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Peter L. Münch-Heubner
Die Moscheen werden zum Sozialstaat im
Staate
Fundamentalisten als Helfer der Armen mit
"grünem Kapital" aus Saudi-Arabien
Sie verstehen sich als "Kämpfer auf dem Weg Allahs", als
"Heilige Krieger". Doch ihre Waffen sind keine Gewehre, ihre
"Feinde" sind keine "Ungläubigen". Ihr "Heiliger Krieg" gilt
der Armut in ihrem Land, und darum verteilen sie, die
Sozialarbeiter der Moschee, Zakat-Gelder an die Einwohner der
Elendsquartiere von Islamabad. Für die Betroffenen in Pakistan
sind diese Hilfsgelder zumeist nur ein Tropfen auf den heißen
Stein - im Durchschnitt sind es nicht mehr als umgerechnet elf Euro
die Woche - doch der Staat tut so gut wie gar nichts für sie,
und so entsteht eine moralische Bindung, die auch politische Folgen
hat.
Zakat, das war jene Armensteuer, deren Entrichtung der Prophet
Muhammad seinen Weggefährten einst in Medina als
religiöse und soziale Pflicht auferlegt hatte. Verteilt werden
sollten die eingesammelten Zakat-Gelder nach dem Willen des
Propheten und wie im Koran in Sure 9, Vers 60, nachzulesen ist, an
die "Armen und Bedürftigen".
Doch die Staaten der islamischen Welt haben es dann über
mehr als ein Jahrtausend hinweg mit dieser religiösen Pflicht
nicht sehr genau genommen und so die Entrichtung dieser Aufgabe als
Spende zur Privatsache eines jeden gläubigen Muslims werden
lassen. Das islamische Recht gesteht durchaus auch Privatpersonen
und privaten Organisationen das Privileg zu, Zakat einzuziehen und
zu verteilen. In das Zentrum nicht-staatlicher sozialer
Versorgungssysteme rückten so die Moscheen und mit ihnen die
islamischen Stiftungen, die vielerorts zu Staaten im Staate wurden.
Und deren Eigenleben ist heute für viele nah- und
mittelöstliche Länder zum Problem geworden.
Das gilt auch für Pakistan, das zu den wenigen Ländern
der Region zählt, in dem versucht wurde, mit
Zakat-Verordnungen die rechtlichen Grundlagen für die
entwicklung eines islamischen Wohlfahrtssektors, aber nun unter
staatlicher Obhut zu schaffen. Die Idee dazu war nicht neu, sie kam
vielmehr von den "Islamischen Ökonomen", die ab dem 20.
Jahrhundert die Staatsregierungen in der islamischen Welt wieder an
ihre soziale Verantwortung erinnern wollten.
Was bei den Islamischen Ökonomen aber noch als Grundlage
für ein gutgemeintes "Islamisches Wohlfahrtsmodell" gedacht
war, birgt heute im sozialen Umfeld der Länder im Vorderen
Orient für politischen Zündstoff. Als "Herausforderung
für das westliche Sozialstaatsmodell" wollten Männer wie
Umar Chapra, Fazrum Rahman oder Muhammad Siddiqi ihr eigenes Modell
zwar immer schon verstanden wissen. Die Ausrufung eines "Kampfes
der Kulturen" allerdings lag ihnen fern. Letzlich wollte man in
Gesellschaften, in denen die Fürsorge etwa für alte
Menschen traditionell den Familien oblag, um Akzeptanz für
staatliche soziale Sicherungssysteme und damit auch für das
"westliche" Prinzip einer Pflichtversicherung werben. Was lag
für einen gläubigen Muslimwissenschaftler und
Ökonomen dabei näher, als auf die religiösen
Pflichten von Medina zu verweisen und sie als Grundlage für
ein modernisiertes islamisches Sozialstaatsmodell zu verwenden.
