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Leonhard Horowski
"Mein Herr Bruder, Schwiegerenkel und
Urgroßneffe"
Ursprünge, Umgangsformen und Untergang der
europäischen Monarchengroßfamilie
Was ist ein guter Roman anderes als ein
feingeknüpftes Netz aus subtilen, oft kaum sichtbaren und doch
wirksamen Zusammenhängen? Was ist folglich das engmaschige
Beziehungsnetzwerk der europäischen Herrscherhäuser
anderes als ein guter Roman - noch dazu einer von jener Sorte, die
keinen Autor brauchen, weil historisch gewachsene Bedingungen ihn
selber hervorbrachten? Was schließlich kann derjenige tun, der
diesen Roman erklären will, ohne ihn einfach
nachzuerzählen? Er greift an einer Stelle in das riesige
Knäuel hinein, zieht einen einzelnen Faden heraus und sucht
daran aufzuzeigen, was er meint. Eine Momentaufnahme also, ein
Brief, eine Anrede.
Der Moment ist der 2. Februar 1722, die
Autorin, Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orléans, eine
französische Prinzessin deutscher Herkunft mit englischen,
holländischen, dänischen und französischen
Vorfahren, der Empfänger Spaniens französisch geborener
Kronprinz, der damals wie heute Prinz von Asturien hieß, die
Anrede schließlich ein fast schon inzestuöses: "Mein Herr
Bruder, Schwiegerenkel und (Urgroß-)Neffe". Da hat man in
sechs Worten und zwei Personen eigentlich schon alles, was es
braucht, um von einer untergegangenen Welt zu
erzählen.
"Mein Herr Bruder ..." So schrieben einander
Europas Könige, ob sie Neujahrskomplimente verschickten oder
Kriegserklärungen. So schrieben einander folgerichtig auch
die, die wie die Königsschwägerin Elisabeth-Charlotte und
ihr Adressat im Rang unmittelbar nach ihnen kamen, während
niederrangigen Fürsten, Herzogen oder Prinzen immerhin noch
der Titel "Mein Cousin" gegeben wurde (in Deutschland "Lieber
Oheim") - gewiss eine Fiktion, aber doch eine, die auf der
ständig durch Heiraten erneuerten Tatsache realer
Verwandtschaften beruhte. Auch im zitierten Brief: Neben der
fiktiven Bruderschaft stehen sogleich die realen Bande, die den
Prinzen von Asturien zum Urgroßneffen der Herzogin sowie zum
Ehemann ihrer Enkelin machten.
Eheverbindungen wie diese waren die
Grundlagen eines europäischen Netzwerks, dessen
Einzigartigkeit sich erst im Vergleich mit der übrigen Welt
zeigt. Immerhin war ja bis vor historisch kurzer Zeit die Monarchie
weltweit die vorherrschende Staatsform, wiesen etwa die islamische
und asiatische Welt eine ganze Serie eindrucksvoller Monarchien
auf. Sie brachten jedoch niemals eine vergleichbare Vernetzung
ihrer Herrscherhäuser hervor, weil bestimmte ausschlaggebende
Faktoren nur in Europa auftraten.
Zu den ersten zählt das Christentum:
weniger, indem es eine einheitliche Glaubenswelt vorgab, innerhalb
derer jeder jeden heiraten konnte (das tat auch der Islam), als
dadurch, dass es selbst die Herrscher zur Monogamie aufrief.
Natürlich hielt sich, wie man etwa an den 16 unehelichen
Kindern von Elisabeth-Charlottes Schwager Ludwig XIV. ablesen kann,
der praktische Erfolg dieser Aufforderung in Grenzen. Immerhin war
sie doch aber so erfolgreich, dass spätestens seit dem
Hochmittelalter kein unehelicher Königssohn mehr ernsthafte
Chancen auf die Thronfolge hatte. Die Zahl der konkurrierenden
Thronanwärter war damit von Anfang an viel geringer als in
polygamen Kulturen. Wenig überraschend ist es also, wenn sich
allein in Europa die unangefochtene Nachfolge des jeweils
ältesten Sohnes durchsetzen konnte und damit der Grundstein
für jahrhundertelang stabile Dynastien gelegt wurde. Bei
Aussterben der männlichen Linie setzten sie sich durch
Töchternachkommen fort und schufen so eine fast als heilig
angesehene dynastische Kontinuität.
