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Susanne Kailitz
Der Osten ist kein Jammertal
Köhler und Thierse sprechen zu Wende und
Einheit
Mehr Entschlossenheit, mehr Mut, mehr Geduld - das fordern
Bundespräsident Horst Köhler und Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse von den Deutschen. Ihre Reden zum Tag der
Deutschen Einheit und zum Jahrestag der Montagsdemonstration vom 9.
Oktober 1989 in Leipzig hatten die gleiche Botschaft: Nicht nur der
Osten, sondern ganz Deuschland müsse sich auf grundlegende
Veränderungen einstellen.
In seiner Rede zum zentralen Festakt am 3. Oktober in Erfurt
rief Köhler seine Landsleute auf, mehr für das Gemeinwohl
zu tun und überzogenes Anspruchsdenken aufzugeben. Der Staat
solle nicht alles Mögliche, sondern alles Nötige tun und
sich darauf konzentrieren, was wichtig sei: für
bestmögliche Rahmenbedingungen für die Schaffung von
Arbeitsplätzen sorgen. Um dies zu erreichen, müsse es
einen radikalen Abbau von Bürokratie und Vorschriften geben:
"Und wenn wir es nicht schaffen, gleich ganz Deutschland von dem
Wust zu befreien, dann sollten wir das mindestens den neuen
Ländern erlauben." Die Aufbauarbeit müsse weitergehen.
Deshalb dürfe auch niemand den Solidarpakt II in Frage stellen
- es müsse jedoch geprüft werden, ob Fördergelder
nicht sinnvoller eingesetzt werden könnten. Sie seien für
Investitonen da und nicht für Konsum oder Verwaltung.
Köhler würdigte den Mut derer, die 1989 an den
Montagsdemonstrationen teilgenommen und dabei ihr Leben in Gefahr
gebracht hatten. Damit hätten sie demokratisch und mutig die
Freiheit erkämpft - und eines der schönsten Kapitel der
deutschen Geschichte geschrieben.
"Man muss den Mund aufmachen"
Auch Wolfgang Thierse erinnerte in seiner Rede am 9. Oktober in
der Leipziger Nikolaikirche an den Herbst 1989. Insbesondere der 9.
Oktober stehe für den Sieg über die Angst und den
Aufbruch der politischen Hoffnung. Aus diesen Erfahrungen solle Mut
und Entschlossenheit für anstehende Reformen geschöpft
werden - auch wenn die neuen Montagsdemonstrationen nicht mit denen
des Wendeherbstes verwechselt werden dürften. Vor deren
Hintergrund sei es jedoch eine Frage der Selbstachtung, Demagogen
entgegen zu treten: "Man muss den Mund aufmachen, Stellung nehmen
und darf den Konflikt mit den Verächtern der Demokratie nicht
scheuen." Thierse forderte insbesondere die Ostdeutschen zu mehr
Selbstbewusstsein auf. Sie hätten vor 15 Jahren ein Kapital an
Mut, Riskiobereitschaft und Aufbruchsgeist erkämpft,
während im Westen eine geradezu überwältigende
Reformunwilligkeit geherrscht habe. Der Osten sei weder "Jammertal"
noch "Milliardengrab", sondern verfüge über ein Potenzial
aus Reformerfahrung, Felixibilität und Einfallsreichtum: "Von
unserer Transformationserfahrung können Reformunwillige in
West und Ost durchaus lernen." Auch wenn bei der Wiedervereinigung
ein gemeinsamer Neuanfang von Ost und West versäumt worden
sei, müsse man am Ziel gleichwertiger Lebensumstände
festhalten. Hartz IV bringe neues Geld nach Ostdeutschland - nun
sollten Kommunen, Verbände, Gewerkschaften und Demonstranten
gemeinsam überlegen, wie dieses Geld für
Arbeitsmarktpolitik sinnvoll für neue Arbeitsplätze
verwendet werden könne.
In seiner Rede ging Thierse auch auf den schwelenden Streit um
die Solidarität zwischen Ost und West ein. Er kritisierte die
Länder, die den Wettbewerbsföderalismus ausriefen. Sie
seien selbst viele Jahre Nutznießer des solidarischen
Föderalismus gewesen, bis sie zu Geberländern geworden
seien. "Ob es Zufall ist, dass die Solidarität in Frage
gestellt wird, wo andere noch lange auf die Solidarität der
reicheren Ländern angewiesen sein werden?" Bereits zuvor hatte
er in einem Radio-Interview Hessen und Bayern mangelnde
Solidarität vorgeworfen.
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