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Ute Grundmann
Die fremde und doch nahe Stadt
Rückkehr nach Görlitz
Lange Zeit war Görlitz für Michael
Guggenheimer "nur eine Fantasie" - der Name einer Stadt, in der
seine Mutter geboren wurde. Die jüdische Familie musste 1933
vor den Nationalsozialisten fliehen; die Wanderung im
Riesengebirge, die man den Kindern ankündigte, war der Weg ins
Exil. 60 Jahre später steht das Mädchen von damals, nun
mit Mann und Sohn, wieder auf dem Görlitzer Obermarkt. Einen
Stadtplan braucht sie nicht; sie will aber nach zwei Stunden lieber
nach Dresden zurück. Der Sohn jedoch kommt immer wieder, er
will die fremd-nahe Stadt kennenlernen und schreibt ein besonderes
Buch darüber.
Das Buch beginnt an den Orten der Familie,
der Schule der Mutter, der Praxis des Großvaters. Doch auch
wenn er die Synagoge ("ein Tempel ohne Gläubige") und die
ehemalige Aufbahrungshalle, heute ein Werkhof, besucht - es ist
kein Buch ausschließlich auf den Spuren der Familie oder der
Juden, die einst in Görlitz lebten. Guggenheimer, bis vor
kurzem Informationschef der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia,
macht sich auf die Suche nach "Spuren einer Zukunft", so der
Untertitel des Buches.
Es ist der teilnehmend-neugierige Blick eines
Menschen, dem die Stadt und ihre besondere Geschichte
näherrückt. Was er schreibt, kann man auch als
Reiseführer lesen, aber es ist viel mehr. 200 Jahre
Stadtgeschichte findet er auf dem barocken Friedhof oberhalb der
Nikolaikirche. Er versucht, sich die Stille vorzustellen, die nach
der Sprengung der Brücke zum östlichen Stadtteil
geherrscht haben muss. Die Deutschen hatten diese Verbindung gegen
Kriegsende gesprengt - Polen bauten sie wieder auf.
Doppelstadt in Europa
Heute verbindet Görlitz und Zgorzelec
wieder mehr als eine Brücke. Dass die beiden einst
zusammengehörenden Stadtteile nun einen Weg als "Doppelstadt
in Europa" suchen, fasziniert Guggenheimer, aber er bleibt kritisch
dabei. Es gebe gemeinsame Stadtratssitzungen, merkt er an, aber
noch immer werde bei diesen Treffen ein Dolmetscher gebraucht. In
zweisprachigen Klassen lernten viel mehr polnische Schüler
Deutsch als umgekehrt. In den Kaufhäusern der Stadt aber
sollte man polnisch sprechen können - schließlich kommen
30 bis 40 Prozent der Kunden von jenseits der
Neiße.
Guggenheimer hat immer wieder Fragen an
Görlitz, das ihm als "Freilichtmuseum aus Altstadt und
Gründerzeitquartieren" erscheint. Die Randlage könne mit
der EU-Erweiterung zur Chance werden, doch die Görlitzer seien
zu viel mit sich selbst beschäftigt. Immer wieder fährt
er durch die Stadt: Da ist die östlichste Gaststätte
Deutschlands, die "Vierradenmühle", wo früher Kuchen und
Blinis per Seilbahn die Seiten wechselten. In der Straße
"Handwerk" findet er Textilkunst über die Grenze hinweg. Gegen
fehlende Arbeitsplätze und geringe Kaufkraft vermisst er
"Visionen", findet höchstens Ansätze dazu. Die
Häuser und Straßen aber bleiben nie abstrakt.
Guggenheimer erzählt ihre Geschichte anhand der Menschen, die
dort leben, die teils von weit her kamen - wie er.
Michael Guggenheimer
Görlitz. Schicht um Schicht.
Spuren einer Zukunft.
Lusatia Verlag, Bautzen 2004; 288 Seiten,
12,90 Euro.
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