Dazu trug auch ein zweiter Faktor bei, den
mit Ausnahme des mittelalterlichen Japan, keine
außereuropäische Gesellschaft kannte: Durch die Dominanz
eines erblichen Geburtsadels in Europa blieb der Aufstieg nicht
hochadeliger Rebellenführer, Söldnerkommandanten oder
Minister zum auch nominellen Herrscher undenkbar. Wo einmal etwas
ansatzweise Ähnliches vorkam, musste der schwach qualifizierte
neue Herrscher sich legitimieren, indem er in eine der etablierten
Dynastien einheiratete. Die ständische Gliederung ließ
auch Heiratsverbindungen mit einheimischen Familien unattraktiv
erscheinen: Da es pro Land nur ein Königshaus gab, konnte eine
einheimische Ehe nur mit einer rangniedrigeren Person oder engen
Verwandten geschlossen werden.
Ehebündnisse mit auswärtigen
Herrscherhäusern waren demgegenüber sowohl
standesgemäß als auch machtpolitisch wertvoller. Der Wert
solcher "Investitionen" war zudem höher als anderswo. Erstens
konnte man sich auf die Dauerhaftigkeit der anderen Dynastie besser
verlassen. Zweitens war garantiert, dass der Sohn der
auswärtig verheirateten Tochter auch wirklich der nächste
Herrscher seines Landes werden würde - ihr Mann konnte ja mit
keiner anderen Frau erbfähige Kinder zeugen. Unter diesen
Umständen wurden schon im Mittelalter Ehen von Königshaus
zu Königshaus die Regel und führten zur
regelmäßigen Auffrischung veraltender Beziehungen. Dies
geschah um so unbekümmerter, als die Heirat zwischen
Blutsverwandten nur als - vom Papst lösbares - religiöses
Problem, bis ins 19. Jahrhundert aber nie aber als biologisches
Risiko angesehen wurde und nur in sehr wenigen Fällen
ernsthafte Folgen nach sich zog.
Ein solcher Fall ist der des spanischen
Königs Karl II. (1661 bis 1700); er führt sogleich zum
Ausgangspunkt zurück. Als Sohn von Eltern, die nicht nur
mehrfach Cousin und Cousine, sondern auch Onkel und Nichte waren,
körperlich wie geistig schwerbehindert, wurde er zuerst unter
französischem Einfluss mit einer Nichte Ludwigs XIV., nach
deren Tod auf Betreiben der österreichischen Habsburger mit
einer Schwester der römisch-deutschen Kaiserin verheiratet.
Beide Reiche wollten den kinderlosen Herrscher auf ihre Seite
ziehen.
Die in Jahrhunderten nie aufgelöste
Schattenseite dieser an sich kriegsersetzenden Heiratsdiplomatie
zeigte sich freilich sofort nach Karls Tod. Die 1660 zur
Friedensstiftung geschlossene Ehe Ludwigs XIV. mit einer spanischen
Prinzessin gab nämlich dem Hause Frankreich einen Anspruch auf
den spanischen Thron, den der habsburgische Kaiser als
zweitnächster Verwandter nicht anerkennen wollte. Es war also
nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer engen Blutsverwandtschaft,
dass Ludwig XIV. und Leopold I. (deren Mütter ebenso
Schwestern waren wie ihre Ehefrauen) in einen 13-jährigen
Erbfolgekrieg gerieten, der bald halb Europa erfasst hatte und die
Welt unserer Briefeschreiberin erschütterte.