Anders als imWesten sollte dieser Sozialstaat auf
religiösen Prinzipien beruhen, die die gesamte Gesellschaft
"leiten" sollten. Nicht nur Siddiqi sprach von einer "islamischen
Wirtschaftsordnung" und damit von einer "glaubensorientierten
Gesellschaft", in der die Umverteilung von Reichtum kein Problem
darstellen sollte, weil hier "soziale Verantwortung" religiöse
Pflicht sei.
Um die Umsetzung dieses Modells in konkrete Sozialpolitik
bemühen sich bis heute nicht wenige Aktivisten, doch diese
Bemühungen vollziehen sich nach wie vor unterhalb der Ebene
des Staates und nicht selten sogar gegen ihn. Und in den Reihen
derjenigen, die sich heute für die Errichtung einer
"Islamischen Sozialordnung" einsetzen, finden sich auch jene, die
man im Westen wegen ihrer rigoristischen Einstellung als
Fundamentalisten bezeichnet. Sorge bereitet in diesem Zusammenhang
auch, dass diese "Parallelsysteme" wie in Pakistan zu einem
großen Teil mit "grünem Kapital" aus Saudi-Arabien
finanziert werden. Nicht erst seit den Anschlägen von New York
und Washington sind die transnationalen finanziellen Engagements
der Saudis ins politische Gerede geraten.
So wird Sozialhilfe für nicht wenige nah- und
mittelöstliche Staaten zum Sicherheitsrisiko, doch deren
Regierungen tragen ein nicht geringes Maß an Mitschuld an
diesem Dilemma. Unfähig oder auch schlichtweg nicht willens,
die Lücken in den bestehenden "westlichen" sozialen
Sicherungssystemen zu schließen oder selbst religiöse
Sozialeinrichtungen zu fördern, haben sie in den letzten
Jahrzehnten das Feld der Sozialpolitik weitgehend islamischen
Selbsthilfeorganisationen überlassen. Dabei haben sie die
Rolle von Zauberlehrlingen übernommen, die nun der Geister
nicht mehr Herr werden, die sie selbst gerufen haben.
In Ägypten erstrecken sich die Sozialdienste der
Muslimbruderschaft auf eigene Schulen, Kindergärten,
Krankenhäuser, auf Beihilfen für Arbeitslose und sogar
eine nichtstaatliche Arbeitsvermittlung. Eine nicht unwesentliche
Rolle in diesem "Parallelsystem" spielen auch die islamischen
Banken, die - mit saudischen Finanzhäusern oft verbandelt -
hier die Zakat einziehen. Eher hilflos wirken heute die Versuche
der Regierung in Kairo, dieses Kuckucksei, das man sich selbst ins
Nest gelegt hat, wieder lsozuwerden.
Doch um die Herausforderung des "sozialen Islam" annehmen zu
können, bedürfte es staatlicherseits in erster Linie
neuer sozialpolitischer Initiativen. Im Gegensatz zu der im Westen
vorherrschenden Meinung müssten die Sozialpolitiker in vielen
Ländern des Orients hier nicht vom Nullpunkt aus beginnen. In
Ägypten beispielsweise finden sich zwei große
Sozialversicherungsorganisationen, unter deren Dach jeweils zwei
Vorsorgeschienen für das Alter und die Gesundheit vereinigt
sind. Die ägyptischen Sozialversicherungen werden in
internationalen Studien wie in denen der ILO als durchaus
"funktionsfähig" bezeichnet. Doch funktionieren sie eben nicht
für jeden. Die meisten Einwohner des Landes können von
den Leistungen dieser Sozialkassen nur träumen, nur 25 Prozent
der Erwerbstätigen sind sozialversichert. Die Gründe
für dieses Dilemma sind politischer wie ökonomischer
Natur.
Das politische Problem des abendländischen
Sozialstaatsmodells im Orient ist seit jeher, dass die
Einführung von Sicherungssystemen nach westlichen Vorbildern
den machthabenden Politikern oft nur der Versorgung der eigenen
Klientel dient. Selbst Nasser, der vom Arabischen Sozialismus
träumte, wollte mit seinen Sozialreformern bei weitem nicht
alle Bürger seines Landes beglücken, sondern sich nur
eine ihm ergebene Beamtenschaft als Machtbasis sichern.
