Klaus von Beyme
Nur eine Nachbildung mit beschränkten
Rechten
Ein starker Präsident ist noch lange kein
Monarch
Kein demokratisches System der Welt konzipiert
einen Präsidenten als Alleinherrscher. Wo immer ein
volksgewählter Präsident von der Verfassung vorgesehen
war - erstmals in der zweiten französischen Republik 1848 bis
1851 - war er im Grunde die vom Volk gewählte Nachbildung
eines konstitutionellen Monarchen. Die Verfassungsväter der
fünften französischen Republik orientierten sich sogar
explizit am "Orléanismus". Louis Philippe von Orléans kam
1830 unter der parlamentarischen Losung ins Amt: "Der König
regiert, aber herrscht nicht". Er war in seiner Machtausübung
an parlamentarische Mehrheiten gebunden.
Selbst eine Minderheit der amerikanischen
Verfassungsväter (Verfassungsmütter gab es damals noch
nicht) haben sich an dieser Konzeption orientiert. Sie glaubten
aber noch an eine strikte Gewaltenteilung, die sie in falsch
verstandener Montesquieu-Lektüre dem britischen System
zuschrieben. Aber auch die Mehrheit der Verfassungsväter hatte
in den USA ursprünglich einen stärkeren Kongress geplant.
Der Präsident wuchs in Wellen durch die amerikanische
imperiale Politik in eine immer stärkere Rolle. Der Versuch,
den Präsidenten durch den Kongress wieder stärker an die
Leine zu legen, der meist nach Kriegen unternommen wurde, hatte
keine nachhaltige Wirkung. Gleichwohl: es blieb beim
präsidentiellen System. Versuche, das System durch Amendments
zur Verfassung zu ändern, fand keine Mehrheit.
Der Präsident der Vereinigten Staaten
von Amerika hat kein Auflösungsrecht gegenüber dem
Parlament, das Parlament kann nicht durch Misstrauensvoten die
Regierung des Präsidenten oder gar diesen selbst aus dem Amt
entfernen. Im voll-präsidentiellen System der USA gibt es nur
die Möglichkeit, den Präsidenten durch eine
Präsidentenanklage (impeachment) aus dem Amt zu entfernen. Die
Vorbereitungen dazu in den Fällen Richard Nixon (nach der
Watergate-Affäre zu Beginn der 1970er-Jahre) und Bill Clinton
(nach der Affäre um die Praktikantin Monika Lewinsky Mitte der
90er-Jahre) sind uns noch in unliebsamer Erinnerung. Der Einbau
eines parlamentarischen Vertrauensmechanismus gegenüber dem
Präsidenten in einem semi-präsidentiellen System scheint
damit verglichen die elegantere Lösung.
Das Vorbild Amerikas mit einem
präsidentiellen System wurde in der Ära der
Transformationen immer wieder erwogen - auch in Russland. Was in
Europa in der zweiten (nach 1945) und dritten Welle (nach 1989) an
Systemen mit starker Stellung eines volksgewählten
Präsidenten entstand, blieb jedoch nach dem Willen der
Verfassungsväter- und -mütter immer eine Variante des
parlamentarischen Systems. Der volksgewählte Präsident
stand einem Parlament gegenüber, das Misstrauensvoten gegen
seine Regierung lancieren konnte.
Seit einem Buch des französischen
Politikwissenschaftlers Maurice Duverger hat sich der Ausdruck
"semi-präsidentielles System" eingebürgert. Nach der
Verfassung bleibt es halb-präsidentiell, obwohl der
Präsident - im Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten -
das Parlament im Konfliktfall unter erschwerten Bedingungen
auflösen kann. Der amerikanische Präsident steht nach den
"mid term elections" in der Regel einer feindlichen
Kongress-Mehrheit gegenüber und muss sich die Mehrheiten
für seine Gesetze in einem nicht so festgefügten
Parteiensystem jeweils zusammensuchen. Im semi-präsidentiellen
System ist die "cohabitation" - wie die Franzosen die Konfrontation
der Exponenten zweier feindlicher Mehrheiten nennen -
schwieriger.
Je länger die Amtszeit eines
Präsidenten im semi-präsidentiellen System dauert, umso
wahrscheinlicher treten Kohabitations-Konflikte auf. In Frankreich
ereignete sich der Fall in der nach-gaullistischen Ära
erstmals 1986, als der sozialistische Präsident Francois
Mitterand mit einer feindlichen gaullistischen Mehrheit um (den
heutigen Präsidenten) Jaques Chirac konfrontiert wurde. Die
Reservatrechte des Präsidenten - die noch dem des
konstitutionellen Monarchen nachgebildet sind - waren stark in der
Außenpolitik. Präsident und Premierminister stritten vor
einer Moskauer Konferenz öffentlich darum, wer Frankreich
vertreten dürfe. Schließlich flogen beide - in getrennten
Flugzeugen - zum Konferenzort. Diese Form des Konflikts war in
Russland unter Boris Jelzin und ist heute unter Wladimir Putin
undenkbar. Die Ministerpräsidenten waren in der Regel
"Kreaturen" des Präsidenten. Nur der ehemalige
Gewerkschaftschef Lech Walesa hat in Polen ähnliches versucht.
Der Sejm hat daher die Rechte des Präsidenten beschnitten und
heute funktioniert das System unter Kwasniewski ziemlich wie ein
normales parlamentarisches System.
