Grünen dem
sozialen Bereich. Vor diesem Hintergrund meinte die Fraktionschefin
der Bündnisgrünen im Bundestag, Krista Sager, es sei
letztendlich egal, wer in der Regierung Koch und wer Kellner sei,
wenn die Rechnung stimme. In welcher Küche gekocht werde,
verriet sie allerdings nicht. Sie unterstrich den Anteil ihrer
Partei an der Regierungsarbeit, die grünen Minister
hätten "dem Erfolg nicht in Kuschelministerien
entgegengedämmert". Wie andere Redner auch bezeichnete sie die
Bildungsfrage als Kernpunkt sozialer Gerechtigkeit in
Deutschland.
Bundesumweltminister Jürgen Trittin warf
der Union vor, soziale Besitzstände wie den
Kündigungsschutz streichen zu wollen. Bei der nächsten
Bundestagswahl gehe es auch um die Alternative, mit Rot-Grün
den Sozialstaat zu reformieren oder "ihn per
Ellenbogengesellschaft" abzuschaffen. Wie Krista Sager und
Vebraucherschutzministerin Renate Künast sprach sich
Jürgen Trittin energisch für die Abschaffung der
Eigenheimzulage aus, um die dadurch frei werden Mittel in den
Bildungsbereich umzuleiten. Der Union warf er ein Energiekonzept
aus den 60er-Jahren vor.
Angesichts der Stabilisierungsphase des
Koalitionspartners SPD in den vergangenen Wochen bei Wahlen und in
Umfragen äußerten sich zahlreiche Redner auf dem
Parteitag optimistisch, dass sich der Trend zugunsten von
Rot-Grün wenden werde. "Die Stimmung schlägt Stück
für Stück um", meinte Reinhard Bütikhofer. Nicht
alle Delegierten drückten ihre Ablehnung christdemokratischer
Politik derart drastisch aus wie Markus Kurth, der der CDU vorwarf,
sie habe ihre Tarnkappe abgenommen und betreibe sozialpolitischen
Kannibalismus. "Arbeitende Menschen sind keine Nutztiere", rief er
aus.
Angesichts solcher Statements gab es in Kiel
keine Träumereien an schwarz-grünen Kaminen, wie es die
Bundestagsfraktionsvorsitzende Kathrin Göring-Eckardt noch im
Frühjahr 2004 vor den Thüringer Landtagswahlen
unternommen hatte. Mag sein, dass ihr schlechtes Wahlergebnis
für den grünen Parteirat, das vier Wahlgänge
erforderte, eine dezente Abstrafung für derlei
Überlegungen war. Außenseiter wie der
Baden-Württemberger Oswald Metzger, der sich auf dem Parteitag
gegen die geplante Bürgerversicherung seiner Partei wandte,
fanden zumindest offiziell nur Zustimmung im
Nanobereich.
In Kiel verabschiedeten die Grünen sechs
Forderungen zur sozialen Erneuerung Deutschlands. Dazu zählen
die höhere Besteuerung von Erbschaften, der Kampf gegen
Steuerhinterziehung, ein neues Aktienrecht, um Vorstandsmitglieder
zu zwingen, ihre Bezüge offenzulegen und die Zahl der
Aufsichtsmandate pro Person auf fünf zu beschränken.
Außerdem geht es um die Einführung eines Mindestlohns,
der sich am Gesetz für Mindestarbeitsbedingungen von 1952
orientiert und der die von Union und FDP durchgesetzte
Zumutbarkeitsregelung entschärfen soll, die
Überprüfung von Hartz IV und die Soziale Grundsicherung.
Vor allem letztere soll ein Schlüsselprojekt der Grünen
im Bundestagswahlprogramm von 2006 werden.
Weiterhin beschlossen die Delegierten erste
Eckpunkte für eine Bürgerversicherung, mit der das
solidarische Krankenversicherungssystem unter dem Motto "eine
für alle" weiterentwickelt werden soll. Außerdem
forderten sie eine Neuausrichtung der finanziellen
Unterstützung Ostdeutschlands.
Schließlich wählte der Parteitag
die neuen Führungsgremien von Bündnis 90/Die Grünen.
Nachdem die Ko-Vorsitzende Angelika Beer nicht mehr antrat, stellte
sich die ehemalige Parteivorsitzende Claudia Roth zur erneuten Wahl
für diesen Posten. In ihrer Bewerbungsrede versprach sie,
integrativ nach innen und streitbar nach außen zu handeln. Bei
ihrem temperamentvollen Auftritt in einem langen, knallroten
Mantelkleid verkündete sie: "Man kann mit grünen Ideen
schwarze Zahlen schreiben." Was ihr angesichts von knapp 100
Gegenstimmen und 51 Enthaltungen und 77,88 Prozent bei ihrer
eigenen Wahl nicht ganz gelang. Einige Delegierte waren
offensichtlich nicht damit einverstanden, dass die neue
Parteivorsitzende ihr Bundestagsmandat behielt. Reinhard
Bütikofer, vor zwei Jahren als Verlegenheitskandidat für
die Parteiführung betrachtet, hat seine Chance genutzt und
wurde für seine bisherige Arbeit mit einem Wahlergebnis von 85
Prozent im Amt bestätigt.
Der Kieler Parteitag hat endgültig
bewiesen, dass die Grünen von einer Bewegungs- zu einer
funktionalen Partei geworden sind. Streitereien wie auf
früheren Zusammenkünften gibt es nicht mehr, strickende
Männer wurden nicht mehr gesichtet, auch Kinder und Hunde
waren in der Ostseehalle sehr spärlich vertreten. Die
grüne Partei webt indessen fleißig weiter an ihrer
Regierungskollektion. Spätestens die beiden Wahlen in
Schleswig-Holstein und NRW werden zeigen, ob sie haltbar und
tragfähig ist. Falls nicht, dürften irgendwann die Karten
neu gemischt werden.
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