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Cornelia Bolesch
Ein König für drei
Bevölkerungsgruppen
Belgien: Ein Gemeinwesen, das ständig
auseinanderstrebt
Der ältere Herr auf dem Bild war
äußerst gut gelaunt. Eine kleine Ziehharmonika hing um
seinen Hals. Es war ein Geschenk zu seinem 70. Geburtstag. Der
Jubilar traktierte das Gerät voller Eifer und krähte
dabei vor Vergnügen. Neben ihm stand eine Frau und betrachtete
ihn mit großer Zuneigung und einer Prise Nachsicht. Die gute
Stimmung in dieser Szene sprang förmlich über auf den
Betrachter. Ein fröhliches Rentnerpaar schien da zu feiern -
es handelte sich um König Albert II. von Belgien und seine
Frau, Königin Paola.
Das Bild wurde im Juni 2004 in den
berühmten opulent bepflanzten Treibhäusern von Schloss
Laeken geknipst. Es ist kein Einzelstück im königlichen
Fotoalbum: Der König von Belgien gibt sich, ob allein oder im
Kreis seiner Familie, wie ein ganz normaler Bürger, wie ein
etwas rundlich gewordener, aber immer noch sehr präsenter Opa.
Der Mann, der nie König werden wollte, der erst mit 60 Jahren
den Thron bestieg und seit elf Jahren zehn Millionen Belgier
repräsentiert, wirkt einfach authentisch. Vor allem deshalb
ist er bei seinen Landsleuten sehr populär.
Die Tatsache, dass das belgische
Königshaus von einer großen Mehrheit der Bevölkerung
akzeptiert wird, können die Regenten dieses kleinen Reichs als
besonders großes Kompliment verbuchen. Denn Belgien ist ein
Gemeinwesen, das eigentlich ständig auseinanderstrebt. Deshalb
ist es so kompliziert organisiert wie kaum ein anderes Land in
Europa. Im Jahr 1830 wurde der Staat Belgien als konstitutionelle
Monarchie geboren. Leopold I. aus dem Haus Sachsen-Coburg-Gotha war
der erste König. Obwohl in seinem Königreich von Anfang
an zwei Sprachen gesprochen wurden - das Niederländische im
Norden und das Französische im Süden - galt lange Zeit
nur das Französische als soziale und kulturelle Leitsprache.
"Niederländisch sprach man mit den Tieren und den Dienstboten,
in dieser Reihenfolge", spottet der belgische Schriftsteller Geert
van Istendael. Die Niederländisch sprechenden Flamen begehrten
gegen diese Ungerechtigkeit auf. Ihr jahrzehntelanger Streit mit
den frankophonen Wallonen führte schließlich dazu, dass
Belgien in einzelne Regionen und Sprachgemeinschaften aufgeteilt
wurde, die sich zum großen Teil selbst organisieren. Neben den
Flamen im Norden und den Wallonen im Süden leben in der
belgisch-deutschen Grenzregion auch noch etwa 70.000
deutschsprachige Belgier. Auch sie haben eine eigene Regierung und
ein eigenes Parlament. Nimmt man die nationale Regierung und das
nationale Parlament hinzu, so wird der überschaubare belgische
Raum zwischen Deutschland, Frankreich und den Niederlanden
inzwischen von nicht weniger als sechs Regierungen und sechs
Parlamenten verwaltet.
"Es gibt einen belgischen König, viel
belgisches Theater, eine belgische Flagge, ein belgisches Lied,
aber Belgier, die gibt es nicht", schrieb der flämische
Dichter Rene de Clercq Anfang des 20. Jahrhunderts. Tatsache ist,
dass in Belgien kein permanentes Selbstgespräch der gesamten
Gesellschaft stattfindet. Für die verschiedenen
Sprachräume arbeiten jeweils eigene Medien mit einer eigenen
Agenda. Symbole der Gemeinsamkeit sind rar - das wichtigste Symbol
ist der König, der bei seinen Ansprachen aber darauf achten
muss, sie im Wechsel auf Französisch und Niederländisch
zu halten. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und nach über
hundert Jahren Erfahrung mit der Monarchie hat das belgische Volk
bereits einmal über die Zukunft dieser Staatsform abgestimmt:
Eine Mehrheit war damals dafür, den König zu behalten. An
dieser Grundstimmung hat sich bisher nichts geändert. Umfragen
zeigen, dass etwa 70 Prozent der Belgier die Monarchie auch
künftig beibehalten wollen. Fast genauso viele Flamen wie
Wallonen bekennen sich zu dieser Konstruktion. Unterschiede
zwischen den Sprachgruppen gibt es aber doch: So möchte fast
ein Drittel der Wallonen, dass der König stärkere
Kompetenzen erhält, dagegen wünscht sich über ein
Viertel der Flamen eine Reduzierung seiner Befugnisse.
Der Wirkungskreis des belgischen Königs
ist aber ohnehin sehr beschränkt. Wie seine Kollegen und
Kolleginnen in Europa, so übt auch Albert II.
hauptsächlich repräsentative Funktionen aus. Im
wesentlichen wirkt er "durch Stellungnahmen, Vorschläge,
Mahnungen, Warnungen und Ermutigungen auf die Akteure des
politischen Geschehens ein", so steht es auf den Internetseiten der
belgischen Monarchie als eine Art königlicher
Handlungsanleitung. Regelmäßig trifft sich der König
mit dem Premierminister, zur Zeit dem liberalen Flamen Guy
Verhofstadt, aber auch mit Ministern und Parlamentariern, um
über die Zeitläufte zu diskutieren. Besonders gefragt ist
der König immer nach den nationalen Parlamentswahlen. Da hat
er die Aufgabe, den "Formateur" zu bestimmen - eine Person, die
unter den zahlreichen politischen Parteien aus der flämischen
und der frankophonen Region mögliche Partner für
Koalitionen sondiert. Der König unterzeichnet darüber
hinaus alle Gesetze. Hier hat er einen winzigen Spielraum, um
Akzente zu setzen - etwa, indem er eine Unterschrift über ein
unliebsames Gesetz verzögert.