Das semi-präsidentielle System ist
dualistisch angelegt und funktioniert auch so in Ländern, die
eine traditionelle parteienstaatliche und parlamentarische Kultur
kennen, wie Frankreich. In Westeuropa gibt es
semi-präsidentielle Systeme von Finnland bis Portugal. Ein
besonders schwacher vom Volk gewählter Präsident
existiert in Österreich. Da die beiden großen Parteien
eine hegemoniale Stellung besitzen und sich notfalls gegen den
Präsidenten einigen, kann die Parlamentsmehrheit ihn leicht in
die Schranken weisen.
Nur in Systemen der Transformationsperiode,
in denen keine klaren Parteienstrukturen entstanden und wo ein
volksgewählter Präsident als Exponent des Regimewechsels
ein überwältigendes Prestige besaß, wie Jelzin nach
Gorbatschow in Russland und Walesa nach dem Ende des Kommunismus in
Polen, blieb die dualistische Balance von Exekutive und Legislative
gestört. Frankreich hat als Modell in den
Transformationsprozessen Osteuropas vielfach Pate gestanden - mit
originellen Mischungen von Anleihen beim deutschen System (etwa
hinsichtlich der Verfassungsgerichtsbarkeit). Aber kopierte
Institutionen wirken unter anderen sozialen Bedingungen nicht wie
in ihren Ursprungsländern. Das lag schon allein daran, dass
die Parlamente - vielleicht mit der Ausnahme Ungarns - keine
Vorreiterrolle bei der Transformation spielten. Ihre Stärkung
im Vergleich zum alten kommunistischen Regime war eher das Produkt
als die Ursache der Innovation.
Selbst bei den älteren
semi-präsidentiellen Systemen in Europa von der 2.
französischen Republik bis zur Weimarer Republik oder Finnland
hatte es gewisse parlamentarische Vorerfahrungen unter der
Monarchie gegeben. Diese hat im Kommunismus weitgehend gefehlt,
weil Parlamente dort reine Akklamationsinstrumente waren, ohne
Kontrollfunktion und mit spärlicher Sitzungsdauer. Es zeigte
sich, dass die im Westen geistig "geborgten" Institutionen im
östlichen Kontext anders wirkten. Das Parteiensystem war die
entscheidende Variable. In Polen war es extrem fragmentiert, bis
man die Eintrittsschwelle für Gruppen angehoben hat. Die
Parteien bildeten sich um einzelne Persönlichkeiten. Für
Lateinamerika wurde einmal der treffende Satz geprägt: "every
ism is a somebody-ism". Es fehlte an einer Infrastruktur der
Mitgliedschaft und an einer kohärenten Ideologie. Die
Parteiprogramme glichen - mit Ausnahme der Postkommunisten und der
Rechtsextremisten - wie ein Ei dem anderen. Die Präsidenten
konnten, wie einst Walesa in Polen, Jelzin und Putin in Russland,
die parlamentarischen Gruppierungen gegeneinander ausspielen.
Manchmal hatten sie nicht einmal eine eigene starke Partei hinter
sich wie Walesa und Jelzin. Erst Putin hat in Russland versucht,
seine eigene Mehrheitspartei in der Duma effektiv zu
organisieren.
Alleinherrscher nicht vorgesehen
Einige Theoretiker, wie Juan Linz, haben dem
semi-präsidentiellen System generell die Fähigkeit
abgesprochen, voll demokratisch zu werden. Diese These stützte
sich allzu sehr auf lateinamerikanische Erfahrungen und war selbst
in der westlichen Hemisphäre nicht immer richtig. In einigen
Ländern wie in Litauen, Mazedonien oder Moldava wurden auch
von semi-präsidentiellen Systemen Wirkungen einer
Konsolidierung der Demokratie erbracht.
Alleinherrschaft ist in keinem der
dualistischen semi-präsidentiellen Systeme vorgesehen. Selbst
in Weißrussland hat Präsident Lukaschenka die Verfassung
noch nicht gänzlich aushöhlen können. Quasi
"Alleinherrscher" sind die Präsidenten nur in Systemen
geworden, die als "defekte Demokratien" bezeichnet werden
müssen (Wolfgang Merkel). In ihnen sind die Wahlen frei, wenn
auch - im Hinblick auf den Medien-Zugang der Parteien - nicht immer
"fair". Aber es fehlt an der rechtsstaatlichen Seite der Demokratie
und am Respekt gegenüber den Menschenrechten. In Russland wird
dies zunehmend in Tschetschenien sichtbar. Krasse Beispiele liegen
in Weißrussland und in der Ukraine vor. Die Gegengewichte im
russischen System stellten weniger die verfassungsmäßigen
Institutionen wie Parlament und Rechtssprechung dar, als die
wirtschaftliche Macht der "Oligarchen", die das Regime mit
Korruption durchsetzten. Putin hat sich nach und nach dieser
lästigen Konkurrenz entledigt. Das war nötig, aber der
Erfolg wurde mit einem hohen Preis erkauft. Vor allem die freien
Medien blieben auf der Strecke. Je länger Putin regiert, umso
mehr entwickelt sich sein System in die Richtung umfassender
Kompetenz und verlässt den Pfad der "konsolidierten
Demokratie". Der russische Präsident ist - außer in
Tschetschenien - gleichwohl immer wieder zur Mäßigung in
der Ausübung seiner Macht angehalten worden. Dies geschieht
weniger durch innenpolitische Gegengewichte als durch Russlands
Drang im Konzert der Groß- und Mittelmächte und in den
internationalen Institutionen eine Rolle zu spielen. Der
Terrorismus hat zwar die russische Gesellschaft nicht wirklich
geeint. Aber paradoxer Weise moderiert die internationale
Solidarität gegen den Terrorismus auch den russischen
Präsidenten in der Ausübung seiner Macht.
Klaus von Beyme ist Professor emeritus am
Institut für politische Wissenschaft an der Universität
in Heidelberg.
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