Elisabeth Charlotte - in Deutschland als
Liselotte von der Pfalz bekannt -, kannte all das bereits: 1671
wurde sie zur Sicherung des französisch-pfälzischen
Friedens nach Versailles verheiratet und hatte mittels ihrer
Erbrechte ab 1688 dem Schwager Ludwig XIV. als Vorwand für die
Eroberung und Zerstörung ihrer pfälzischen Heimat
gedient. Nun musste sie erleben, wie ihr Sohn gegen den Mann seiner
eigenen Halbschwester in die Schlacht zog und ihre mit
französischen Prinzen verheirateten Stiefenkelinnen
gezwungenen wurden, im Interesse ihrer Männer und Kinder die
politische Vernichtung des eigenen Vaters zu erhoffen. Der
preußische Ehemann ihrer Patennichte war plötzlich ebenso
ein Feind ihres Landes wie nahezu alle übrigen deutschen,
englischen und holländischen Verwandten. Selbst der
Erschöpfungssieg Frankreichs (1713), der Liselottes
Großneffen und Stiefschwiegerenkel Philipp V. die spanische
Krone sicherte, brachte nur neue Probleme, weil eine Serie von
Todesfällen und Erbansprüchen diesen innerhalb zweier
Jahre zum ärgsten Feind ihres Sohnes Orléans machten.
Bereits 1718 kam es zum Krieg Frankreichs gegen Spanien, bevor eine
erneute Wendung 1721 in der obligatorischen Heiratsallianz
kulminierte. Liselottes zwölfjährige Enkelin heiratete
nun den spanischen Thronerben, dem der zitierte Brief galt,
während dessen gerade dreijährige Schwester ihrem
elfjährigen Cousin Ludwig XV. versprochen wurde, nur um
infolge weiterer abrupter Wendungen schließlich
siebenjährig in einer mit Spielzeug gefüllten Kutsche an
die Eltern zurückgeschickt zu werden.
Die Praxis der europäischen
Monarchenendogamie trug also dazu bei, durch ständigen
Austausch von Töchtern Dynastien und ihre Länder
aneinanderzubinden. Obwohl sie, indem sie Erbrechte vermittelte,
regelmäßig Kriege auslöste, wurde sie nie aufgegeben
und trug auch innerhalb dieser Kriege dazu bei, ein Minimum an
Respekt zwischen den Häuptern der Kriegsparteien
aufrechtzuerhalten. Noch im Ersten Weltkrieg nahm die deutsche
Kronprinzessin ihren Kindern ein Kartenspiel weg, das die
feindlichen Monarchen als Tiere darstellte, und erklärte
ihnen, dass das allesamt engste Verwandte seien. Das weltweit
einzigartige System dieser Heiratspolitik schuf nicht nur eine
europäische Monarchienfamilie. Es erwies sich auch als
fähig, konfessionelle Hindernisse zu überwinden und neue
Länder in die europäische Staatengemeinschaft zu
integrieren - sei es im 18. Jahrhundert durch den Anschluss des
orthodoxen Russlands an den protestantischen Familienblock oder im
19. Jahrhundert durch die Besetzung neu geschaffener Nationalthrone
in West-, Nord- und Südosteuropa mit importiertem
"Prinzenmaterial".
Der Erste Weltkrieg zerschlug die
machtpolitische Relevanz der monarchischen Staatsform ebenso, wie
er der Vorstellung von unwandelbarer geburtsständischer
Gliederung einen letzten Todesstoß versetzte. So mag es aus
der innenpolitisch verengten Perspektive der letzten verbleibenden
Monarchien durchaus logisch sein, sich die zukünftigen
Ehepartner nur noch nach Medienwirksamkeit sowie Vereinbarkeit mit
dem bürgerlichen Ideal echter oder glaubhaft gemachter
Liebesehe auszusuchen. Von der europäischen Großfamilie
der Monarchen aber, die von der ständigen Erneuerung und
Exklusivität ihrer Verwandtschaftsbeziehungen lebte, wird so
bald nichts mehr bleiben als bestenfalls jene Art von
Berufsgenossenschaft, die den Inhabern seltener und seltsamer
Professionen nun einmal zu eigen ist.
Dr. Leonhard Horowski ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Kunstgeschichte der
Technischen Universität Berlin.
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