Der Vorgänger von Albert II., sein
Bruder König Baudouin, ist im Jahr 1990 sogar einmal für
einen Tag zurückgetreten, nur um das Gesetz über die
Legalisierung der Abtreibung nicht billigen zu müssen, das er
als Katholik heftig ablehnte. Die Regierung hat damals eine
rechtliche Konstruktion gefunden, um das Gesetz doch noch in Kraft
treten zu lassen. Ethische Konflikte dieser Art sind dem als
liberal geltenden jüngeren Bruder fremd. Albert II. hat ohne
erkennbare Gewissensbisse belgischen Gesetzen den Weg geebnet, die
Sterbehilfe erleichtern und gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe
ermöglichen. Einmal allerdings geriet die Gesetzesmaschine in
Brüssel leicht ins Stocken. Da soll Albert II. sich gegen die
geplante Reduzierung der Zahl katholischer Militärpfarrer
gewehrt haben. Anstatt 34 hätte es nur noch zehn solcher
Geistlicher geben sollen. Nach Alberts Intervention sei die Zahl
immerhin noch auf 14 aufgestockt worden.
Viel wichtiger für Belgien als diese
kleinen politischen Akzente des obersten Staatsrepräsentanten
aber ist eine ganz andere Funktion der königlichen Familie:
Albert II., seine Frau Paola, die Kinder und Enkel - sie stellen
wie überall in Monarchien die nationale Musterfamilie dar. Sie
bürgen für Kontinuität und Menschlichkeit jenseits
des politischen Streits und der ständig wechselnden
Regierungen. In den Geschichten, die man sich über ihr
Glück und Leid, ihre Erfolgen und Missgeschicke erzählt,
können sich die Belgier wiedererkennen. Da gab es etwa einen
lebenslustigen Mann namens Albert. Er liebte Sport und
Geselligkeit, schnelle Autos und Motorräder. Nie hätte er
gedacht, einmal als König an der Spitze seines Landes zu
stehen. Doch als sein Bruder, König Baudouin, 1993 ganz
überraschend an Herzversagen starb, da musste ihm der bereits
60-jährige Albert auf den Thron folgen und nicht, wie
eigentlich vorgesehen, dessen Sohn Philippe. Dem hat niemand diese
Aufgabe zugetraut.
Inzwischen hat sich das Volk mit Philippe
versöhnt. Als er 1999 die adelige Logopädin Mathilde
heiratete, zelebrierten die Medien dieses Ereignis als "letzte
Märchenhochzeit des Jahrtausends". Auch Sohn Laurent, der
lange als schwarzes Schaf der Familie galt und ständig
geblitzt wurde, weil er zu schnell Auto fuhr, hat sich den Respekt
seiner Landsleute erworben. Er hat eine Stiftung für das
Wohlergehen der Tiere gegründet und sich inzwischen auch
standesgemäß verheiratet.
Kürzlich allerdings fiel er auf, als er
für sein erstes Kind einen befreundeten Moslem als Taufpaten
vorsah. Die Katholische Kirche protestierte, und Laurent musste
nachgeben. Er lud den Moslem wieder aus. Das dritte Kind von Albert
und Paola, die Tochter Astrid, beeindruckt die Belgier als
mehrfache Mutter und unerschrockene, sozial engagierte Frau, die
sich vor allem für Hilfsbedürftige wie Aidskranke in
Afrika einsetzt.
König Albert selbst hat sich die Herzen
vieler Belgier durch den unaufdringlichen, menschlichen Ton seiner
regelmäßigen Ansprachen erobert. Manchmal, wenn das Land
besonders aufgewühlt war, wurde er dadurch zu einem wichtigen
Faktor des Zusammenhalts, der Garant gemeinsamer Werte. Etwa als er
die Versäumnisse von Polizei und Justiz bei der
Aufklärung der Taten des Mörders und
Mädchenschänders Marc Dutroux kritisierte und die
gepeinigten Eltern der entführten Kinder zu sich einlud. Die
ungewöhnlichste Ansprache aber hielt er zu Weihnachten 1999.
Da begann Albert II. auf einmal, über Schwierigkeiten in
seiner Ehe mit Paola zu sprechen - Probleme, die schon lange
zurück lagen, wie er versicherte, und die beide längst
überwunden hätten. Der König reagierte damit auf die
in jenen Tagen kursierende Nachricht, dass er eine uneheliche
Tochter hat, die als Künstlerin in London lebt. Für sein
Volk ist er durch sein dezentes Bekenntnis erst recht zu ihrem
Repräsentanten geworden.
Belgien ohne seine Königsfamilie - das
wäre ein Staat, um dessen Stabilität man sich vielleicht
Sorgen machen müsste. Premier Guy Verhofstadt hat Albert II.,
den sechsten König aus der Dynastie Sachsen-Coburg-Gotha,
kürzlich über den grünen Klee gelobt: "Die Art, wie
Sie ihre konstitutionelle Rolle ausfüllen, ist sicherlich ein
Beispiel dafür, wie eine moderne Monarchie funktionieren
kann."
Cornelia Bolesch ist Korrespondentin der
"Süddeutschen Zeitung" in Brüssel.
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