In Pakistan nehmen die dortigen "westlichen" Sozialkassen heute
jährlich eine Summe an Beiträgen ein, die sich auf ein
Neunfaches des Zakat-Steueraufkommens beläuft. Doch 95 Prozent
der Ausgaben, die der Staat heute im Bereich "Soziales"
tätigt, fließen in die Taschen der Staatsdiener. Zumeist
profitieren in den Ländern der islamischen Welt nur diejenigen
von staatlichen Leistungen, die sie gar nicht nötig haben. Der
Missbrauch von Sozialpolitik als Machtinstrument macht es der
islamistischen Propaganda leicht, diese "westlichen" Systeme mit
dem Makel der "Priviligiertenversorgung" zu behaften und für
eine "gerechtere islamische Sozialordnung" zu werben.
Doch es bleibt fraglich, ob die von den Europäern oft
geforderte Demokratisierung der Machtstrukturen allein schon einen
Ausweg aus der sozialen Krise im Orient weisen kann. Denn es gibt
vor allem im Maghreb durchaus Vorsorgesysteme, die von ihrem Ansatz
her universell angelegt waren. Hier, in Nordwestafrika, haben die
einstigen französischen Kolonialherren die eigentlich am
besten ausgebauten Wohlfahrtsstaaten der gesamten Region
zurückgelassen. Und es waren nicht nur Kolonialbeamte, die von
ihnen erfasst wurden.
In Marokko gibt es seit 1930 eine Rentenkasse für Beamte,
die Caisse Marocaine des Retraités (CMR), neben die 1961 die
"Nationalkasse für soziale Sicherheit" (CNSS) gestellt wurde,
die alle "Lohnempfänger der Industrie, des Handels" sowie auch
die freien Berufe und die Landwirtschaft erfassen sollte. Unter dem
Dach der Nationalkasse wurden Renten-, Kranken- und
Arbeitsunfallversicherungen vereinigt. Doch der Aufbau einer
Bürgerversicherung scheiterte. Von 30 Millionen Marokkanern
sind nur 1,3 Millionen als Beitragszahler bei CNSS registriert, bei
CMR werden 850.000 Angehörige gezählt.
Ein Blick auf Algerien offenbart das grundsätzliche
Dilemma, in das sich jedes Sozialversicherungsmodell in der Region
gestellt sieht. In dem krisengeschüttelten Land, in dem der
Terror zum traurigen Alltag wurde und viele Beobachter in den
sozialen Missständen die Ursache des Bürgerkrieges sehen,
wurde auf dem Papier ein nahezu perfektes Wohlfahrtsmodell
entworfen. Doch die algerischen Sozialkassen blieben Potemkinsche
Dörfer. Die Generäle haben neben der ansonsten harten
Hand durchaus auch auf Sozialpolitik als Gegenmittel gegen die
islamistische Opposition gesetzt. Doch bei einer Arbeitslosenquote,
die offziell bei 34 Prozent liegt, kann keine Sozialversicherung
funktionieren. Überall in der Region stellen die Jugendlichen
die erdrückende Mehrheit der Erwerbslosen dar. Dieses Problem
wird sich überall in der islamischen Welt verschärfen. In
Algerien beispielsweise sind 35 Prozent der Einwohner unter 15
Jahre alt.
Die Suche nach einer Antwort auf die eher ideologische Frage
"westliches oder islamisches Sozialstaatsmodell" behindert jeden
Versuch zur Lösung der sozialen Frage im Orient. Ein Ausbau
der sozialen Netze scheint nur im Rahmen eines grundlegenden
soziopolitischen und sozioökonomischen Strukturwandels
möglich. Ein solcher Wandel könnte jedweder Hassideologie
den gesellschaftlichen Nährboden entziehen. Soziale
Missstände sind nicht der Grund für die Entstehung
funadmentalistischen Gedankenguts, aber für dessen
Verbreitung.
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